L 1 KR 393/07

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 82 KR 1158/03
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 393/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Kein Vertrauensschutz bei einem Medikament, das lediglich übergangsweise eine Zulassung nach § 105 AMG besaß. Off-label-use von Memantine bei adulten ADHS Erkrankten nicht zulässig.
Die Berufung wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Erstattung der Kosten für die vom Kläger selbst beschafften Medikamente Axura und Ebixa in Höhe von insgesamt 3156,11 Euro streitig.

Bei dem 1949 geborenen Kläger, der vom 1. September 2003 bis 28. Februar 2006 krankenversichertes Mitglied der Beklagten war, stellte der behandelnde Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. W D eine Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) fest, die er in der Vergangenheit medikamentös mit der Substanz Memantine (zugelassen als Akatinol) behandelt hatte. Die Zulassung für das Medikament Akatinol mit der Indikation "Hirnfunktionsstörungen" wurde von der Herstellerfirma zum 1. August 2002 zurückgegeben. Gleichzeitig wurde die Substanz Memantine europaweit unter den Namen Axura und Ebixa mit der (abgeänderten) Indikation "mittlere und schwere Demenz vom Alzheimer-Typ" europaweit zugelassen.

Am 28. Januar 2003 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Erstattung des Betrages von zweimal 236,45 Euro für die Selbstbeschaffung des Medikamentes Axura und legte einen von Dr. D gefertigten Antrag auf Kostenübernahme für die Substanz Memantine in der Off-Label-Indikation Hirnfunktionsstörungen bei. Die für den daraufhin von der Beklagten eingeschalteten Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) tätige Ärztin Dr. Gverneinte in ihrer Stellungnahme vom 6. Februar 2003 die Voraussetzungen für eine Leistungserbringung im Rahmen des Off-Label-Use, woraufhin die Beklagte die beantragte Kostenübernahme mit Bescheid vom 17. Februar 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Juli 2003 ablehnte.

Mit der am 28. Juli 2003 erhobenen Klage hat der Kläger sein Begehren weiterverfolgt. Sein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vom 15. August 2003 blieb erfolglos (Beschlüsse des SG Berlin vom 23. Oktober 2003 sowie LSG Berlin vom 17. März 2004).

Zur Begründung seiner Klage verweist der Kläger darauf, bereits seit 2001 auf Verordnung seines Arztes Dr. D mit Medikamenten mit der Substanz Memantine sehr erfolgreich behandelt worden zu sein. Er sei auf die dauerhafte Versorgung mit den streitigen Medikamenten angewiesen, jedoch nicht in der Lage, sich diese auf Dauer selbst zu beschaffen. Im Zusammenhang mit seiner ADHS sei es in der Vergangenheit zu erheblichem Alkoholkonsum gekommen, der erstmals unter der Wirkung der Substanz Memantine habe drastisch reduziert werden können.

Bei ADHS handele es sich um eine unheilbare Hirnfunktionsstörung entsprechend dem Indikationsbereich des früheren Arzneimittels Akatinol. Es könne nicht zu seinen Lasten gehen, wenn ein Pharmaunternehmen aus wirtschaftlichen Gründen auf eine bestehende Zulassung verzichte, den Indikationsbereich eines Wirkstoffs eingrenze und den Preis erhöhe. Für die Wirksamkeit bzgl. seiner leichten Hirnleistungsstörung (ADHS) spreche auch, dass die streitgegenständlichen Arzneimittel (sogar) für schwere Hirnleistungsstörungen zugelassen seien. Eine Therapiealternative bestehe nicht. Die zur Behandlung der ADHS üblicherweise eingesetzten methylphenidathaltigen Medikamente seien wegen seiner Alkoholerkrankung kontraindiziert und für die Behandlung der ADHS im Erwachsenenalter nicht zugelassen. Nach Ansicht des Klägers sei die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum Off-Label-Use nicht einschlägig, da Memantine für die Be¬handlung seiner Erkrankung bereits einmal zugelassen gewesen sei und die notwendigen Prüfverfahren durchlaufen habe. Der vom BSG hervorgehobene Gesichtspunkt des Patientenschutzes greife nicht, da er diese Substanz bisher ohne Schaden eingenommen habe. Zudem handele es sich bei ADHS im Erwachsenenalter um eine seltene Erkrankung.

Zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts hat das Sozialgericht (SG) einen Befundbericht bei dem behandelnden Arzt des Klägers Dr. D sowie Auskünfte beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) und der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) eingeholt. Auf Veranlassung der Beklagten hat der MDK am 30. April 2004 zur Verordnungsfähigkeit der Medikamente Axura und Ebixa bei der Diagnose ADHS Stellung genommen.

Mit Urteil vom 15. März 2007 hat das SG die Klage abgewiesen.

Die angefochtenen Bescheide der Beklagten seien rechtmäßig, denn der Kläger habe keinen Anspruch auf Erstattung der Kosten, die ihm für die Selbstbeschaffung der Medikamente Axura und Ebixa entstanden seien.

Als Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Erstattungsanspruch komme allein § 13 Abs. 3 Sozialgesetzbuch - Fünftes Buch (SGB V) - in Betracht. Hiernach seien die einem Versicherten für eine selbst beschaffte Leistung entstandenen Kosten von der Krankenkasse zu erstatten, wenn diese eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig habe erbringen können oder eine Leistung zu Unrecht abgelehnt habe. Der Kostenerstattungsanspruch trete an die Stelle eines an sich gegebenen Sachleistungsanspruches, den die Kasse infolge eines Versagens im Beschaffungssystem nicht erfüllt habe und könne deshalb nur bestehen, soweit die selbst beschaffte Leistung ihrer Art nach zu den Leistungen gehöre, welche die gesetzlichen Krankenkassen als Sach- und Dienstleistung zu erbringen hätten (Verweis auf BSG SozR 3-2500 § 31 Nr. 5, S 15; BSG SozR 3-2500 § 27 Nr. 9, S 27; BSG SozR 3-2500 § 92 Nr. 12, S 66). Letzteres sei hier nicht der Fall, so dass offen bleiben könne, nach welcher der beiden Alternativen des § 13 Abs. 3 SGB V der Anspruch ggf. zu beurteilen wäre und ob deren weitere Voraussetzungen erfüllt seien.

Die begehrte Kostenerstattung sei schon deswegen ausgeschlossen, weil es sich bei der streitigen medikamentösen Behandlung um eine Leistung handele, die die beklagte Krankenkasse nicht als Sachleistung erbringen dürfe. Der Kläger habe im Hinblick auf die bei ihm diagnostizierte ADHS keinen Anspruch auf Versorgung mit den Medikamenten Axura und Ebixa zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung, da es sich hierbei um einen sog. Off-Label-Use handele und die vom BSG für die Versorgung mit Arzneimitteln außerhalb der bestehenden Zulassung entwickelten Grundsätze nicht erfüllt seien.

Entgegen der Argumentation des Klägers handele es sich vorliegend um eine zulassungsfremde Medikamentenversorgung. Unstreitig seien die Medikamente Axura und Ebixa für die Diagnose "ADHS im Erwachsenenalter" nicht zugelassen, sondern für die Behandlung von Patienten mit mittelschwerer bis schwerer Alzheimer-Krankheit. Unter einer solchen leide der Kläger ersichtlich nicht. Für die Frage der zulassungsgemäßen Verordnung komme es indes allein auf den Zeitraum der jeweiligen Medikamentenversorgung an. Für welche Diagnosen das frühere Medikament Akatinol mit der Substanz Memantine zugelassen gewesen sei, und ob die ADHS des Klägers als Hirnfunktionsstörung von dem behandelnden Arzt damals in zutreffender Weise unter den Zulassungsbereich dieses Medikaments subsumiert worden sei, sei für den vorliegenden Rechtsstreit ohne Belang. Entscheidend sei allein, dass es sich bei ADHS und Alzheimer-Demenz um unterschiedliche Krankheiten mit eigenständigen Diagnosekriterien und -schlüsseln handele. Auch die Argumentation des Klägers, bei beiden Diagnosen handele es sich um Hirnfunktionsstörungen und aus der Wirksamkeit bei der Behandlung mittlerer bis schwerer Störungen (Alzheimer) könne - quasi als minus- auf die Wirksamkeit auch bei der Behandlung leichter Störungen (ADHS) geschlossen werden, überzeuge nicht, da die arzneimittelrechtliche Abwägung von Nutzen und Risiko eines Medikaments jeweils nur bezogen auf die konkrete Diagnose erfolgen könne. Wäre ADHS von der Zulassung der Arzneimittel Axura und Ebixa tatsächlich erfasst, hätte dies der verordnende Arzt durch die Ausstellung von vertragsärztlichen Verordnungen dokumentieren können und müssen. Die Anwendung der vom BSG entwickelten Kriterien sei auch nicht deswegen obsolet, weil das Vorgänger-Präparat Akatinol über eine (fiktive) Zulassung gemäß § 105 Arzneimittelgesetz (AMG) verfügt habe. Aus diesem Umstand ergebe sich weder, dass Medika¬mente mit der Substanz Memantine zur Behandlung der ADHS bei Erwachsenen wirksam seien, noch dass deren Einsatz arzneimittelrechtlich unbedenklich sei, zumal sich die frühere Zulassung allgemein auf Hirnfunktionsstörungen bezogen habe.

Nach der Rechtsprechung des BSG komme eine Medikamentenversorgung außerhalb der arzneimittelrechtlichen Zulassung nur in Betracht bei einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden Erkrankung (1), bei der keine andere Therapie verfügbar sei (2) und aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht bestehe, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden könne (3). Vorliegend könne dahinstehen, ob die ADHS des Klägers eine schwerwiegende Erkrankung im genannten Sinne darstelle und ob Therapiealternativen zur Verfügung stünden, denn die dritte Voraussetzung für eine zulassungsüberschreitende Arzneimittelversorgung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) sei nicht erfüllt, da aufgrund der Datenlage keine hinreichend begründete Aussicht auf einen Behandlungserfolg bestehe. Insofern verlange das BSG, dass entweder eine Zulassung bereits beantragt sei und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard und Placebo) veröffentlicht seien und eine klinisch relevante Wirksamkeit bzw. ein klinisch relevanter Nutzen bei vertretbaren Risiken belegt sei (3 a) oder außerhalb des Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht seien, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels im neuen Anwendungsbereich zuverlässige wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen ermöglichten und aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen im vorgenannten Sinne bestehe (3 b).

Um einen Seltenheitsfall, der sich einer systematischen Forschung entziehe, handele es sich bei der ADHS - auch im Erwachsenenalter - nicht, was zur Überzeugung der Kammer bereits daraus folge, dass zur Wirksamkeit bestimmter methylphenidathaltiger Medikamente inzwischen Phase-III-Studien abgeschlossen worden seien, deren Ergebnisse zum Teil veröffentlich seien. Die für eine systematische Erforschung erforderliche Patientenzahl sei offenbar vorhanden. Phase-III-Studien zum Einsatz der Substanz Memantine bei ADHS im Erwachsenenalter oder vergleichbare wissenschaftliche Forschungsergebnisse existierten nicht. Derartige Forschungsergebnisse würden weder vom MDK, dem BFArM noch der DGPPN erwähnt und auch die zur Behandlung der ADHS im Erwachsenenalter erstellten Leitlinien erwähnten die Behandlung mit Memantine nicht. Fehle es indes - wie vorliegend- an einem breiten wissenschaftlichen Wirksamkeitsnachweis könne es auf die Wirksamkeit des Arzneimitteleinsatzes im Einzelfall nicht ankommen. Unerheblich sei deshalb, dass die Einnahme von Memantine im Fall des Klägers individuell sowohl nach seinen als auch den Angaben seines Arztes gute Behandlungserfolge gebracht habe. Auch der von dem Neurologen und Psychiater Dr. D in einer Vielzahl von Fällen (200) berichtete Behandlungserfolg genüge dem vom BSG geforderten Wirksamkeitsnachweis nicht, da es sich dabei allenfalls um Anwendungsbeobachtungen niedrigen Evidenzgrades handele, deren Ergebnisse offenbar nicht publiziert worden seien und die keinesfalls auf die Zulassungsreife von Memantine bei ADHS schließen ließen.

Ein Leistungsanspruch des Klägers lasse sich schließlich auch nicht aus Verfassungsrecht ableiten. Zwar bedürften die Regelungen des Leistungsrechts der GKV zur Arzneimittelversorgung aufgrund des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2005 (1 BvR 347/98 SozR 4-2500 § 27 Nr. 5) einer verfassungskonformen Auslegung, wenn Versicherte an einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung litten, bei der die Anwendung der üblichen Standardbehandlung aus medizinischen Gründen ausscheide und andere Behandlungsmöglichkeiten nicht zur Verfügung stünden (BSG Urteil vom 4. April 2006 B 1 KR 7/05 R -) und eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf bestehe. So liege es hier indes nicht, da es sich bei der ADHS -selbst in einer schweren Ausprägung- nicht um eine lebensbedrohende oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung handele.

Hiergegen richtet sich die Berufung.

Das Sozialgericht Berlin verkenne in seiner Entscheidung vom 15. März 2007, dass im hier vorliegenden Fall eine atypische Variante der zulassungsüberschreitenden Verordnung vorliege.

Die vom Kläger begehrte Kostenerstattung beziehe sich auf die Verordnung eines Medikamentes, das bereits eine Zulassung für die Erkrankung des Klägers besessen habe. Soweit das Sozialgericht moniere, dass die Zulassung nur ge¬mäß § 105 AMG bestanden habe, sei darauf hinzuweisen, dass diese Regelung bis 2005 auch Wirkung für die vom Kläger eingenommenen Präparate gehabt habe. Das Bundesssozialgericht habe sich in seiner Rechtssprechung zur Verordnung von Medikamenten zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung nicht daran gestört, dass es zumindest bis 2005 auch Präparate gegeben habe, die lediglich eine solche Zulassung gehabt hätten.

Wenn die Gefährdungslage für die Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung im Jahre 2004 nicht so gewichtig gewesen sei, als dass eine Verordnung dieser Präparate zu Lasten der

gesetzlichen Krankenversicherung nicht in Frage gekommen wäre, könne nunmehr nichts anderes gelten.

Die Rechtssprechung des Bundessozialgerichtes zum Off-Label-Use ziele auf neue Wirkstoffe oder alte Wirkstoffe, die jedoch erst später zur Behandlung von Krankheiten herangezogen würden, für die eine Zulassung (noch) nicht vorliege. Die Rechtsgedanken hierzu seien nicht übertragbar auf den Fall des Klägers, weil hier bereits die Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des Präparates von der Rechtsordnung anerkannt geworden sei. Insoweit scheine es widersprüchlich, wenn man ohne ersichtlichen Grund hinter die Annahme aus dem Jahre 2004 wieder zurückfalle. Es gebe keine neuen Erkenntnisse, die die Wirksamkeit der Präparate in Abrede stellen oder sie nunmehr als aus anderen Gründen ungeeignet erscheinen ließen. Vielmehr habe sich erwiesen, dass in der besonderen krankheitsbedingten Konstellation des Klägers die Behandlung mit Axura und Ebixa kunstgerecht sei und diese die Mittel der ersten Wahl darstellten. Dass eine Zulassung für Alzheimer unter neuem Namen beantragt und gewährt worden sei, habe ausschließlich wirtschaftliche Hintergründe, mit der Krankheit Alzheimer ließen sich höhere Profite auf dem Gesundheitsmarkt erzielen.

Die erfolgreiche Behandlung des Klägers mit Akatinol Memantine habe im Jahr 2000 begonnen und sei dem Kläger von der Krankenkasse anstandslos erstattet worden. Der behandelnde und verordnende Arzt Dr. D habe mit dem Einsatz von Memantine als erste Wahl bei ADHS in Verbindung mit Alkoholerkrankung als komorbider Erkrankung gute Erfahrungen zu verzeichnen gehabt.

ADHS sei eine Hirnfunktionsstörung. Memantine wirke also (auch) bei adulter ADHS. Wenn das Sozialgericht darauf verweise, es gäbe keine klinischen Phase-III-Studien über die Wirksamkeit von Memantine bei ADHS und daher sei diese nicht erwiesen, ziehe es die falschen Schlüsse. Klinische Studien gebe es lediglich deshalb nicht, weil der Hersteller Merz an solchen kein Interesse habe: er möchte Memantine für die zunehmende Krankheit Alzheimer platzieren. Studien würden nämlich erst dann eingeleitet, wenn die Zulassung des Arzneimittels für die spezielle Indikation beantragt sei.

Dass aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht bestehe, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg zu erzielen sei, müsse auch dann nachweisbar sein, wenn es keine Phase-III-Studien gebe, allerdings andere Daten und Fakten für einen Behandlungserfolg sprächen. Eine Phase-III-Studie sei nicht zwingend erforderlich. Für den Schutz des Patienten sei es gleichgültig, ob die erforderlichen Erkenntnisse innerhalb oder außerhalb eines arzneimittelrechtlichen Zulassungsverfahrens gewonnen worden seien. Dass Memantine bei hirnorganischen Funktionsstörungen wirksam sei, sei dadurch belegt, dass das Medikament Akatinol über 20 Jahre genau für diese Indikation eine Zulassung besessen habe.

Außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse seien dann zu berücksichtigen, wenn sie veröffentlicht seien, über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem (neuen) Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zuließen und auf Grund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne bestehe.

Es werde beantragt, ein sozialmedizinisches Gutachten, bevorzugt durch Herrn Dr. D, darüber einzuholen, welche Erkenntnisse und Veröffentlichungen es zu der Wirksamkeit von Memantine zur Behandlung von hirnorganischen Funktionsstörungen gebe. Die Auffassung des Sozialgerichts, es gäbe überhaupt keine Veröffentlichungen sei unrichtig. Im März 2007 sei zum Beispiel eine neuere Anwendungsstudie bei Kindern mit ADHS von einer Arbeitsgruppe aus Cleveland publiziert worden. In dieser offenen Dosisfindungsstudie sei über einen Zeitraum von 8 Wochen eine Memantine-Lösung von 10 mg bzw. 20 mg Memantine pro Tag gegeben und Untersuchungen zu Nebenwirkungen und Effekten ermittelt worden. Probleme, die zum Abbruch der Einnahme geführt hätten, seien nicht aufgetreten, Nebenwirkungen seien auf die erste Behandlungswoche beschränkt gewesen. Unter einer Dosis von 20 mg Memantine seien gute Effekte hinsichtlich der ADHS-Symptomatik aufgetreten. Die Autoren hätten weitere Untersuchungen zu den Einsatzmöglichkeiten dieses Therapieprinzips bei Kindern mit ADHS empfohlen.

Für die Erkrankung des Klägers komme kein anderes Arzneimittel als Ebixa oder Axura in Frage, kein anderes Mittel vermöge so nebenwirkungsfrei wie diese beiden Mittel die Beschwerden des Klägers auf Dauer zu mindern und die Lebensqualität zu verbessern. Durch den Stoff Memantine werde zum einen die Hyperaktivität gesenkt und zugleich die Alkoholsucht vollkommen unterdrückt.

Da Memantine kein Abhängigkeitspotential habe und sogar im Bereich der Suchtmedizin gut bewährt sei, werde der Einsatz von Fachärzten empfohlen.

Vorliegend gehe es um die Weiterführung einer begonnenen Behandlung mit Memantine und nicht die Frage, ob die Medikation für eine andere als die zugelassene Erkrankung erfolgen solle. Es liege nicht der klassische Fall eines Off-Label-Use vor. Das Sozialgericht hätte, selbst wenn es einen echten Fall des Off-Label-Use angenommen hätte, alle Voraussetzungen prüfen müssen und wäre dann zu einem Anspruch des Klägers auf Kostenübernahme gelangt.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 15.März 2007 sowie den Bescheid der Beklagten vom 17. Februar 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Juli 2007 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die ihm entstandenen Kosten für die Selbstbeschaffung der Medikamente Axura und Ebixa in Höhe von 3.156,11 EUR zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält an ihrer Rechtsauffassung fest und verweist auf die Entscheidungsgründe des Sozialgerichts.

Die Verwaltungsakte der Beklagten betreffend den Kläger lag vor und war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Wegen des Sachverhalts im Übrigen wird auf die gewechselten Schriftsätze sowie den Inhalt der Akten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig aber nicht begründet.

Zu Recht und mit zutreffender Begründung hat das SG erkannt, dass die angefochtenen Bescheide den Kläger nicht in seinen Rechten verletzen und ihm der gewünschte Kostenersatzanspruch nicht zusteht.

Um Wiederholungen zu vermeiden nimmt der Senat auf die Entscheidungsgründe des Sozialgerichts Bezug und macht sie sich zu Eigen (§ 153 Abs. 2 SGG).

Die mit der Berufung vorgetragene Argumentation des Klägers vermag eine andere Entscheidung nicht zu rechtfertigen:

a) Die Tatsache, dass das Medikament Akatinol bis 2002 für leichte Hirnleistungsstörungen zugelassen war, ändert nichts daran, dass die Medikamente Axura und Ebixa, auch wenn sie die gleichen Wirkstoffkomponenten haben, weder für diese Indikation noch für die beim Kläger diagnostizierte ADHS eine Zulassung besitzen.

Darüberhinaus ist zu berücksichtigen, dass die Zulassung von Akatinol lediglich auf § 105 AMG basierte:

Bei einem derzeit zugelassenen Medikament, wenn es sich um ein Fertigarzneimittel handelt, das nach Überprüfung von Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit nach dem AMG zum Verkehr zugelassen wurde, bestehen nach der Rechtsprechung der Sozialgerichte keine Bedenken gegen die grundsätzliche Verordnungsfähigkeit im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), weil dabei die Annahme zugrunde liegt, dass mit diesem Verfahren Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit von Fertigarzneimitteln in angemessener Weise geprüft wurden. Wurde diese Prüfung durchlaufen und somit die erfolgreiche Anwendung des Arzneimittels anhand zuverlässiger wissenschaftlich nachprüfbarer Aussagen in einer ausreichenden Anzahl von Behandlungsfällen belegt und ist dementsprechend für das Arzneimittel die Zulassung einschließlich der darin enthaltenen Ausweisung der Anwendungsgebiete erteilt worden, so ist es in diesem Umfang auch verordnungsfähig im Sinne des SGB V (vgl. BSGE 95, 132 RdNr. 18 = SozR 4-2500 § 31 Nr. 3 RdNr. 25 mit Bezugnahme auf BSGE 93, 1, 2 = SozR 4-2500 § 31 Nr. 1 RdNr. 7). In solchen Fällen ist also mit der Zulassung - und der damit gegebenen Verkehrsfähigkeit im Sinne des AMG - zugleich die Verordnungsfähigkeit im Rahmen der GKV gegeben.

Für eine solche Schlussfolgerung von der arzneimittelrechtlichen Zulassung auf die Verordnungsfähigkeit fehlt aber dann die Grundlage, wenn der Zulassung keine - oder eine strukturell nur unzureichende - Überprüfung der Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit zugrunde lag. Solche Fälle arzneimittelrechtlicher Zulassung ohne Überprüfung von Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit gab es während der Geltung des Übergangsrechts nach der Neuordnung des Arzneimittelrechts Ende der 1970er Jahre. Damals genügte für die Folgezeit ab dem 1. Januar 1978 eine Anzeige mit der Mitteilung über die bisherige Anwendung des Arzneimittels, damit dieses weiterhin als zugelassen galt (s. Art 3 § 7 Abs. 1 ff NeuordnungsG). Soweit ein Arzneimittel in dieser Weise, ohne Durchlaufen des Arzneimittelzulassungsverfahrens mit Gewähr für Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit, die Zulassung behielt bzw. diese verlängert wurde, fehlte es an den inhaltlichen Merkmalen, die es rechtfertigen konnten, die Arzneimittelzulassung als ausreichend auch für die Verordnungsfähigkeit im Rahmen der GKV zu akzeptieren ( BSGE 95, 132 RdNr. 18 ff = SozR 4-2500 § 31 Nr. 3 RdNr. 25 ff m.w.N.; ebenso für den Fall, dass ein AMG-Zulassungsverfahren nicht einmal eingeleitet wurde: BSGE 82, 233, 235 ff = SozR 3-2500 § 31 Nr. 5 S 17 ff). So liegt der Fall hier bei Akatinol. Dies bedeutet, dass aus der Zulassung von Akatinol und des Wirkstoffs Memantine in der Vergangenheit gerade keine Rückschlüsse auf die Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der Anwendung im Falle des Klägers gezogen werden können, weil eine solche Überprüfung in der Vergangenheit nicht stattgefunden hat. Eine solche Überprüfung hat für den Wirkstoff Memantine erstmals bei der Neuzulassung für die Alzheimer- Erkrankung stattgefunden. Um diese Erkrankung geht es im Falle des Klägers offensichtlich nicht. Eine Kostenerstattung kann der Kläger demnach nur dann beanspruchen, wenn ein Fall des von der sozialgerichtlichen Rechtsprechung akzeptierten Off-Label-Use vorliegt.

b) Diese Voraussetzungen, die das Sozialgericht zutreffend wiedergegeben hat, liegen hier jedoch nicht vor. Es fehlt jedenfalls an dem Erfordernis, dass, außerhalb eines Zulassungsverfahrens, was hier alleine in Betracht kommt, gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels im neuen Anwendungsbereich zuverlässige wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen ermöglichen und aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen im vorgenannten Sinne besteht.

Dies ist vorliegend nicht der Fall, was das SG bereits zutreffend festgestellt hat.

Ebenfalls zu Recht hat das SG ausgeführt, dass es in diesem Fall auf die Wirksamkeit des Arzneimitteleinsatzes im Einzelfall nicht ankommt. Unerheblich ist deshalb, dass die Einnahme von Memantine im Fall des Klägers individuell sowohl nach seinen als auch den Angaben seines Arztes gute Behandlungserfolge gebracht hat. Auch der von dem Neurologen und Psychiater Dr. D in einer Vielzahl von Fällen (200) berichtete Behandlungserfolg genügt dem vom BSG geforderten Wirksamkeitsnachweis nicht (vgl. schon BSGE 76, 194, 198 = SozR 3-2500 § 27 Nr. 5 S 11 - Remedacen (R)). Der Senat sieht daher auch keine Veranlassung Beweis zu erheben weder durch Einholung eines Gutachtens bei Dr. D noch durch dessen Vernehmung.

Die von den Bevollmächtigten des Klägers angeführte Studie ist dem Gericht bekannt. Sie kann keineswegs als Beleg für einen breiten Konsens innerhalb der einschlägigen Fachkreise dienen, zumal sie sich ausschließlich mit der juvenilen ADHS befasst.

Eine weitere Studie am Massachusetts General Hospital, die die Auswirkungen von Memantine an adulten ADHS Patienten untersuchen soll, wird ausdrücklich als Pilot-Studie bezeichnet, deren Ergebnisse im Mai 2009 erwartet werden. Es liegt auf der Hand, dass damit das Gegenteil von einem breiten Konsens innerhalb der einschlägigen Fachkreise belegt ist.

c)Schließlich ergibt sich auch aus verfassungsrechtlichen Erwägungen kein Kostenersatzanspruch des Klägers. Auch hierzu hat das SG unter Hinweis auf die sog. Nikolaus-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2005 (1 BvR 347/98 SozR 4-2500 § 27) zutreffend ausgeführt, dass es sich bei der ADHS -selbst in einer schweren Ausprägung- weder um eine lebensbedrohende oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung handele noch um eine ihrem Schweregrad ähnliche Krankheit.

Schließlich bestehen auch keine Anhaltspunkte, dass es sich bei der bei dem Kläger vorliegenden Krankheit wegen der Komorbidität mit einer Alkoholkrankheit um eine Krankheit handelt, die wegen der äußerst geringen Anzahl der Betroffenen praktisch unerforschbar ist (vgl. hierzu grundlegend BSGE 93, 236 = SozR 4-2500 § 27 Nr. 1, jeweils RdNr. 21 - Visudyne).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Sie berücksichtigt den Ausgang des Verfahrens.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil ein Zulassungsgrund nach § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegt.
Rechtskraft
Aus
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