L 4 P 36/22

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
4.
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 8 P 595/19
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 P 36/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Wer eine Begutachtung vereitelt, trägt die objektive Beweislast für die Tatsachen, die den von ihm geltend gemachten Anspruch begründen. Dies gilt auch in Zeiten der coronabedingten Einschränkungen des täglichen Lebens.

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 26. Januar 2021 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass beide Klagen abgewiesen werden.

Außergerichtliche Kosten auch des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.



Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Gewährung von Leistungen der Privaten Pflegeversicherung nach Pflegegrad 2 für die Zeit vom 30. Dezember 2017 bis 31. Juli 2020 sowie des Entlastungsbetrages für die Zeit vom 1. Januar bis 30. September 2018.

Die 1957 geborene, beihilfeberechtigte Klägerin ist beim Beklagten privat pflegeversichert (Tarif PVB). Grundlage des Pflegepflichtversicherungsvertrags sind die Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) für die private Pflegepflichtversicherung (MB/PPV, Zusatzvereinbarungen und Tarifbedingungen).

Am 30. Dezember 2017 beantragte die Klägerin beim Beklagten die Gewährung von Leistungen der Pflegepflichtversicherung, insbesondere von Pflegegeld. Zur Begründung verwies sie auf eine mitochondriale Erkrankung, Morbus Wilson (M. Wilson), ein Karzinoid-Syndrom sowie auf den anerkannten Grad der Behinderung von 100. Daraufhin veranlasste der Beklagte eine Begutachtung der Klägerin in häuslicher Umgebung durch den medizinischen Dienst der privaten Pflegeversicherung, die M1-. Die Gutachterin W1 gab in ihrem Gutachten vom 13. Mai 2018 nach einem Hausbesuch bei der Klägerin am 11. Mai 2018 als pflegebegründende Diagnosen M. Wilson, Verdacht auf (V.a.) mitochondriale Erkrankung, V.a. chronisch progressive externe Ophtalmoplegie, Schlafapnoe-Syndrom (CPAP-Beatmung) und ein Karzinoid der Lunge an. Den bei der Klägerin bestehenden Hilfebedarf bewertete sie mit insgesamt 8,75 gewichteten Punkten. In Modul 4 (Selbstversorgung) bestehe ein Hilfebedarf beim Waschen des Intimbereichs und beim Duschen und Baden einschließlich Waschen der Haare (jeweils überwiegend selbständig, 2 Einzelpunkte, 0 gewichtete Punkte). In Modul 5 (Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen) bedürfe sie der Hilfe beim Ausziehen der Kompressionsstrümpfe (1 Einzelpunkt, 5 gewichtete Punkte). In Modul 6 bestehe ein Hilfebedarf bei der Kontaktpflege zu Personen außerhalb des direkten Umfeldes (überwiegend selbständig, 1 Einzelpunkt, 3,75 gewichtete Punkte). Hierauf gestützt lehnte der Beklagte mit Schreiben vom 16. Mai 2018 den Antrag ab, da kein Pflegegrad festgestellt werden könne.

Zur Begründung des hiergegen eingelegten „Widerspruches“ führte die Klägerin aus, das Gutachten bilde ihren Gesundheitszustand nicht vollständig ab. Nicht berücksichtigt worden seien die mindestens wöchentlich stattfindenden Arztbesuche, bei denen sie begleitet werde. Außerdem leide sie seit vielen Jahren unter Ängsten und einer Antriebslosigkeit bei depressiver Stimmungslage. Es bestünden auch motorische Einschränkungen beim Gehen und Stehen, wegen derer sie beispielsweise nicht mehr duschen könne. Das Merkzeichen G sei bei ihr anerkannt. Ergänzend legte sie eine Bescheinigung des behandelnden H1 vom 4. Oktober 2018 vor; auf Bl. 75/77 der Akte S 8 P 595/19 wird Bezug genommen.

Im daraufhin vom Beklagten veranlassten Gutachten des U1, M1-, vom 16. November 2018 ermittelte dieser aufgrund einer Begutachtung in häuslicher Umgebung unter Berücksichtigung der pflegebegründenden Diagnosen bösartige Neubildung der Bronchien und der Lunge, Störung des Ganges und der Mobilität sowie der weiteren Diagnosen M. Wilson, V.a. mitochondriale Erkrankung und depressive Episoden einen pflegerischen Gesamthilfebedarf von 16,25 gewichteten Punkten seit Oktober 2018. Über den von W1 ermittelten Hilfebedarf hinaus berücksichtigte er einen Hilfebedarf in Modul 3 (Verhaltensweisen und psychische Problemlagen) wegen selten auftretender verbaler Aggressionen (1 Einzelpunkt) und einer häufigen Antriebslosigkeit bei depressiver Stimmungslage (3 Einzelpunkte) von 7,5 gewichteten Punkten. Mit Schreiben vom 20. November 2018 sagte der Beklagte Leistungen nach Pflegegrad 1 seit 1. Oktober 2018 zu.

Am 18. Februar 2019 erhob die Klägerin beim Sozialgericht Heilbronn (SG) mit Schreiben vom selben Tag zwei Klagen. Mit der ersten begehrte sie die Gewährung des Entlastungsbetrags für eine Putzhilfe als Leistung der Pflegeversicherung nach Pflegegrad 1 bereits ab Antragstellung, mit der zweiten die Anerkennung des Pflegegrades 2. Für letztere wurde zunächst das selbständige Verfahren S 11 P 596/19 eingetragen, dessen Ruhen zunächst angeordnet (Beschluss vom 7. Oktober 2019) und später unter dem Aktenzeichen S 11 P 3913/19 fortgeführt und schließlich durch Beschluss vom 5. Februar 2020 zum vorliegenden Klageverfahren (S 8 P 595/19, vormals S 11 P 595/19) verbunden.

Zur Begründung der Klagen führte die Klägerin unter Vorlage auch ihres vorgerichtlichen Vorbringens im Wesentlichen aus, sie leide seit Jahren unter seltenen Krankheiten, für die es sehr schwer sei, zur Behandlung bereite Ärzte zu finden. Sie habe schon sehr lange mit „Antriebslosigkeit (= Depressionen)“ zu tun, was sich aus – vorgelegten – Arztrechnungen ergebe, so dass der Hilfebedarf in Modul 3 bereits ab Antragstellung zu berücksichtigen sei. H1 bestätige in seiner – vorgelegten – Bescheinigung vom 13. Februar 2019, dass die in seiner Bescheinigung vom 4. Oktober 2018 beschriebenen Sachverhalte und Beschwerden bereits seit mindestens Sommer 2017 bestanden hätten. In den Gutachten seien ihre Ängste zu Unrecht nicht berücksichtigt worden, da es auf deren Ursache nicht ankomme. Diese Ängste äußerten sich oft anfallsweise bzw. attackenhaft. Sie müsse nur an bestimmte Dinge erinnert werden, und es könne passieren, dass sie heule oder in Panik verfalle. Die Ursachen ihrer Ängste seien unterschiedlich (Angst vor den Folgen des Lungenkarzinoids, vor Demenz oder dem Wegfall der Versorgung). Des Weiteren habe sie mit dem Gedächtnis merkbare Probleme im Alltag, so müsse ihre Pflegeperson ihr bei der Suche nach verlegten Gegenständen helfen. Auch verliere sie im Gespräch öfters den Faden und könne daher kein normales längeres Gespräch führen. Aufgrund eines schmerzhaften Schnappdaumens könne sie Flaschen und Gläser nicht öffnen und auch kein Brot schneiden. Seit ca. Juni 2018 haben sie vermehrt Durchfall. Sie benötige daher Hilfe bei der Intimhygiene. Die aufgrund der Entfernung über drei Stunden andauernden Arztbesuche seien nicht ausreichend berücksichtigt worden, weil sie nicht immer beim selben Arzt stattfänden. Lediglich Fahrten zu Arztterminen im Nahbereich führe sie noch selbst durch. Entgegen der Einschätzung des Gutachters seien Arztbesuche mit einer Abwesenheit von mehr als drei Stunden nicht bei Pflege-Item 5.13, sondern 5.15 zu berücksichtigen. Erst im Februar 2019 sei es ihr gelungen, einen Pflegedienst zu finden, der eine Putzhilfe anbiete. Da sie im hauswirtschaftlichen Bereich infolge ihrer Bewegungseinschränkungen einen sehr starken Nachholbedarf habe, sei ihr die Gewährung des Entlastungsbetrages bereits ab Dezember 2017 und nicht erst ab Oktober 2018 wichtig. Ergänzend legte die Klägerin umfangreich ärztliche Unterlagen, ihre vorgerichtliche Korrespondenz mit der Beklagten und das Ergebnis eines selbst durchgeführten „Pflegegrad-Rechners“ vor. Wegen der Stellungnahme der Klägerin zu den Aussagen der sachverständigen Zeugen (dazu unten) wird auf Bl. 311/316 der Akte S 8 P 595/19 Bezug genommen.

Der Beklagte trat der Klage unter Verweis auf die M1- -Gutachten zunächst umfassend entgegen.

Das SG befragte zunächst die behandelnden Ärzte der Klägerin schriftlich als sachverständige Zeugen. M2 gab unter dem 29. April 2019 insbesondere an, die Klägerin erscheine psychisch auffällig. Sie spreche viel. Laut Fremdbefunden bestehe eine agitierte Depression. S1 berichtete in seiner Auskunft vom 6. Mai 2019 über eine Behandlung in unregelmäßiger Frequenz, zuletzt ab Juli 2017. Es finde sich eine Depression mit gedrückter Stimmung und reduziertem Antrieb. Verhaltensauffälligkeiten seien ihm nicht bekannt. H1 teilte in seiner Auskunft vom 17. Juni 2019 (eine Diagnoseliste sowie Laborbefunde mit; insoweit wird auf Bl. 213/214 der Akte S 8 P 595/19 Bezug genommen. Die Klägerin sei nicht in der Lage, nach einem Toilettengang – bei vermehrter Durchfallneigung – die Intimhygiene selbständig durchzuführen, Flaschen oder Gläser zu öffnen und Brot zu schneiden. Bei langfristigen Terminen außerhäuslich sei sie auf Begleitung angewiesen. Ergänzend legte er ein Konvolut ärztlicher Unterlagen bei.

Mit Schreiben vom 5. September 2019 erklärte der Beklagte, einer rückwirkenden Anerkennung des Pflegegrades 1 ab Antragstellung „zuzustimmen“. Da die Klägerin aber erst seit Februar 2019 Leistungen i.S. des Entlastungsbetrags in Anspruch nehme, könnten insoweit nur Pflegedienstabrechnungen für die Zeit von Februar 2019 bis Juni 2019 berücksichtigt werden. Solange die Klägerin keine entsprechenden Rechnungen vorlege, bestehe kein Zahlungsanspruch. Die Anerkennung des Pflegegrades 2 lehne er ab. Die Klägerin hielt an ihrem Begehren auch hinsichtlich des Entlastungsbetrages ab Januar 2018 fest.

Über einen Höherstufungsantrag der Klägerin vom 27. Oktober 2019 entschied der Beklagte unter Verweis auf das laufende Klageverfahren nicht (Schreiben vom 3. Dezember 2019).

Am 10. Februar 2020 bestellte das SG die Pflegesachverständige K1 zur gerichtlichen Sachverständigen (mit Untersuchung im häuslichen Bereich der Klägerin). Die Begutachtung konnte in der Folge nicht durchgeführt werden. Die Klägerin verschob den Begutachtungstermin zunächst bis auf Weiteres und meldete sich gegenüber der Sachverständigen auch nachfolgend wiederholt nicht wegen eines Termins (Mitteilungen der Sachverständigen vom 12. und 29. Mai sowie 6. Juli 2020). Das SG forderte die Klägerin unter Verweis auf ihre prozessuale Mitwirkungspflicht zur Vereinbarung eines Begutachtungstermins auf, andernfalls werde der Gutachtensauftrag aufgehoben und nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast aufgrund des bisherigen Sachstandes entschieden. Die Klägerin kam dem nicht nach und gab zur Begründung an, sie leide unter enormen Belastungen und trage des Weiteren aufgrund ihrer Erkrankungen ein erhöhtes Risiko einer Infektion im Rahmen der aktuellen Corona-Pandemie; wegen der Einzelheiten wird auf Bl. 368 bis 408 der Akte S 8 P 595/19 verwiesen. Ergänzend legte sie die Bescheinigung von H1 vom 23. Juli 2020 vor (Bl. 390/391 der Akte S 8 P 595/19). Das SG hob in der Folge den Gutachtensauftrag auf.

Auf einen weiteren Höherstufungsantrag der Klägerin vom 28. August 2020 veranlasste der Beklagte eine weitere Begutachtung der Klägerin. Die Gutachterin Z1, M1-, gelangte in ihrem aufgrund eines strukturierten Telefoninterviews erstellten Gutachten vom 24. September 2020 zu einem pflegerischen Gesamthilfebedarf von 33,75 gewichteten Punkten. In Modul 3 bestehe ein Hilfebedarf von 15 gewichteten Punkten bei verbaler Aggression und Antriebslosigkeit bei depressiver Stimmungslage (jeweils täglich; jeweils 5 Einzelpunkte), in Modul 4 von 10 gewichteten Punkten beim Waschen des Intimbereichs, dem Duschen und Baden einschließlich Waschen der Haare und bei der Benutzung einer Toilette (jeweils überwiegend selbständig, insgesamt 5 Einzelpunkte), in Modul 5 von 5 gewichteten Punkten (körpernahe Hilfsmittel einmal täglich) sowie in Modul 6 von 3,75 gewichteten Punkten (Kontaktpflege zu Personen außerhalb des direkten Umfeldes überwiegend selbständig, 1 Einzelpunkt).

Hierauf gestützt sagte der Beklagte Leistungen nach Pflegegrad 2 ab dem 1. August 2020 zu (Schreiben vom 25. September 2020).

Nachdem ein Termin zur mündlichen Verhandlung auf Antrag der Klägerin aufgehoben worden war, wies das SG nach Anhörung der Beteiligten mit Gerichtsbescheid vom 26. Januar 2021 „die Klage“ ab. Die Klägerin habe in der Zeit vom 30. Dezember 2017 bis 31. Juli 2020 keinen Anspruch auf Leistungen aus der privaten Pflegeversicherung nach Pflegegrad 2, weil ein entsprechender Unterstützungsbedarf aufgrund ihres Verhaltens im streitgegenständlichen Zeitraum nicht habe belegt werden können. Weitere zielführende Ermittlungen seien nicht möglich, da die Klägerin trotz des Hinweises auf die negativen Folgen ohne wichtigen Grund nicht an einer Begutachtung mitgewirkt habe. Insbesondere stelle die Corona-Pandemie in der Zeit von Mai bis September 2020 wegen der in diesem Zeitraum niedrigen Fallzahlen und der entsprechend niedrigen Ansteckungsgefahr keinen wichtigen Grund dar, eine Begutachtung im häuslichen Umfeld zu verweigern. Die Klägerin trage demnach die objektive Beweislast für das Vorliegen der Voraussetzungen der begehrten Leistung. Nach dem bisherigen Sachstand ergebe sich unter Beachtung der M1- -Gutachten kein Anspruch auf Leistungen der privaten Pflegeversicherung nach Pflegegrad 2 im noch streitbefangenen Zeitraum. Die eingeholten Arztauskünfte seien nicht geeignet, die Voraussetzungen zu belegen, da sich ihnen die notwendigen Angaben zu den maßgeblichen Kriterien für die Feststellung des Pflegerades nicht in ausreichendem Umfang entnehmen ließen. Die Klägerin habe auch keinen Anspruch auf den begehrten Entlastungsbetrag für die Zeit vom 30. Dezember 2017 bis 30. September 2018, weil sie keine ungedeckten übernahmefähigen Ausgaben nachgewiesen habe, die erstattet werden könnten. Sie habe selbst mehrfach bestätigt, vor Februar 2019 keine entsprechenden Leistungen in Anspruch genommen zu haben. Damit komme auch unter Berücksichtigung der Möglichkeit, nicht verbrauchte Beträge in das folgende Kalenderjahr zu übertragen, ein Anspruch für das Jahr 2017 von Vorneherein nicht in Betracht, weil für die Zeit bis zum 30. Juni 2018 keine Ausgaben geltend gemacht worden seien. Es bestehe auch kein Anspruch für das Jahr 2018, weil die Klägerin für die Zeit bis 30. Juni 2019 keine Rechnungen vorgelegt habe, die vom Beklagten noch nicht übernommen worden seien. Vielmehr habe im August 2020 sogar noch ein offenes Restbudget aus dem Jahr 2019 in Höhe von 811,96 € bestanden.

Gegen diesen ihr am 28. Januar 2021 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 1. März 2021, einem Montag, Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt (L 4 P 798/21). Auf Antrag der Beteiligten hat das Verfahren zunächst geruht (Beschluss vom 11. März 2021) und ist nach Wiederanruf unter dem Aktenzeichen L 4 P 36/22 fortgeführt worden. Im Wesentlichen hat die Klägerin ausgeführt, aus gesundheitlichen Gründen und wegen der Inanspruchnahme durch zahlreiche andere Angelegenheiten insbesondere wegen des prekären Gesundheitszustandes ihrer Mutter die Berufung nicht weitergehend begründen zu können, und den Verfahrensablauf aus ihrer Sicht dargelegt.

Die Klägerin beantragt (sachdienlich gefasst),

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 26. Januar 2021 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr für die Zeit vom 30. Dezember 2017 bis 31. Juli 2020 Pflegegeld nach Pflegegrad 2 sowie für die Zeit vom 1. Januar bis 30. September 2018 einen Entlastungsbetrag in Höhe von 125,00 € monatlich zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

            die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge sowie der SG-Akten S 8 P 596/19 und S 11 P 3913/19 Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

1. Der Senat konnte verhandeln und entscheiden, obwohl die Beteiligten im Termin zur mündlichen Verhandlung nicht erschienen sind, da die Beteiligten mit der ihnen am 29. Januar 2025 (Beklagte; elektronisches Empfangsbekenntnis) bzw. 30. Januar 2025 (Klägerin; Postzustellungsurkunde) zugestellten Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen wurden (§ 110 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]). Die nach § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist zulässig, insbesondere statthaft gemäß §§ 105 Abs. 2 Satz 1, 143, 144 Abs. 1 Satz 2 SGG. Denn die Klägerin begehrt mit dem Pflegegeld laufende Leistungen für mehr als ein Jahr und mit dem Entlastungsbetrag eine Geldleistung von mehr als 750,00 €.

2. a) Gegenstand des Verfahrens ist zunächst das Begehren der Klägerin auf Gewährung von Pflegegeld nach Pflegegrad 2 für den Zeitraum vom 30. Dezember 2017 bis 31. Juli 2020 aus ihrer privaten Pflegepflichtversicherung bei der Beklagten. Die begehrte Leistung (Pflegegeld) ergibt sich aus dem am 30. Dezember 2017 beim Beklagten gestellten Antrag. Zeitlich ist das Begehren auf den 31. Juli 2020 begrenzt. Denn der Beklagte hat auf den Höherstufungsantrag der Klägerin vom 28. August 2020 die begehrte Leistung nach Pflegegrad 2 ab dem 1. August 2020 zugesagt (Schreiben vom 25. September 2020) und erbringt diese seither. Durch den früheren Höherstufungsantrag der Klägerin vom 27. Oktober 2019 ist keine zeitliche Zäsur eingetreten. Der Senat kann offenlassen, ob im Bereich der privaten Pflegepflichtversicherung wie im Bereich der sozialen Pflegeversicherung nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) ein ablehnend beschiedener Höherstufungsantrag den streitbefangenen Zeitraum begrenzt (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteile vom 11. November 2021 – B 3 P 2/20 R – juris, Rn. 9 und vom 17. Februar 2022 – B 3 P 6/20 R – juris, Rn. 10). Denn der Beklagte hat über diesen nicht entschieden, sondern lediglich auf das laufende Klageverfahren verwiesen (Schreiben vom 3. Dezember 2019).

b) Weiterer Gegenstand des Verfahrens ist das Begehren der Klägerin auf Auszahlung des Entlastungsbetrages in Höhe von 125,00 € monatlich für die Zeit vom 1. Januar bis 30. September 2018. So hat die Klägerin ausdrücklich deutlich gemacht, an ihrem Begehren auch hinsichtlich des Entlastungsbetrages ab Januar 2018 festzuhalten, auch wenn ihr entsprechende Aufwendungen erst ab Februar 2019 entstanden sind (Bl. 351 der Akte S 8 P 595/19).

3. Die Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg. Das SG hat „die Klage“ – richtig: die Klagen – zu Recht abgewiesen. Die Klägerin hat weder Anspruch auf Gewährung von Pflegegeld nach Pflegegrad 2 im Zeitraum vom 30. Dezember 2017 bis 31. Juli 2020 (dazu a) noch auf Auszahlung des Entlastungsbetrages für den Zeitraum vom 1. Januar bis 30. September 2018 (dazu b).

a) Der Senat vermag nicht festzustellen, dass die Klägerin im Zeitraum vom 30. Dezember 2017 bis 31. Juli 2020 die Voraussetzungen für Pflegegeld nach Pflegegrad 2 erfüllte.

aa) Anspruchsgrundlage für das geltend gemachte Pflegegeld ist § 192 Abs. 6 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) in Verbindung mit dem geschlossenen Pflegeversicherungsvertrag und den darin einbezogenen Allgemeinen Versicherungsbedingungen für die private Pflegeversicherung, insbesondere dem Bedingungsteil Musterbedingungen für die private Pflegepflichtversicherung (MB/PPV) in der bei Antragstellung geltenden Fassung (BSG, Urteil vom 25. November 2015 – B 3 P 3/14 R – juris, Rn. 11), hier also in der ab dem 1. Januar 2017 geltenden Fassung. Danach leistet der Versicherer im Versicherungsfall im vertraglichem Umfang Ersatz von Aufwendungen für Pflege oder ein Pflegegeld (§ 1 Abs. 1 Satz 1 MB/PPV). Versicherungsfall ist die Pflegebedürftigkeit der versicherten Person (§ 1 Abs. 2 MB/PPV). Gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 MB/PPV erhält der Versicherungsnehmer die Leistungen auf Antrag. Die Leistungen werden ab Antragstellung erbracht, frühestens jedoch von dem Zeitpunkt an, in dem die Anspruchsvoraussetzungen vorliegen (Satz 2).

Nach § 1 Abs. 2 Satz 2 bis 4 MB/PVV sind Personen dann pflegebedürftig, wenn sie gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten aufweisen und deshalb der Hilfe durch andere bedürfen. Es muss sich um Personen handeln, die körperliche, kognitive oder psychische Beeinträchtigungen oder gesundheitlich bedingte Belastungen oder Anforderungen nicht selbständig kompensieren oder bewältigen können. Die Pflegebedürftigkeit muss auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, und mit mindestens der in Absatz 6 festgelegten Schwere bestehen.

Maßgeblich für das Vorliegen von gesundheitlich bedingten Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten sind nach § 1 Abs. 3 MB/PVV die in den folgenden sechs Bereichen genannten pflegefachlich begründeten Kriterien:
1. Mobilität: Positionswechsel im Bett, Halten einer stabilen Sitzposition, Umsetzen, Fortbewegen innerhalb des Wohnbereichs, Treppensteigen;
2. kognitive und kommunikative Fähigkeiten: Erkennen von Personen aus dem näheren Umfeld, örtliche Orientierung, zeitliche Orientierung, Erinnern an wesentliche Ereignisse oder Beobachtungen, Steuern von mehrschrittigen Alltagshandlungen, Treffen von Entscheidungen im Alltagsleben, Verstehen von Sachverhalten und Informationen, Erkennen von Risiken und Gefahren, Mitteilen von elementaren Bedürfnissen, Verstehen von Aufforderungen, Beteiligen an einem Gespräch;
3. Verhaltensweisen und psychische Problemlagen: motorisch geprägte Verhaltensauffälligkeiten, nächtliche Unruhe, selbstschädigendes und autoaggressives Verhalten, Beschädigen von Gegenständen, physisch aggressives Verhalten gegenüber anderen Personen, verbale Aggression, andere pflegerelevante vokale Auffälligkeiten, Abwehr pflegerischer und anderer unterstützender Maßnahmen, Wahnvorstellungen, Ängste, Antriebslosigkeit bei depressiver Stimmungslage, sozial inadäquate Verhaltensweisen, sonstige pflegerelevante inadäquate Handlungen;
4. Selbstversorgung: Waschen des vorderen Oberkörpers, Körperpflege im Bereich des Kopfes, Waschen des Intimbereichs, Duschen und Baden einschließlich Waschen der Haare, An- und Auskleiden des Oberkörpers, An- und Auskleiden des Unterkörpers, mundgerechtes Zubereiten der Nahrung und Eingießen von Getränken, Essen, Trinken, Benutzen einer Toilette oder eines Toilettenstuhls, Bewältigen der Folgen einer Harninkontinenz und Umgang mit Dauerkatheter und Urostoma, Bewältigen der Folgen einer Stuhlinkontinenz und Umgang mit Stoma, Ernährung parenteral oder über Sonde, Bestehen gravierender Probleme bei der Nahrungsaufnahme bei Kindern bis zu 18 Monaten, die einen außergewöhnlich pflegeintensiven Hilfebedarf auslösen;
5. Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen in Bezug auf: a) Medikation, Injektionen, Versorgung intravenöser Zugänge, Absaugen und Sauerstoffgabe, Einreibungen sowie Kälte- und Wärmeanwendungen, Messung und Deutung von Körperzuständen, körpernahe Hilfsmittel, b) Verbandswechsel und Wundversorgung, Versorgung mit Stoma, regelmäßige Einmalkatheterisierung und Nutzung von Abführmethoden, Therapiemaßnahmen in häuslicher Umgebung, c) zeit- und technikintensive Maßnahmen in häuslicher Umgebung, Arztbesuche, Besuche anderer medizinischer oder therapeutischer Einrichtungen, zeitlich ausgedehnte Besuche medizinischer oder therapeutischer Einrichtungen, Besuch von Einrichtungen zur Frühförderung bei Kindern sowie d) auf das Einhalten einer Diät oder anderer krankheits- oder therapiebedingter Verhaltensvorschriften;
6. Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte: Gestaltung des Tagesablaufs und Anpassung an Veränderungen, Ruhen und Schlafen, Sichbeschäftigen, Vornehmen von in die Zukunft gerichteten Planungen, Interaktion mit Personen im direkten Kontakt, Kontaktpflege zu Personen außerhalb des direkten Umfelds.

Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten in den Bereichen der Haushaltsführung und der außerhäuslichen Aktivitäten werden nicht zusätzlich berücksichtigt, sondern fließen in die Ermittlung des Grades der Pflegebedürftigkeit ein, soweit sie in den oben genannten Bereichen abgebildet sind. Darüberhinausgehende Beeinträchtigungen in diesen beiden Bereichen wirken sich mithin nicht auf die Bestimmung des Pflegegrades aus. Sowohl die Auflistung der sechs Pflegebereiche als auch die zu deren Konkretisierung aufgeführten Pflegekriterien bilden einen abschließenden Katalog, der nicht um – vermeintlich fehlende – zusätzliche Kriterien oder gar Bereiche ergänzt werden kann (Meßling/Weiß, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XI, 4. Aufl., Stand: September 2024, § 14 Rn. 130). Inhaltlich erfahren die Pflegekriterien eine nähere Bestimmung durch die auf Grundlage des § 17 Abs. 1 SGB XI mit Wirkung vom 1. Januar 2017 vom Spitzenverband Bund der Pflegekassen erlassenen Richtlinien zum Verfahren der Feststellung von Pflegebedürftigkeit sowie zur pflegefachlichen Konkretisierung der Inhalte des Begutachtungsinstruments nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch (Begutachtungs-Richtlinien – BRi) vom 15. April 2016, später geändert durch Beschluss vom 22. März 2021 (dort insbesondere Ziffern 4.8.3 und 4.9). Soweit sich diese untergesetzlichen Regelungen innerhalb des durch Gesetz und Verfassung vorgegebenen Rahmens halten, sind sie als Konkretisierung des Gesetzes zur Vermeidung von Ungleichbehandlungen zu beachten (Meßling, a.a.O., § 14 Rn. 97 m.w.N.; zum alten Recht vgl. BSG, Urteil vom 19. Februar 1998 – B 3 P 7/97 R – juris, Rn. 17; BSG, Urteil vom 13. Mai 2004 – B 3 P 7/03 R – juris, Rn. 32 m.w.N.; BSG, Urteil vom 6. Februar 2006 – B 3 P 26/05 B – juris, Rn. 8). Die BRi sind gemäß § 23 Abs. 6 Nr. 1 SGB XI auch bei privaten Pflegeversicherungen anzuwenden (Senatsurteil vom 15. Mai 2023 – L 4 P 132/22 – juris, Rn. 38 m.w.N.; Roller, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XI, a.a.O., § 17 Rn. 74).

Nach § 1 Abs. 4 MB/PPV (vgl. § 15 Abs. 1 SGB XI) erhalten Pflegebedürftige nach der Schwere der Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten einen Grad der Pflegebedürftigkeit (Pflegegrad). Der Pflegegrad wird mit Hilfe eines pflegefachlich begründeten Begutachtungsinstruments ermittelt, wobei dieses in sechs Module, entsprechend den oben genannten Bereichen, gegliedert ist. Die Kriterien der einzelnen Module sind in Kategorien unterteilt, denen Einzelpunkte zugeordnet werden. Die Kategorien stellen die in ihnen zum Ausdruck kommenden verschiedenen Schweregrade der Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten dar. Die Einzelpunkte in den jeweiligen Modulen werden sodann addiert und einem jeweiligen Punktbereich zugeordnet, aus dem sich die gewichteten Punkte ergeben. Insgesamt wird für die Beurteilung des Pflegegrades die Mobilität mit 10 Prozent, die kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten sowie Verhaltensweisen und psychische Problemlagen zusammen mit 15 Prozent, die Selbstversorgung mit 40 Prozent, die Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen mit 20 Prozent und die Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte mit 15 Prozent gewichtet (§ 1 Abs. 5 MB/PPV; § 15 Abs. 2 Satz 8 SGB XI).

Auf der Basis der erreichten Gesamtpunkte sind pflegebedürftige Personen in einen der nachfolgenden Pflegegrade einzuordnen: ab 12,5 bis unter 27 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 1: geringe Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten, ab 27 bis unter 47,5 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 2: erhebliche Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten, ab 47,5 bis unter 70 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 3: schwere Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten, ab 70 bis unter 90 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 4: schwerste Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten, ab 90 bis 100 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 5: schwerste Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten mit besonderen Anforderungen an die pflegerische Versorgung (§ 1 Abs. 6 MB/PPV; § 15 Abs. 3 Satz 4 SGB XI).

bb) Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens kann sich der Senat nicht mit der erforderlichen Sicherheit davon überzeugen, dass der pflegerische Gesamthilfebedarf der Klägerin im streitbefangenen Zeitraum mindestens 27 gewichtete Punkte erreichte und damit die Voraussetzungen des Pflegegrads 2 erfüllt waren. Der Senat stützt sich bei der Feststellung des Pflegebedarfs zunächst auf die M1-Gutachten von W1 und U1. M1-Gutachten sind entsprechend ihrer Überzeugungskraft im Verfahren vor den Sozialgerichten uneingeschränkt verwertbar. Grundsätzliche Zweifel an der Objektivität und Unbefangenheit der Gutachter der M1- bestehen nicht (BSG, Urteil vom 22. April 2015 – B 3 P 8/13 R – juris, Rn. 29). Danach betrug der pflegerische Gesamthilfebedarf der Klägerin 16,25 gewichtete Punkte, wie dem Gutachten von U1 zu entnehmen ist. Hinsichtlich des konkreten Pflegebedarfs in den einzelnen Modulen und bzgl. der jeweiligen Pflege-Items wird auf die Darstellung des genannten Gutachtens im Tatbestand Bezug genommen. Dabei geht der Senat zugunsten der Klägerin davon aus, dass der von U1 berücksichtigte Hilfebedarf in Modul 3 wegen häufiger Antriebslosigkeit bei depressiver Stimmungslage bereits ab Antragstellung vorlag. Denn den von der Klägerin vorgelegten medizinischen Unterlagen sowie den im sozialgerichtlichen Verfahren eingeholten Auskünften der behandelnden Ärzte ist zu entnehmen, dass eine – auch ärztlich behandelte – depressive Erkrankung jedenfalls bereits seit Juli 2017 vorlag. So beschrieb insbesondere S1 ausdrücklich eine Depression mit gedrückter Stimmung und reduziertem Antrieb. Dies ist letztlich zwischen den Beteiligten auch nicht mehr streitig. Vielmehr hatte die Beklagte bereits im erstinstanzlichen Verfahren anerkannt, dass dieser Hilfebedarf – entsprechend Pflegegrad 1 – bereits seit Antragstellung besteht. Weitergehende Hilfebedarfe über die von W1 und insbesondere U1 beschriebenen hinaus lassen sich hingegen nicht mit der erforderlichen Sicherheit feststellen.

(1) In Modul 1 (Mobilität) ergab sich kein relevanter Hilfebedarf. Zwar bestanden Erkrankungen mit Auswirkungen auf die Gehfähigkeit. So beschreibt H1 eine Polyneuropathie mit Ataxie und Gangstörung. Diese wurde in den M1-Gutachten jedoch bereits berücksichtigt. Trotz dieser Gesundheitsstörungen war es der Klägerin nach den dortigen Feststellungen noch möglich, mit Abstützen an Möbeln oder Hilfsmitteln ausreichend sicher selbständig zu stehen und innerhalb der Wohnung frei zu gehen. Dies korreliert mit den Angaben der Klägerin, insbesondere der Schilderung, dass sie (außerhalb der Wohnung) den Weg vom Pkw zur Arztpraxis – teils gestützt auf den mitgeführten Trolley – eigenständig zurücklegen konnte. Auch das Treppensteigen gelang ihr mit Festhalten am Handlauf selbständig ausreichend sicher. Dies entspricht ebenfalls den eigenen Angaben der Klägerin.

(2) In Modul 2 (kognitive und kommunikative Fähigkeiten) ist den Gutachten von W1 und U1 kein relevanter Hilfebedarf zu entnehmen. H1 gibt zwar Konzentrationsstörungen und Vergesslichkeit an, allerdings ohne Beschreibung des Ausmaßes oder der Befunde, auf die er diese Angabe stützt. Soweit die Klägerin im Klageverfahren angegeben hat, ihre Pflegeperson müsse ihr bei der Suche nach verlegten Gegenständen helfen, lässt dies keinen relevanten, in den Pflege-Items des Moduls 2 erfassten Hilfebedarf erkennen. Ihr Vortrag, im Gespräch öfters den Faden zu verlieren und daher kein normales längeres Gespräch führen zu können, wäre nach Ziff. F.4.2.11 BRi „Beteiligen an einem Gespräch“ als Fähigkeit größtenteils vorhanden zu bewerten (1 Einzelpunkt nach Anlage 1 zu § 15 SGB XI, 0 gewichtete Punkte nach Anlage 2).

(3) Wie oben dargelegt, berücksichtigt der Senat in Modul 3 (Verhaltensweisen und psychische Problemlagen) den von U1 beschriebenen Hilfebedarf wegen selten auftretender verbaler Aggressionen (1 Einzelpunkt) und einer häufigen Antriebslosigkeit bei depressiver Stimmungslage (3 Einzelpunkte) von 7,5 gewichteten Punkten. Weitergehende Hilfebedarfe in diesem Modul vermag der Senat nicht sicher festzustellen. Häufigere Hilfebedarfe bei den bereits berücksichtigten Problemlagen sind weder dem Vorbringen der Klägerin noch den medizinischen Unterlagen einschließlich der Auskünfte der sachverständigen Zeugen zu entnehmen. Hinsichtlich der von der Klägerin angeführten Ängste kann für den streitbefangenen Zeitraum kein Hilfebedarf mit ausreichender Sicherheit festgestellt werden. Die Klägerin hat zwar ausführlich beschrieben, worin die angeführten Ängste bestehen. Aus ihrem Vorbringen ergibt sich diesbezüglich aber kein für die Pflegegradbewertung maßgeblicher personeller Hilfebedarf. Der Auskunft und den weiteren Bescheinigungen von H1 ist lediglich die Angabe von „Angstzuständen“ zu entnehmen, die er aufgrund der Angaben der Klägerin selbst dem Inhalt nach näher beschreibt. Eigene Befunderhebungen oder Feststellungen sind dem nicht zu entnehmen. S1 hat hingegen in seiner Auskunft als sachverständiger Zeuge Ängste weder beschrieben noch eine entsprechende Diagnose gestellt. Auch eine diesbezügliche Behandlung wurde nicht angegeben. Ein relevanter Bedarf an personeller Unterstützung (vgl. Ziff. F4.3 BRi) wegen der angeführten Ängste lässt sich mithin auch den ärztlichen Stellungnahmen und Unterlagen nicht entnehmen. Das Herstellen einer angstfreien Atmosphäre durch bloße Anwesenheit einer weiteren Person (ohne deren aktive personelle Unterstützung) wird hier nicht bewertet (Ziff. F4.3.10 BRi).

(4) In Modul 4 (Selbstversorgung) ist der in den M1-Gutachten beschriebene Hilfebedarf beim Waschen des Intimbereichs und beim Duschen und Baden einschließlich Waschen der Haare (jeweils überwiegend selbständig, 2 Einzelpunkte) zu berücksichtigen, was nach Anlage 2 zu § 15 SGB XI 0 gewichtete Punkte ergibt. Die darüberhinausgehend von der Klägerin geltend gemachten Hilfebedarfe sind nicht zur Überzeugung des Senats nachgewiesen. Ein Hilfebedarf beim Öffnen von Flaschen und Gläsern sowie beim Brotschneiden, den die Klägerin mit einem „schnappenden Daumen“ begründet, war nach den von W1 und U1 getroffenen Feststellungen nicht gegeben. Ausdrücklich wurde in beiden Gutachten eine Beeinträchtigung an den oberen Extremitäten sowohl hinsichtlich der groben Kraft als auch der Feinmotorik verneint. Konsequent wurde demgemäß auch das mundgerechte Zubereiten der Nahrung und Eingießen von Getränken (Pflege-Item 4.7) jeweils als selbständig gewertet. H1 hat den von der Klägerin geltend gemachten Hilfebedarf zwar angeführt, offenbar jedoch wiederum lediglich gestützt auf deren Angaben. Denn einen solchen Hilfebedarf stützende Befunde sind seinen Auskünften und Bescheinigungen nicht zu entnehmen. M2 hat zwar einen „schnappenden Finger“ als Diagnose angegeben, aber keine relevante Einschränkung von Kraft oder Feinmotorik beschrieben. Die Klägerin trägt des Weiteren einen Hilfebedarf beim Toilettengang (Pflege-Item 4.10) vor. Dieser bestehe seit Juni oder Juli 2018 aufgrund vermehrter Durchfälle bei der Intimhygiene. H1 gab einen solchen Hilfebedarf erstmals in seiner Bescheinigung vom 17. Juni 2019 an. Darin führte er aber nur aus, dass nach den Laborbefunden eine vermehrte Durchfallproblematik nachvollziehbar sei, nannte aber keine konkreten Befunde, aus denen sich die Notwendigkeit einer personellen Hilfe ergäbe. Auch aus den übrigen medizinischen Unterlagen kann solches nicht mit ausreichender Sicherheit entnommen werden. Insbesondere kann nicht von der Notwendigkeit einer Unterstützung beim Waschen des Intimbereichs auf einen solchen Hilfebedarf bei der Intimhygiene beim Toilettengang geschlossen werden. Der Hilfebedarf beim Waschen des Intimbereichs ist aber bereits berücksichtigt. U1 beschrieb aufgrund seiner im November 2018 – und damit nach dem geltend gemachten Eintritt – durchgeführten Begutachtung keinen solchen Hilfebedarf. Eine Abklärung durch eine Begutachtung im gerichtlichen Verfahren konnte nicht erfolgen. Ein Hilfebedarf bei Pflege-Item 4.11 (Bewältigen der Folgen einer Harninkontinenz) kann nicht berücksichtigt werden. Dieser setzt eine überwiegende Inkontinenz voraus (Anlage 1 zu § 15 SGB XI), die mehrmals täglich unwillkürliche Harnabgänge erfordert; ein maximal einmal täglich unwillkürlicher Harnabgang oder eine Tröpfcheninkontinenz (überwiegend kontinent) genügt insoweit nicht (Ziff. F4.4 BRi). Nach den Feststellungen in den M1- -Gutachten lag bei der Klägerin im streitbefangenen Zeitraum eine überwiegende Kontinenz vor. Abweichendes ergibt sich auch nicht aus den vorliegenden medizinischen Unterlagen.

(5) In Modul 5 (Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen) bestand im streitbefangenen Zeitraum ein personeller Hilfebedarf beim Ausziehen der Kompressionsstrümpfe (einmal täglich, 1 Einzelpunkt). Ein Hilfebedarf bei der Medikation bestand nicht. Das berücksichtigungsfähige Ausmaß der Hilfestellung kann von einmal wöchentlichem Stellen der Medikamente im Wochendispenser bis zu mehrfach täglicher Einzelgabe differieren (Ziff. F4.5.1 BRi). Das von der Klägerin geltend gemachte Besorgen der Medikamente ist nicht erfasst. Hinsichtlich des vorgetragenen Hilfebedarfs bei den Fahrten zu weiter entfernt liegenden Fachärzten kann der Senat offenlassen, ob diese tatsächlich unter Pflege-Item 5.15 – nach Anlage 1 zu § 15 SGB XI: Zeitlich ausgedehnte Besuche „anderer“ medizinischer oder therapeutischer Einrichtungen (länger als drei Stunden) – fallen oder Pflege-Item 5.13 – Arztbesuche – zuzuordnen sind. Bei Zuordnung zu Pflege-Item 5.15 wäre die monatliche Häufigkeit mit 2 zu multiplizieren, um die Zwischenpunkte zu ermitteln, deren Summe dann ihrerseits die Einzelpunkte ergibt. Die vorgelegte Terminaufstellung Januar bis Juli 2018 zeigt eine ganz unterschiedliche Häufigkeit. Die Klägerin gab eine durchschnittliche Häufigkeit solcher ausgedehnten Arztbesuche mit dreimal monatlich an. H1 spricht von durchschnittlich 3 bis 5 monatlich. Dies im Sinne einer Dauerhaftigkeit zugrunde gelegt, ergibt nach Anlage 1 maximal 10 Zwischenpunkte, was zu 2 Einzelpunkten führte. Damit hätte die Klägerin in diesem Modul 3 Einzelpunkte und 10 gewichtete Punkte, also 5 gewichtete Punkte mehr als bisher erreicht. Unter Berücksichtigung des bereits festgestellten pflegerischen Gesamthilfebedarfs von 16,25 gewichteten Punkten ergäbe sich ein neuer Hilfebedarf von insgesamt 21,25 gewichteten Punkten, mit dem Pflegegrad 2 nicht erreicht würde. Gegen Ende des streitbefangenen Zeitraums bestand ein solcher Hilfebedarf rein tatsächlich nicht mehr. Denn die Klägerin suchte diese Ärzte nach Beginn der Corona-Pandemie nicht mehr auf. Dies entnimmt der Senat der entsprechenden Angabe von H1. Hilfebedarf beim Besuch nahegelegener Arztpraxen bestand nicht, da die Klägerin diese – insoweit unstreitig – eigenständig mit dem eigenen Pkw erreichte.

(6) In Modul 6 bestand wegen eines sozialen Rückzugs ein Hilfebedarf bei der Kontaktpflege zu Personen außerhalb des direkten Umfeldes (überwiegend selbständig, 1 Einzelpunkt, 3,75 gewichtete Punkte). Dies entnimmt der Senat den Gutachten von W1 und U1. Weitergehende Hilfebedarfe in diesem Modul sind nicht ersichtlich und sind insbesondere nicht den vorliegenden medizinischen Unterlagen zu entnehmen.

(7) Eine weitere Abklärung des pflegerischen Hilfebedarfs der Klägerin war nicht möglich. Eine zeitnahe Begutachtung zum streitbefangenen Zeitraum kam trotz des eingeleiteten Gutachtensauftrags durch das SG aufgrund der Verzögerung und abschließenden Weigerung der Klägerin nicht zustande. Die behandelnden Ärzte der Klägerin hat das SG als sachverständige Zeugen befragt. Gleichwohl genügten deren Auskünfte aus den oben dargelegten Gründen nicht, die behaupteten Hilfebedarfe mit der notwendigen Sicherheit festzustellen. Ein Gutachten nach Aktenlage war nicht zweckmäßig. Angesichts der nicht ausreichenden Befundlage und Tatsachenklärung hätte es gerade einer Erhebung der aktuellen tatsächlichen Funktionsbeeinträchtigungen und Hilfebedarfe im häuslichen Umfeld bedurft. Einer Begutachtung nach Aktenlage fehlte es an einer ausreichenden Tatsachengrundlage. Das M1- -Gutachten vom 24. September 2020 ist nicht geeignet, diesen Mangel zu beseitigen, und kann keine ausreichende Grundlage für eine Überzeugungsbildung für den streitbefangenen Zeitraum bieten. Dieses beruht maßgeblich auf den eigenen Angaben der Klägerin sowie der ärztlichen Bescheinigung von H1 von Juli 2020. Aus den bereits oben genannten Gründen ist beides – insbesondere wegen des Fehlens tatsächlicher Befunde und Feststellungen – nicht ausreichend, um die behaupteten Hilfebedarfe zur Überzeugung des Senats feststellen zu können. Des Weiteren misst sich dieses M1- -Gutachten – auch nach den genannten Grundlagen – selbst keine Relevanz für den davorliegenden, hier streitbefangenen Zeitraum zu.

In dieser Situation ist auch im sozialgerichtlichen Verfahren eine Beweislastentscheidung zu treffen (BSG, Urteil vom 22. April 2015 – B 3 P 8/13 R – juris, Rn. 36). Mangels gesetzlicher spezieller gesetzlicher Regelungen gilt der Grundsatz, dass jeder im Rahmen des anzuwendenden materiellen Rechts die Beweislast für die Tatsachen trägt, die den von ihm geltend gemachten Anspruch begründen (BSG, Urteil vom 14. Oktober 2014 – B 1 KR 27/13 R – juris, Rn. 18 m.w.N.; B. Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl. 2023, § 103 Rn. 19a m.w.N.). Vorliegend trägt mithin die Klägerin die objektive Beweislast für die Voraussetzungen des von ihr geltend gemachten Pflegegrades 2, also das Vorliegen eines pflegerischen Gesamthilfebedarfs von mindestens 27 gewichteten Punkten aufgrund entsprechender einzelner Hilfebedarfe. Diese Beweislastverteilung folgt bereits aus dem materiellen Leistungsrecht. Es kommt daher vorliegend nicht darauf an, ob die Klägerin ihrer prozessualen Mitwirkungspflicht ausreichend nachgekommen ist oder ob sie die vom SG veranlasste Begutachtung durch einen gerichtlichen Sachverständigen aus wichtigem Grund abgelehnt hat. Auch in Zeiten der coronabedingten Einschränkungen des täglichen Lebens wurde das Grundprinzip der objektiven Beweislast im sozialmedizinischen Gerichtsverfahren nicht außer Kraft gesetzt (Schleswig-Holsteinisches LSG, Urteil vom 20. März 2023 – L 7 R 141/20 – juris, Rn. 16, 32).

Mit einem pflegerischen Gesamthilfebedarf im streitbefangenen Zeitraum von höchstens 21,25 gewichteten Punkten erfüllte die Klägerin die Voraussetzungen für die Gewährung von Pflegegeld nach Pflegegrad 2 nicht.

b) Das SG hat auch die Klage auf Gewährung des Entlastungsbetrages für den Zeitraum vom 1. Januar bis 30. September 2018 zu Recht abgewiesen. Das SG hat ausführlich dargelegt, dass ein Zahlungsanspruch insoweit ausscheidet, weil der Klägerin vor Februar 2019 keine erstattungsfähigen Aufwendungen i.S. des § 4 Abschnitt H Ziff. 16 MB/PVV i.V.m. Ziff. 11 der Tarifbestimmungen zu Tarif PV (mit Tarifstufe PVB) und § 45a SGB XI entstanden sind. Insoweit nimmt der Senat nach eigener Prüfung auf die zutreffenden Ausführungen des SG im angefochtenen Gerichtsbescheid vom 26. Januar 2021 Bezug (§ 153 Abs. 2 SGG). Ergänzend ist lediglich darauf hinzuweisen, dass der Entlastungsbetrag ausdrücklich als Anspruch auf Erstattung „zweckgebundener Aufwendungen“ ausgestaltet ist. Eine Auszahlung als bloße Geldleistung unabhängig von solchen Aufwendungen ist mithin ausgeschlossen.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 und Absatz 4 SGG.

5. Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (vgl. § 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.



 

Rechtskraft
Aus
Saved