Auf die Beschwerde des Beklagten wird der Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 09.08.2024 aufgehoben.
Gründe:
I.
Die Beschwerde des Beklagten richtet sich gegen die Aussetzung des Verfahrens durch das Sozialgericht Dortmund (SG).
Die Klägerin hat am 05.10.2021 Klage vor dem SG erhoben und begehrt, den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 31.08.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.09.2021 zu verpflichten, ihr höhere Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II i. d. F. bis zum 31.12.2022) nach den gesetzlichen Bestimmungen zu bewilligen. Sie wendet sich konkret gegen die Höhe der vorläufigen Bewilligung von Leistungen für die Zeit vom 01.10.2021 bis zum 31.03.2022 und begründet dies damit, dass zum einen der Regelbedarf 2021 evident unzureichend sei und zum anderen Gründe für eine vorläufige Bewilligung nicht vorgelegen hätten, da die Klägerin wegen der bestehenden Coronapandemie nicht mit Einnahmen habe rechnen können.
Der Beklagte hat die Abweisung der Klage beantragt und auf den Inhalt der Verwaltungsakte sowie die Ausführungen im angefochtenen Widerspruchsbescheid verwiesen.
Das SG hat im Erörterungstermin vom 09.08.2024 im Beschlusswege entschieden, dass das Verfahren im Hinblick auf eine Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) in den Verfahren B 8 SO 4/24 R und B 8 SO 5/34 R (gemeint sein dürfte B 8 SO 5/24 R) ausgesetzt wird. Die Verfahren beträfen Rechtsverhältnisse, die für die Entscheidung in dem vorliegenden Verfahren entscheidungsrelevant im Sinne von § 114 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetzt (SGG) seien.
Gegen diesen Beschluss richtet sich die am 09.09.2024 erhobene Beschwerde des Beklagten. Ein Aussetzungsgrund nach § 114 Abs. 2 SGG liege nicht vor, denn der Rechtsstreit sei nicht vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängig, das Gegenstand eines anderen Verfahrens wäre. Die insoweit notwendige Vorgreiflichkeit setze voraus, dass sich für die Entscheidung im vorliegenden Rechtsstreit eine „Vorfrage“ stelle, die Gegenstand des anderen Rechtsstreits sei. Nicht ausreichend sei, wenn sich in dem anderen Verfahren die gleiche Rechtsfrage stelle, weil die Beantwortung einer Rechtsfrage kein Rechtsverhältnis im Sinne des § 114 Abs. 2 Satz 1 SGG darstelle. Zudem fehlten dem Beschluss die erforderlichen Ermessenserwägungen. Des Weiteren sei eine begründete Ausfertigung des Beschlusses mit Rechtsbehelfsbelehrung entgegen § 142 Abs. 2 SGG nicht erteilt worden.
Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,
den Beschluss vom 09.08.2024 aufzuheben.
Die Klägerin beantragt schriftsätzlich,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Sie ist der Ansicht, der Beschluss sei rechtmäßig.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind.
II.
1. Die Beschwerde ist zulässig und begründet.
a) Die fristgerecht erhobene Beschwerde gegen den Aussetzungsbeschluss ist nach § 172 Abs. 1 SGG auch im Übrigen zulässig. § 172 Abs. 2 SGG greift nicht ein, da – wie schon der Beklagte in der Beschwerdebegründung zu Recht ausführt – die Entscheidung des SG über die Aussetzung des Verfahrens keine prozessleitende Verfügung im Sinne dieser Regelung darstellt (Landessozialgericht [LSG]) Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 26.05.2022, L 13 VG 6/22 B, juris Rn. 17 m. w. N.).
b) Der Aussetzungsbeschluss ist rechtswidrig, da die Voraussetzungen für die Aussetzung nicht vorliegen und im Beschluss kein Ermessen ausgeübt wurde.
Gemäß § 114 Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsstelle festzustellen ist, anordnen, dass das Verfahren bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsstelle auszusetzen ist.
Diese Voraussetzungen liegen schon deshalb nicht vor, weil die auf Seite 8 der Niederschrift des SG vom 09.08.2024 genannten Revisionsverfahren nicht – wie hier zumindest auch – das Jahr 2021 betreffen. Während im Verfahren B 8 SO 4/24 R die Rechtsfrage anhängig ist, ob die nach § 29 SGB XII bestimmten Regelsätze in der erste Hälfte des Jahres 2022 verfassungskonform waren, betrifft das Verfahren B 8 SO 5/24 R das zweite Halbjahr des Jahres 2022.
Unbeschadet dessen scheide eine Aussetzung vor dem Hintergrund anderweitiger vom vorliegenden Verfahren unabhängiger Revisionsverfahren vor dem BSG, die dieselbe entscheidungserhebliche Rechtsfrage zum Gegenstand haben, auch deshalb aus, weil die Frage der Auslegung einer Norm kein „Rechtsverhältnis“ im Sinne von § 114 Abs. 2 Satz 1 SGG darstellt (LSG Berlin Brandenburg, Beschluss vom 21.12.2011, L 10 AS 2064/11 B, juris Rn. 5 m. w. N.; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 26.07.2005, L 13 KN 1757/05, juris Rn. 15; Guttenberger in jurisPK-SGG, Stand: 15.06.2022, § 114 SGG Rn. 18). „Rechtsverhältnisse“ sind die Rechtsbeziehungen zwischen Personen oder Personen und Gegenständen, die sich aus einem konkreten Sachverhalt auf Grund einer Norm (des öffentlichen Rechts nichtverfassungsrechtlicher Art) für das Verhältnis mehrerer Personen untereinander oder einer Person zu einer Sache ergeben (BSG, Urteil vom 07.12.2006, B 3 KR 5/06 R, juris Rn. 16; Keller in Meyer-Ladewig u. a., SGG, 14. Auflage 2023, § 55 Rn. 4). Solche Rechtsbeziehungen sind bei der reinen Frage der Auslegung einer Norm, wie sie sich bei der Frage der Verfassungsmäßigkeit der Höhe des Regelbedarfs stellt, nicht gegeben (LSG Bayern, Beschluss vom 22.12.2015, L 7 AS 782/15 B, juris Rn. 7; LSG Berlin Brandenburg, Beschluss vom 29.01.2008, L 21 B 1167/07 R, juris Rn. 9). Die Höhe des Regelbedarfs folgt aus der Regelung des § 20 Abs. 1a SGB II i. V. m. § 28 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch – Sozialhilfe – (SGB XII) i. V. m. dem Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz und den §§ 28a und 40 SGB XII i. V. m. der für das jeweilige Jahr geltenden Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnung. Dass es für eine Aussetzung nicht ausreichend ist, dass in einem anderen Rechtsstreit über dieselbe Rechtsfrage entschieden wird, zeigt sich auch in der Sonderregelung des § 114a SGG, nach der nur unter engen Voraussetzungen wegen eines Musterverfahrens eine Aussetzung erlaubt ist und derer es ansonsten nicht bedurft hätte (Keller in Meyer-Ladewig u. a., SGG, 14. Auflage 2023, § 114 Rn. 2, 5b).
Auch eine entsprechende Anwendung des § 114 SGG aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes oder der Prozessökonomie wie es zum Beispiel in Betracht kommt, wenn die Klage vor Abschluss des Widerspruchsverfahren erhoben ist oder eine fehlende Prozessvoraussetzung noch herbeigeführt werden kann, scheidet vorliegend aus. Lediglich unter engen Voraussetzungen wird teilweise vertreten, dass für den Fall einer bei dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) anhängigen Rechtsfrage eine entsprechende Anwendung des § 114 Abs. 2 Satz 1 SGG möglich sein soll, um durch das Aussetzen des Rechtsstreits ein „Überschwemmen“ des BVerfG mit einer Vielzahl gleich gelagerter Fälle zu verhindern (vgl. Keller in Meyer-Ladewig u. a., SGG, 14. Auflage 2023, § 114 Rn. 5c; LSG Bayern, Beschluss vom 22.12.2015, L 7 AS 782/15 B, juris Rn. 7: „nur im Ausnahmefall“; offen gelassen LSG Berlin Brandenburg, Beschluss vom 29.01.2008, L 21 B 1167/07 R, juris Rn. 9). Vorliegend ist jedoch nicht aufgrund eines vor dem BVerfG anhängigen Verfahrens ausgesetzt worden und dementsprechend ein solcher Ausnahmefall, der eine analoge Anwendung ermöglichen könnte, nicht ersichtlich.
Darüber hinaus ist der Beschluss rechtswidrig, weil das Gericht vorliegend kein Ermessen ausgeübt hat. Gemäß § 114 Abs. 2 Satz 1 SGG ist die Entscheidung über die Aussetzung im Ermessen des Gerichts. Abzuwägen sind dabei für eine Aussetzung sprechende Gründe – wie der Ausschluss widersprüchlicher Entscheidungen und prozessökonomische Gründe – mit den Interessen der Beteiligten, also insbesondere der Vorteil der voraussichtlich einfacheren und besseren Klärung des Sachverhalts einerseits mit dem Nachteil einer möglichen Verzögerung des eigenen Rechtsstreits (LSG Hessen, Beschluss vom 18.11.2019, L 6 AS 478/19 B, juris Rn. 6). Das Gericht muss in der gemäß § 142 Abs. 2 Satz 1 SGG erforderlichen Begründung seines Beschlusses erkennbar machen, dass es die maßgeblichen Gesichtspunkte sorgfältig abgewogen hat (Keller in Meyer-Ladewig u. a., SGG, 14. Auflage 2023, § 114 Rn. 7). Vorliegend fehlt es, worauf der Beklagte zu Recht hingewiesen hat, schon generell an einer Begründung des Beschlusses. Selbst wenn man die einleitenden Ausführungen des SG auf Seite 8 der Niederschrift als Begründung ansehen wollte, würde es jedenfalls an konkreten Ermessenserwägungen fehlen.
Auf solche Erwägungen kann hier auch nicht deshalb verzichtet werden, weil eine Ermessensreduzierung auf Null vorläge. Denn eine solche wäre nur anzunehmen, wenn dem SG eine andere Entscheidung als die Aussetzung nicht möglich, d. h. also das Gericht zur Aussetzung verpflichtet gewesen wäre (BSG, Beschlüsse vom 11.07.2022, B 5 R 54/22 B, juris Rn. 10, und vom 24.11.2011, B 4 AS 177/11 B, juris Rn. 10; Guttenberger in jurisPK-SGG, Stand: 15.06.2022, § 114 SGG Rn. 50; Keller in Meyer-Ladewig u. a., SGG, 14. Auflage 2023, § 114, Rn. 7a). Das SG ist vorliegend jedoch trotz anhängiger Verfahren vor dem BSG zur gleichen Rechtsfrage an einer Entscheidung in der Sache nicht gehindert.
2. Eine Kostenentscheidung ist nicht zu treffen, weil es sich bei dem Aussetzungsverfahren nicht um einen selbstständigen Verfahrensabschnitt handelt (Keller in Meyer-Ladewig u. a., SGG, 14. Auflage 2023, § 114, Rn. 9; LSG Hessen, Beschluss vom 25.04.2023, L 4 SO 112/22 B, juris Rn. 13 m. w. N.).
3. Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das BSG anfechtbar (§ 177 SGG).