L 39 SF 254/23 B E

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
39
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 180 SF 308/23 E
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 39 SF 254/23 B E
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

 

Kosten werden nicht erstattet.

 

Gründe:

 

I.

Zwischen den Beteiligten steht in Streit, ob der Antragsgegner dem Vergütungsanspruch einer beigeordneten Rechtsanwältin (im Folgenden: D.) die Einrede der Verjährung entgegenhalten kann.

 

D. erhob am 20. Juni 2016 im Namen zweier natürlicher Personen – C. C. und B. C. – Klage (S 16 AS 8766/16). Das Sozialgericht Berlin bewilligte diesen mit Wirkung ab dem 30. März 2017 Prozesskostenhilfe und ordnete ihnen D. bei. Mit Urteil vom 19. März 2019 wies es die Klage ab. D. legte im Namen von C. C. und B. C. am 16. Mai 2019 Berufung ein (L 14 AS 870/ 19). Zugleich beantragte sie, C. C. und B. C. für das Berufungsverfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen. Diesen Antrag lehnte der 14. Senat des Landessozialgerichts Berlin-Bran­denburg mit Beschluss vom 11. Januar 2021 ab. Am 4. März 2021 beantragte D. erneut, C. C. und B. C. für das Berufungsverfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen. Diesen Antrag nahm sie am 2. November 2022 zurück. Die Berufung nahm sie am 21. Februar 2023 zurück. Am 9. Mai 2023 stellte sie den Antrag, gemäß § 55 Abs. 1 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) „für die Klage“ Gebühren und Auslagen in Höhe von 591,06 € festzusetzen. 

 

Am 24. Mai 2023 verfügte die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle der 16. Kammer des Sozialgerichts Berlin, dass die Akten dem Bezirksrevisor bei dem Sozialgericht Berlin (im Folgenden: B.) vorzulegen seien „mit der Bitte zu prüfen, ob ggfs. Verjährungseinrede erhoben“ werde.

 

Mit Schreiben vom 25. Mai 2023 bat B. den Präsidenten des Sozialgerichts Berlin mitzuteilen, „ob die Einwilligung zu der von“ ihm „beabsichtigten Verjährungseinrede erteilt“ werde („Vorlage gem. Ziffer 1.4.4 der Allgemeinen Verfügung über die Festsetzung der aus der Staatskasse zu gewährenden Vergütung der Rechtsanwältinnen, Rechtsanwälte, Patentanwältinnen, Patentanwälte, Rechtsbeistände, Steuerberaterinnen und Steuerberater ‹AV Vergütungsfestsetzung› vom 14. Juli 2014 ‹Abl. v. Berlin 2014 Nr. 31 Seite 1453›“).

 

Mit Schreiben vom 9. Juni 2023 teilte der Präsident des Sozialgerichts Berlin B. mit, dass er „in die Erhebung der Einrede des mit Vergütungsfestsetzungsantrag vom 9. Mai 2023 geltend gemachten Vergütungsanspruchs für die erste Instanz“ einwillige.

 

Mit einem an die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle des Sozialgerichts Berlin gerichteten Schreiben vom 14. Juni 2023 beantragte B., „den Vergütungsfestsetzungsantrag vom 9. Mai 2023 der beigeordneten Rechtsanwältin U D für die erste Instanz wegen Eintritts der Verjährung zurückzuweisen“.  

 

Mit Beschluss vom 4. Juli 2023 wies die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle der 16. Kammer des Sozialgerichts Berlin „den Antrag vom 9. Mai 2023 auf Zahlung der Vergütung aus der Landeskasse“ zurück.

 

Am 6. Juli 2023 hat D. Erinnerung eingelegt. Die Verjährung sei bis zur Rücknahme der unter dem Aktenzeichen L 14 AS 870/19 registrierten Berufung gehemmt gewesen.

 

Auf einen Hinweis der Vorsitzenden der 180. Kammer des Sozialgerichts Berlin, dass die von D. vertretene Rechtsauffassung zutreffe, hat B. seine eigene Rechtsauffassung wiederholt und ergänzend geltend gemacht, dass D. die Terminsgebühr unbillig bemessen habe.

 

Mit Beschluss vom 10. November 2023 hat die 180. Kammer des Sozialgerichts Berlin den Beschluss der Urkundsbeamtin der 16. Kammer des Sozialgerichts Berlin vom 4. Juli 2023 aufgehoben „und die Sache an die Urkundsbeamtin zur erneuten Entscheidung über den Vergütungsfestsetzungsantrag vom 9. Mai 2023 zurückverwiesen“. Die Erinnerung sei zulässig und begründet. D. habe ihren Vergütungsanspruch in „unverjährter“ Zeit geltend gemacht. Dies ergebe sich aus § 8 Abs. 2 Satz 1, 2 RVG. Da B. auch die „Unbilligkeit der Gebühren“ einwende, sei eine „Zurückverweisungsentscheidung zur (erstmaligen) Prüfung durch die Urkundsbeamtin im Festsetzungsverfahren […] notwendig und ausreichend“.

 

Mit einem am 15. November 2023 elektronisch übermittelten Dokument hat B. bei dem Sozialgericht Berlin Beschwerde eingelegt. Der von D. geltend gemachte Vergütungsanspruch sei verjährt. Dies ergebe sich aus Aussagen von Mayer im Kommentar zum Rechtsanwaltsvergütungsgesetz von Gerold/Schmidt (§ 8 RVG Rn. 3, 4 und 31). Diese lauteten, dass jeder Rechtszug für sich allein zu beurteilen sei. Deshalb komme es für den Rechtsanwalt des ersten Rechtszuges nicht darauf an, ob der Rechtsstreit in der höheren Instanz weitergeführt werde.

 

Die 180. Kammer des Sozialgerichts Berlin hat der Beschwerde nicht abgeholfen.

 

Mit Beschluss vom 28. Februar 2024 hat „der Einzelrichter“ gemäß § 56 Abs. 2 Satz 1 RVG in Verbindung mit § 33 Abs. 8 Satz 2 RVG das Verfahren dem Senat übertragen.

 

Der Antragsgegner beantragt,

den Beschluss der 180. Kammer des Sozialgerichts Berlin vom 10. November 2023 aufzuheben „und den Vergütungsfestsetzungsantrag der beigeordneten Rechtsanwältin vom 09.05.2023 zurückzuweisen“.

 

D. hat keinen Antrag gestellt. Sie hat sich auch nicht zur Sache geäußert.

 

 

II.

Die Beschwerde ist zulässig, jedoch nicht begründet. Zu Recht hat die 180. Kammer des So­zialgerichts Berlin den Beschluss der Urkundsbeamtin der 16. Kammer des Sozialgerichts Berlin vom 4. Juli 2023 aufgehoben. Die von D. eingelegte Erinnerung ist zulässig und be­gründet. Deren Vergütungsanspruch für das unter dem Aktenzeichen S 16 AS 8766/16 registrierte Verfahren ist nicht verjährt und daher durchsetzbar (§ 214 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch ‹BGB›).

 

Der gegen die Staatskasse gerichtete Vergütungsanspruch des beigeordneten oder bestellten Rechtsanwalts verjährt analog § 195 BGB in drei Jahren (vgl. Mayer und Müller-Rabe, in: Gerold/Schmidt, RVG, 26. Aufl. 2023, § 8 Rn. 33, § 45 Rn. 54; Oberlandesgericht ‹OLG› Stuttgart, Beschluss vom 5. März 2002, 8 WF 119/2001; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 17. Januar 2008, II-8 WF 301/07; Hessischer Verwaltungsgerichtshof ‹VGH›, Be­schluss vom 18. April 2018, 2 C 2009/12.T; Kammergericht ‹KG› Berlin, Beschluss vom 15. April 2015, 1 ARs 22/14; Landessozialgericht ‹LSG› Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 3. August 2020, L 19 AS 879/20 B).

 

Die Verjährungsfrist beginnt gemäß § 199 Abs. 1 BGB mit dem Schluss des Jah­res, in dem der An­spruch fällig ist (vgl. Müller-Rabe, in: Gerold/Schmidt, RVG, 26. Aufl. 2023, § 45 Rn. 54; Hartung, in: Hartung/Schons/Enders, RVG, 3. Aufl. 2017, § 45 Rn. 70). Nach § 8 Abs. 1 Satz 1 RVG wird die Vergütung des Rechtsanwalts fällig, wenn der Auftrag er­ledigt oder die Angelegenheit beendet ist. Ist der Rechtsanwalt in einem gerichtlichen Verfahren tätig, wird die Vergütung gemäß § 8 Abs. 1 Satz 2 RVG auch fällig, wenn eine Kostenentscheidung ergangen oder der Rechtszug beendet ist oder wenn das Verfahren länger als drei Monate ruht.

 

Das Sozialgericht Berlin hat die unter dem Aktenzeichen S 16 AS 8766/16 registrierte Klage mit Urteil vom 19. März 2019 abgewiesen und zugleich entschieden, dass der Beklagte C. C. und B. C. ein Drittel deren außergerichtlicher Kosten zu erstatten hat. Die Verjährungsfrist für den von D. geltend gemachten Vergütungsanspruch begann folglich mit dem Schluss des Jahres 2019 zu laufen (mit dem Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 19. März 2019 war zwar nicht der „Auftrag erledigt“, wohl aber waren die „Angelegenheit“ und der „Rechtszug“ beendet; ferner war mit dem Urteil auch eine „Kostenentscheidung ergangen“; erfüllt sind mithin § 8 Abs. 1 Satz 1 Alternative 2 RVG und § 8 Abs. 1 Satz 2 Alternativen 1 und 2 RVG).

 

Die Verjährungsfrist war am 9. Mai 2023 (dem Tag, als D. den Antrag stellte, gemäß § 55 Abs. 1 Satz 1 RVG die Vergütung aus der Staatskasse für das unter dem Aktenzeichen S 16 AS 8766/16 registrierte Verfahren festzusetzen), noch nicht verstrichen. Der Zeitraum vom 1. Januar 2020 bis zum 21. Februar 2023 (Rücknahme der unter dem Aktenzeichen L 14 AS 870/14 registrierten Berufung) ist gemäß § 209 BGB in die Verjährungsfrist nicht einzurechnen. Denn in diesem Zeitraum war die Verjährung gemäß § 8 Abs. 2 Satz 1 und 2 RVG gehemmt, weil das unter dem Aktenzeichen S 16 AS 8766/16 registrierte „Verfahren“ bis zum 21. Februar 2023 „anhängig“ bzw. erst am 21. Februar 2023 „anderweitig beendet“ war.

 

Die von B. vertretene Auffassung überzeugt nicht. Soweit ihr der Senat mit Beschluss vom 30. August 2023 (L 39 SF 147/23) gefolgt ist, hält er hieran nicht fest.

 

Anders als B. meint wird seine Auffassung nicht von Mayer in dem „Gerold/Schmidt“ genannten Kommentar zum Rechtsanwaltsvergütungsgesetz vertreten. Die Sätze, die B. aus diesem Kommentar zitiert, beziehen sich ausschließlich auf die Fälligkeit der Vergütung, also auf § 8 Abs. 1 RVG, aus dem tatsächlich (wie von Mayer ‹in: Gerold/Schmidt, RVG, 26. Aufl. 2023, § 8 Rn. 3, 4, 31› vertreten) hervorgeht, dass die Fälligkeit der Vergütung für jeden „Rechtszug“ gesondert zu beurteilen ist, weil in § 8 Abs. 1 Satz 1 Alternative 2 RVG auf die Beendigung der „Angelegenheit“ und in § 8 Abs. 1 Satz 2 Alternative 2 RVG auf die Beendigung des „Rechtszuges“ abgestellt wird.

 

§ 8 Abs. 2 RVG regelt demgegenüber die „Hemmung der Verjährung“ (vgl. die Überschrift zu § 8 RVG: „Fälligkeit, Hemmung der Verjährung“). Er ergänzt § 204 BGB (vgl. Schneider, in: Schneider/Volpert, AnwaltKommentar RVG, 9. Aufl. 2021, § 8 Rn. 126; Ahl­mann, in: Riedel/Sußbauer, RVG, 10. Aufl. 205, § 8 Rn. 26), indem er bestimmt:

 

„1Die Verjährung der Vergütung für eine Tätigkeit in einem gerichtlichen Verfahren wird gehemmt, solange das Verfahren anhängig ist. 2Die Hemmung endet mit der rechtskräftigen Entscheidung oder anderweitigen Beendigung des Verfahrens. 3Ruht das Verfahren, endet die Hemmung drei Monate nach Eintritt der Fälligkeit. 4Die Hemmung beginnt erneut, wenn das Verfahren weiter betrieben wird.“

 

§ 8 Abs. 2 Satz 1 RVG besagt zwar nicht, dass die Verjährung der Vergütung für eine Tätigkeit in einem „gerichtlichen Verfahren“ gehemmt wird, solange „dieses Verfahren“ anhängig ist, sondern solange „das Verfahren“ anhängig ist. Daraus ergibt sich indes nur, dass der in § 8 Abs. 2 Satz 1 und 2 RVG verwendete Begriff des „Verfahrens“ weit zu verstehen ist, mithin nicht nur das in § 8 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 RVG erwähnte „gerichtliche Verfahren“ (also das „Erkenntnisverfahren“ bzw. „Hauptsacheverfahren“), sondern auch „Nebenverfahren“ meint (vgl. Enders, in: Hartung/Schons/Enders, 3. Aufl. 2017, RVG § 8 Rn. 48; Mayer, in: Gerold/Schmidt, RVG, 26. Aufl. 2023, § 8 Rn. 43; Ahlmann, in: Riedel/Sußbauer, RVG, 10. Aufl. 2015, § 8 Rn. 27). Dies ergibt sich auch aus der Gesetzesbegründung, in der es heißt (vgl. Bundestagsdrucksache 15/1971, S. 188):

 

„Zu § 8

Absatz 1 der Vorschrift über die Fälligkeit der Vergütung entspricht § 16 BRAGO. Mit Absatz 2 ist in den Entwurf zusätzlich eine Vorschrift über die Hemmung der Verjährung des Vergütungsanspruchs für Tätigkeiten in einem gerichtlichen Verfahren aufgenommen worden. In § 199 Abs. 1 Nr. 1 BGB wird für die Verjährung auf die Fälligkeit des Anspruchs abgestellt. Die Verjährungsfrist beträgt nach § 195 BGB drei Jahre. Die Instanz endet mit Verkündung des Urteils, während der Auftrag des Rechtsanwalts wegen des Kostenfestsetzungsverfahrens noch monatelang andauern kann. Handelt es sich um ein langwieriges Kostenfestsetzungsverfahren, könnte die Vergütung vor Ende des Kostenfestsetzungsverfahrens verjähren. Wenn das Kostenfestsetzungsverfahren z. B. bis zur Rechtskraft der Hauptsacheentscheidung ausgesetzt wird, weil die Akte dem Rechtsmittelgericht vorliegt, verlängert sich das Kostenfestsetzungsverfahren möglicherweise erheblich. In einigen Fällen kann auch das Rechtsmittelgericht den Streitwert selbst nach Ablauf der nicht gehemmten Verjährungsfrist noch abweichend von der Vorinstanz festsetzen. Mit der vorgeschlagenen weitreichenden Hemmung werden diese Probleme vermieden.“

 

Ob die Hemmungstatbestände des § 8 Abs. 2 RVG „gesondert“ zu betrachten sind, wenn „innerhalb“ bzw. „im Rahmen“ eines „gerichtlichen Verfahrens“ eine „gesonderte Angelegenheit stattgefunden hat, wie etwa z. B. ein Beschwerdeverfahren“ (so Schneider, in: Schneider/Volpert, AnwaltKommentar RVG, 9. Aufl. 2021, § 8 Rn. 129; Gierl, in: Mayer/Kroiß, RVG, 8. Aufl. 2021, § 8 Rn. 65; Enders, in: Hartung/Schons/ Enders, 3. Aufl. 2017, RVG, § 8 Rn. 49; anderer Ansicht: von Seltmann, in: BeckOK RVG, 62. Edition, Stand: 1. September 2021, § 8 Rn. 35: Die Hemmung der Verjährung erfolgt, solange das ʿVerfahrenʾ anhängig ist. Wird in einem Hauptsacheverfahren wegen Richterablehnung Beschwerde eingelegt, so soll nach Schneider/Wolf/ N.Schneider Rn. 123 die Verjährungsfrist der Vergütung des Beschwerdeverfahrens zu laufen beginnen, obwohl das Hauptsacheverfahren noch anhängig ist. Dem ist nicht zu folgen. Auf den Begriff der Angelegenheit, kommt es nicht entscheidend an. Der Gesetzgeber stellt auf die Anhängigkeit des gerichtlichen Verfahrens ab. Nach dem Sinn und Zweck der Regelung ist darunter das Hauptsachverfahren zu verstehen. Eine andere Auslegung wäre mit dem Zweck der Regelung Schutz des Rechtsanwalts vor unkontrollierter Verjährung nicht zu vereinbaren.“), kann dahinstehen (dagegen spricht, dass § 8 Abs. 2 RVG – im Gegensatz zu § 8 Abs. 1 RVG – vom „Verfahren“ und nicht von der „Angelegenheit“ bzw. dem „Rechtszug“ spricht). Denn „innerhalb“ bzw. „im Rahmen“ des unter dem Aktenzeichen S 16 AS 8766/16 registrierten Verfahrens hat keine „ge­sonderte Angelegenheit stattgefunden“.

Selbst wenn die von B. vertretene Rechtsauffassung zuträfe, wäre der Beschwerde der Erfolg zu versagen, weil B. die Einrede der Verjährung nicht wirksam erhoben hat.

 

Da § 214 Abs. 1 BGB nur die Berechtigung, nicht die Pflicht zur Leistungsverweigerung verleiht, hatte B. nach Ermessen zu entscheiden, ob er die Einrede der Verjährung erhebt (vgl. Kießling, in: Mayer/Kroiß, RVG, 8. Aufl. 2021, § 55 Rn. 22; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 17. Januar 2008, II-8 WF 301/07; OLG Koblenz, Beschluss vom 30. November 2011, 14 W 702/11; Hansens, ZAP 2018, S. 1317 ‹1325›). Dies ergibt sich auch aus Ziffer 1.2.2 Satz 2 der Verwaltungsvorschrift des Bundes über die Festsetzung der aus der Staatskasse zu gewährenden Vergütung (VwV Vergütungsfestsetzung Bund) und Ziffer 1.2.2 Satz 2 der Allgemeinen Verfügung des Landes Berlin über die Festsetzung der aus der Staatskasse zu gewährenden Vergütung (AV Vergütungsfestsetzung Berlin), in denen es übereinstimmend heißt: „Sieht diese [scil.: die Vertretung der Staatskasse] von der Erhebung der Verjährungseinrede ab, so hat die oder der UdG dies auf der Festsetzung zu vermerken.“

 

Zwar war das B. eigeräumte Ermessen sehr weit. Denn ob der Schuldner von der ihm nach Verjährungseintritt zustehenden Einrede der Verjährung Gebrauch macht, steht in seinem freien Belieben (vgl. Bundesgerichtshof ‹BGH›, Urteil vom 27. Januar 2010, VIII ZR 58/09; Grothe, in: Münchener Kommentar zum BGB, 9. Aufl. 2021, § 194 Rn. 5 und § 214 Rn. 1). Nur unter „besonderen Umständen“ (die die Einrede als groben Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen) kann die Erhebung der Einrede der Verjährung nach § 242 BGB unzulässig sein (vgl. Henrich, in: BeckOK BGB, 68. Edition, Stand: 1. November 2023, § 214 Rn. 9; Schmidt-Räntsch, in: Erman, BGB, 17. Aufl. 2023, § 214 BGB, Rn. 11). Ist (wie hier) der nach § 214 Abs. 1 BGB berechtigte Schuldner eine juristische Person des öffentlichen Rechts, ist diese im Regelfall (also wenn keine „besonderen Umstände“ vorliegen) wegen des Grundsatzes der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit (vgl. § 6 Abs. 1 des Gesetzes über die Grundsätze des Haushaltsrechts des Bundes und der Länder ‹HGrG›,  § 7 Abs. 1 Satz 1 Bundeshaushaltsordnung ‹BHO›, § 7 Abs. 1 der Berliner Landeshaushaltsordnung ‹LHO›) und wegen des Grundsatzes der Gleichbehandlung (Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz ‹GG›) sogar verpflichtet, die Verjährungseinrede zu erheben (vgl. Bundesverwaltungsgericht ‹BVerwG›, Urteil vom 16. Juni 2020, 2 C 8/19; BVerwG, Urteil vom 17. September 2015, 2 C 26/14; BVerwG, Urteil vom 15. Juni 2006, 2 C 15/05; BVerwG, Urteil vom 25. November 1982, 2 C 32.81; Verwaltungsgericht ‹VG› Stuttgart, Urteil vom 29. Juni 2007, 9 K 2361/06).

 

Unter welchen „besonderen Umständen“ B. von der Erhebung der Einrede der Verjährung absehen darf, ist zwar weder in der VwV Vergütungsfestsetzung Bund noch in der AV Vergütungsfestsetzung Berlin geregelt. Jedoch heißt es in den Verwaltungsvorschriften über die Festsetzung der aus der Staatskasse zu gewährenden Vergütung der Länder Baden-Württemberg (dort unter C. Ziffer 2.2, Die Justiz 2005, S. 322), Brandenburg (dort unter Ziffer 2., Justizministerialblatt 2005, S. 103), Nordrhein-Westfalen (dort Ziffern 1.4.5, Justizministerialblatt für das Land Nordrhein-Westfalen 2005, S. 181) (die auch in Rheinland-Pfalz beachtet wird ‹vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 30. November 2011, 14 W 702/11›), Sachsen (dort unter A. Ziffer 3., Sächsisches Justizministerialblatt 2009, S. 381) und Schleswig-Holstein (dort unter C. Ziffer 2, Justizministerialblatt Schleswig-Holstein 2005, S. 341) übereinstimmend, dass „von der Erhebung der Verjährungseinrede […] regelmäßig abgesehen werden“ könne, „wenn der Anspruch zweifelsfrei begründet ist und entweder die Verjährungsfrist erst verhältnismäßig kurze Zeit abgelaufen ist oder der Anspruchsberechtigte aus verständlichen Gründen – zum Beispiel Schweben eines Rechtsmittels oder eines Parallelprozesses, längeres Ruhen des Verfahrens, Tod des Anwalts – die in einem Sachzusammenhang mit dem Erstattungsantrag stehen müssen, mit der Geltendmachung seines Anspruchs gewartet hat“. Diese Regelungen gelten auch im Land Berlin. Ob sich dies schon daraus ergibt, dass das Land Berlin diese Regelungen „tatsächlich handhabt“ (Art. 3 Abs. 1 GG), kann dahinstehen. In jedem Fall liegt diesen Regelungen ein Gedanke zugrunde, der allgemein gültig ist, nämlich der Grundsatz von Treu und Glauben (so wohl Hartung, in: Hartung/Schons/Enders, RVG, 3. Aufl. 2017, § 45 Rn. 72; Schneider, in: Schneider/Volpert/Fölsch, Gesamtes Kostenrecht, 3. Aufl. 2021, § 45 RVG Rn. 18; Fölsch/Volpert, in: Schneider/Volpert, AnwaltKommentar RVG, 9. Aufl. 2021, § 45 Rn. 62; anderer Ansicht: Müller-Rabe, in: Gerold/Schmidt, RVG, 26. Aufl. 2023, § 45 Rn. 59). Denn zurück gehen diese Regelungen vermutlich auf einen Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 1. Februar 1988 (2 WF 230/87, FamRZ 1988, S. 1184), in dem es heißt:

 

„Die Durchsetzbarkeit des Vergütungsanspruchs des beschwerdeführenden RA hängt deshalb im vorliegenden Fall davon ab, ob der Staat bei der Geltendmachung der Verjährungseinrede nach § 222 BGB völlig frei ist oder ob er über das Verbot unzulässiger Rechtsausübung […] hinaus in gewissen Grenzen zur Rücksichtnahme auf die Belange des beigeordneten RA verpflichtet ist. Angesichts der grundsätzlichen Erwägungen, die gegen eine Anwendung von § 196 I Nr. 15 BGB auf den Vergütungsanspruch des beigeordneten Rechtsanwalts geltend gemacht worden sind […], bejaht der Senat diese Frage. Ziel der Verjährungsvorschriften ist es […] nicht, dem Berechtigten sein gutes Recht zu entziehen; vielmehr soll es dem aufgrund weit zurückliegender Tatsachen in Anspruch Genommenen erspart bleiben, seinerseits die rechtliche Unerheblichkeit oder Entkräftung dieser Tatsachen durch den Nachweis von Umständen dartun zu müssen, welche die lange Zeit bereits verdunkelt hat. Bei einem sich nach Aktenlage unschwer ergebenden Anspruch des beigeordneten RA nach § 121 BRAGO ist die Ausgangslage jedoch grundsätzlich anders. Wenigstens in den Fällen, in denen die späte Geltendmachung des Vergütungsanspruchs aufgrund der besonderen Prozeßlage auf Verständnis stoßen muß, erscheint es dem Senat mit Treu und Glauben nicht vereinbar, wenn der Staat gegenüber einem unschwer als begründet zu erkennenden Anspruch zur Verjährungseinrede greift ‹so schon Gaedecke, JW 1934, 1997; […]›.“).

 

Selbst wenn diese Regelungen im Land Berlin keine Gültigkeit haben sollten, hätte B. die Einrede der Verjährung nicht wirksam erhoben, weil er das ihm eingeräumte Ermessen nicht erkannt und folglich nicht ausgeübt hat (Ermessensausfall).

 

Dass die 180. Kammer des Sozialgerichts Berlin den Beschluss vom 4. Juli 2023 aufgehoben „und die Sache an die Urkundsbeamtin zur erneuten Entscheidung über den Vergütungsfestsetzungsantrag vom 9. Mai 2023 zurückverwiesen“, also nicht selbst in der Sache entschieden hat, ist nicht zu beanstanden.

 

Teilweise wird die Ansicht vertreten, dass eine Zurückverweisung im Rahmen des Erinnerungsverfahrens nach § 56 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 RVG generell unzulässig sei (vgl. Hartung, in Hartung/Schons/En­ders, RVG, 3. Aufl. 2017, § 56 Rn. 25; Stollenwerk, in: Schneider/Volpert/Fölsch, Gesamtes Kostenrecht, 3. Aufl. 2021, § 56 Rn. 9; Volpert, in: AnwaltKommentar RVG, 9. Aufl. 2021, § 56 Rn. 25). Andere meinen, dass das Gericht im Erinnerungsverfahren nach § 56 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 RVG „grundsätzlich“ selbst in der Sache zu entscheiden habe, für eine Zurückverweisung „in der Regel“ kein Raum sei (vgl. Müller-Rabe, in: Gerold/Schmidt, RVG, 26. Aufl. 2023, § 56 Rn. 15; Kießling, in: Mayer/Kroiß, RVG, § 56 Rn. 16). Zum Erinnerungsverfahren gemäß § 178 Sozialgerichtsgesetz (SGG) wird einhellig die Ansicht vertreten, dass das Gericht entweder in der Sache selbst entscheide oder den Urkundsbeamten anweise (vgl. Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl. 2023, § 178 Rn. 3; Böttiger, in: Fichte/Jüttner, SGG, 3. Aufl. 2020, § 178 Rn. 16; Luik, in: Hennig, SGG, Lsbl., § 178 Rn. 14). Zum Verfahren der Erinnerung gemäß § 165 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) besteht Einigkeit, dass das Gericht regelmäßig in der Sache selbst entscheide und die Sache nur dann an den Urkundsbeamten nach § 173 VwGO in Verbindung mit §§ 572 Abs. 3, 573 Abs. 1 Satz 3 Zivilprozessordnung (ZPO) zurückverweise, wenn eine weitere Aufklärung in tatsächlicher Hinsicht erforderlich sei (vgl. Olbertz, in: Schoch/Schnei­der, VwGO, 44. Ergänzungslieferung März 2023, § 165 Rn. 11; Happ, in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 165 Rn. 9; Neumann/Schaks, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 165 Rn. 27; Bayerischer VGH, Beschluss vom 3. Dezember 2003, 1 N 01.1845; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 26. März 1979, VII 3206/78; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 4. September 2014, OVG 3 K 36.14; VG München, Beschluss vom 5. Juli 2023, M 22 M 21.32070).

 

Jedenfalls in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem die/der Urkundsbeamtin/e der Geschäftsstelle des Sozialgerichts Berlin über die Höhe der aus der Staatskasse zu zahlenden Vergütung keine Entscheidung getroffen hat und in tatsächlicher Hinsicht weitere Ermittlungen notwendig sind (bezüglich der Höhe der von D. dem Grunde nach zu Recht geltend gemachten Terminsgebühr besteht Ermittlungsbedarf, weil aus dem Protokoll zur mündlichen Verhandlung in der Sache S 16 AS 8766/16 vom 19. September 2017 nicht hervorgeht, wann die 16. Kammer des Sozialgerichts Berlin die um 12:20 Uhr erstmals geschlossene mündliche Verhandlung erneut eröffnet hat und ob D. zu diesem Zeitpunkt noch anwesend war), ist der Senat der Auffassung, dass das Erinnerungsgericht nicht in der Sache selbst entscheiden muss, sondern die Sache zur erneuten Entscheidung an die/den Urkundsbeamtin/en der Geschäftsstelle zurückverweisen darf, um eine erstmalige Entscheidung der Ausgangsinstanz herbeizuführen, damit den Beteiligten der gesetzlich vorgesehene Rechtsmittelzug nicht genommen wird. Diese Verfahrensweise ist zwar im Rechtsanwaltsvergütungsgesetz nicht (ausdrücklich) vorgesehen. Zudem bestimmt § 1 Abs. 3 RVG, dass die Vorschriften dieses Gesetzes über die Erinnerung und die Beschwerde den Regelungen der für das zugrunde liegende Verfahren geltenden Verfahrensvorschriften vorgehen. Das schließt indes nicht aus, im Rahmen des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes einzelne Vorschriften der Zivilprozessordnung (insbesondere die §§ 572 Abs. 3, 573 Abs. 1 Satz 3 ZPO) analog anzuwenden. Davon gehen selbst diejenigen aus, die die Ansicht vertreten, dass eine Zurückverweisung im Rahmen des Erinnerungsverfahrens nach § 56 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 RVG generell/ grundsätzlich ausgeschlossen sei. Denn dem Beschwerdegericht im Sinne des § 56 Abs. 2 Satz 1 RVG räumen sie die Möglichkeit der Zurückverweisung an das Erinnerungsgericht ein, obgleich auch diese Möglichkeit im Rechtsanwaltsvergütungsgesetz nicht (ausdrücklich) vorgesehen ist (vgl. Hartung, in: Hartung/Schons/Enders, RVG, 3. Aufl. 2017, § 56 Rn. 44; Müller-Rabe, in: Gerold/Schmidt, RVG, 26. Aufl. 2023, § 56 Rn. 30; Volpert, in: Schneider/Volpert, AnwaltKommentar RVG, 9. Aufl. 2021, § 56 Rn. 62). Ein Grund, weshalb § 572 Abs. 3 ZPO im Beschwerdeverfahren nach § 56 Abs. 2 Satz 1 RVG analog angewendet werden kann, die §§ 572 Abs. 3, 573 Abs. 1 Satz 3 ZPO nicht aber im Erinnerungsverfahren nach § 56 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 RVG analog angewendet werden können, ist nicht ersichtlich.

           

Das Beschwerdeverfahren ist gebührenfrei (§ 56 Abs. 2 Satz 2 RVG). Kosten werden nicht erstattet (§ 56 Abs. 2 Satz 3 RVG).

 

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 56 Abs. 2 Satz 1 RVG in Verbindung mit § 33 Abs. 4 Satz 3 RVG).

Rechtskraft
Aus
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