L 11 SB 24/23

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
11.
1. Instanz
SG Potsdam (BRB)
Aktenzeichen
S 34 SB 97/20
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 11 SB 24/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
  1. Ein lokalisiertes niedrigmalignes Non-Hodgkin-Lymphom ist nach Teil B Nr. 16.3.1 der Anlage zu § 2 VersMedV nach Vollremission (Beseitigung des Tumors) für die Dauer von drei Jahren (Heilungsbewährung) mit einem GdB von 50 zu bewerten. Dies gilt erst Recht, wenn eine Vollremission nie eingetreten ist.
  2. In Herabsetzungsverfahren sind die für das Schwerbehindertenrecht zuständigen Behörden beweispflichtig für die die GdB-Absenkung rechtfertigende wesentliche Änderung der Verhältnisse (vgl. nur BSG, Urteil vom 6. Dezember 1989 - 9 RVs 3/89, juris).

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 23. November 2022 wird zurückgewiesen.

 

Der Beklagte hat dem Kläger dessen außergerichtliche Kosten für den gesamten Rechtsstreit zu erstatten.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

 

Tatbestand

 

Der Kläger wendet sich gegen eine Absenkung seines Grades der Behinderung (GdB) von 50 auf 30.

 

Bei dem 1958 geborene Kläger wurde im Mai 2016 ein follikuläres Non-Hodgkin-Lymphom festgestellt, das mittels Chemotherapie behandelt wurde. Der Beklagte stellte mit Bescheid vom 24. August 2016 den GdB wegen eines chronischen Non-Hodgkin-Leidens (Einzel-GdB 50) und einer Funktionsstörung der Wirbelsäule (Einzel-GdB 10) mit 50 fest.

 

Im Auszug aus den medizinischen Daten des Medizinischen Versorgungszentrums  wurde nach drei Zyklen Chemotherapie für August 2016 eine gute partielle Remission von über 50% angegeben. Nach sechs Zyklen wurde für November 2016 eine weitere Remission um ca. 50%, der Restbefund mit 4,5 cm * 1,5 cm angegeben. Dieser Befund wurde in Folgeuntersuchungen bestätigt, für Oktober 2020 ist „SD“ für „stable Disease“ vermerkt.

 

Anfang 2019 leitete der Beklagte eine Nachprüfung von Amts wegen ein. Er ermittelte medizinisch und stellte nach Anhörung mit Schreiben vom 27. Mai 2019 mit Bescheid vom 8. Juli 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Februar 2020 unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 24. August 2016 ab Bekanntgabe des Bescheides den GdB wegen eines chronischen Non-Hodgkin-Leidens (Einzel-GdB 30), einer psychischen Minderbelastbarkeit mit funktionellen Organbeschwerden (Einzel-GdB 10) und einer Funktionsstörung der Wirbelsäule (Einzel-GdB 10) mit 30 fest.

 

Hiergegen hat der Kläger am 17. März 2020 Klage erhoben.

 

Das Sozialgericht hat Befundberichte bei den behandelnden Ärzten eingeholt. Im Befundbericht des Medizinischen Versorgungszentrums  (Ärztin U) ist als Diagnose unter anderem ein Non-Hodgkin-Lymphom in partieller Remission angegeben worden. In einem weiteren Befundbericht hat sie auf ausdrückliche Nachfrage des Sozialgerichts angegeben, es liege ein anderes niedrigmalignes Non-Hodgkin-Lymphom bei follikulärem Lymphom Grad 1 bis 2 vor. Es handele sich um ein lokalisiertes niedrigmalignes Lymphom. Dieses sei mit geringen Auswirkungen verbunden. In einem beigefügten Arztbrief des C für Tumormedizin vom 17. Mai 2021 ist dargelegt worden, seit der Chemotherapie im November 2016 werde der Kläger nach dem „watch & wait“-Konzept beobachtet. Die radiologischen Kollegen hätten einen konstanten Befund gesehen.

 

Das Sozialgericht hat bei dem Psychiater Dr. B ein psychiatrisch-psychotherapeutisches Gutachten vom 26. Juli 2022 eingeholt, das dieser nach ambulanter Untersuchung des Klägers am 11. Juni 2022 erstellt hat und in dem er zu der Einschätzung gelangt ist, der Gesamt-GdB betrage 30. Das seelische Leiden sei mit einem „schwachen“ Einzel-GdB von 20 zu bewerten. Unter Einbeziehung des dem Kläger aktenkundig zugebilligten Einzel-GdB von 30 für die Non-Hodgkin-Erkrankung und des Einzel-GdB von 10 für das Wirbelsäulenleiden sei ein Gesamt-GdB von 30 angemessen.

 

Das Sozialgericht hat durch Urteil vom 23. November 2022 den Bescheid des Beklagten vom 8. Juli 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Februar 2020 aufgehoben. Die zulässige Klage sei auch begründet. Die Prüfung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung des Beklagten erstrecke sich auf die Zeit vom 11. Juli 2019 bis zum 28. Februar 2020. Im Vergleich zu den Verhältnissen, die maßgeblich gewesen seien für die Feststellung mit Bescheid vom 24. August 2016, sei es zu keiner wesentlichen Änderung gekommen, sodass der GdB nicht herabzusetzen sei. Im hier in Betracht zu ziehenden Zeitraum betrage der GdB weiterhin 50. Zwar stelle es eine Veränderung dar, dass während des hier zu betrachtenden Zeitraums im Vergleich zum Zeitpunkt der ersten Feststellung keine Chemotherapie durchgeführt worden sei. Auf die fehlende Behandlung des Non-Hodgkin-Lymphoms des Klägers abzustellen und deswegen den GdB herabzusetzen, halte das Gericht jedoch für nicht zutreffend. Unzweifelhaft liege bei dem Kläger kein hochmalignes Non-Hodgkin-Lymphom vor, was die behandelnde Ärztin auch bestätigt habe. Daher richte sich der GdB nach den Vorgaben in Teil B Nr. 16.3.1 der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV). Dort werde für die chronische lymphatische Leukämie und andere generalisierte niedrigmaligne Non-Hodgkin-Lymphome         

 

  • mit geringen Auswirkungen (keine wesentlichen Beschwerden, keine Allgemeinsymptome, keine Behandlungsbedürftigkeit, keine wesentliche Progredienz)   ein GdB von 30 bis 40,
  • mit mäßigen Auswirkungen (Behandlungsbedürftigkeit) ein GdB von 50 bis 70 und
  • mit starken Auswirkungen, starke Progredienz (z. B. schwere Anämie, ausgeprägte Thrombozytopenie, rezidivierende Infektionen, starke Milzvergrößerung) ein GdB von 80 bis 100

 

angenommen. Lokalisierte niedrigmaligne Non-Hodgkin-Lymphome seien nach Vollremission (Beseitigung des Tumors) für die Dauer von drei Jahren (Heilungsbewährung) mit einem GdB von 50 zu bewerten.

 

Ein GdB-Rahmen von 30 bis 40 wäre nur eröffnet, wenn es sich um eine chronische lymphatische Leukämie oder ein anderes generalisiertes niedrigmalignes Non-Hodgkin-Lymphom handeln würde. Ein generalisiertes Non-Hodgkin-Lymphom liege aber nicht vor. Die behandelnde Ärztin habe das bei dem Kläger vorliegende Lymphom als follikuläres Non-Hodgkin-Lymphom bezeichnet und ausdrücklich die Frage nach dem Vorliegen eines lokalisierten niedrigmalignen Non-Hodgkin-Lymphoms bejaht. Soweit die Beklagtenvertreterin in der mündlichen Verhandlung auf ein Beiratsprotokoll von November 2005 verwiesen habe, wonach beim Non-Hodgkin-Lymphom bei erreichter klinischer Tumorfreiheit im Einzelfall eine Heilungsbewährung auch bei Non-Hodgkin-Lymphom analog der Heilungsbewährung bei akuter Leukämie möglich sei, sei dieser Beiratsbeschluss hier nicht einschlägig, weil kein generalisiertes Non-Hodgkin-Lymphom vorliege. Vielmehr ergebe sich aus einem Beiratsbeschluss von November 1997, dass vor und während einer Behandlung des lokalisierten niedrigmalignen Non-Hodgkin-Lymphoms der GdB nicht niedriger beurteilt werden könne, als nach Erreichen der Vollremission, sodass der GdB bis zum Ablauf der Heilungsbewährung wenigstens 50 betragen müsse. Da bei dem Kläger angesichts des durchgehend vorhandenen Lymphomrests keine Vollremission eingetreten sei, sei kein Raum für die Herabsetzung des GdB.

 

Gegen das ihm am 15. Dezember 2022 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 13. Januar 2023 Berufung eingelegt. Er meint, er habe den GdB zu Recht auf 30 abgesenkt. Im Rahmen der eingeleiteten Nachuntersuchung nach Ablauf der Heilungsbewährung sei Rezidivfreiheit (keine Beschwerden, keine weitere Behandlungsbedürftigkeit, keine wesentliche Progredienz des Lymphomrestes u. a.) festgestellt worden. Maßgeblich sei die Abgrenzung zwischen einem verbliebenen follikulären Non-Hodgkin-Lymphom (dann weiter höherer GdB) oder einem lokalisierten niedrigmalignen Non-Hodgkin-Lymphom. Nach den bildgebenden Befunden habe ein Lymphomrest vorgelegen, der nicht einem follikulären Non-Hodgkin-Lymphom zugeordnet werden könne, da histologische Befunde nicht vorlägen. Vor diesem Hintergrund erscheine die entsprechende Befundung der behandelnden Ärztin fraglich, sodass das Gericht gegebenenfalls weiteren Beweis hätte erheben müssen. Ob eine vollständige Remission erfolgt sei, könne nur über Befunderhebungen festgestellt werden. Wenn der Kläger darauf verzichte, weil die Ärzte dies ihm empfohlen hätten, könne dies nicht dazu führen, den GdB dauerhaft weiter mit 50 zu bewerten.

 

Der Senat hat bei dem Facharzt für Innere Medizin und Onkologen Dr. G ein medizinisches Gutachten vom 20. Juli 2023 eingeholt, das dieser nach ambulanter Untersuchung des Klägers erstellt hat und in dem er zu der Einschätzung gelangt ist, der GdB betrage 30, wobei hier ein chronisches niedrigmalignes Non-Hodgkin-Lymphom im Stadium 1 mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten sei. In dem schwer lesbaren Gutachten lässt sich eine Begründung im engeren Sinn für diese Einschätzung nicht finden.

 

Auf Antrag des Klägers nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) hat der Senat ein Gutachten bei dem Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie Dr. L vom 4. Februar 2025 eingeholt, das dieser nach ambulanter Untersuchung des Klägers am 15. Juli 2024 erstellt hat und in dem er zu der Einschätzung gelangt ist, der GdB sei mit 50 zu bewerten. Hier sei das Non-Hodgkin-Lymphom (follikuläres Lymphom abdominell) mit einem Einzel-GdB von 50 zu bewerten. Der Einschätzung des Sachverständigen Dr. G sei nicht zu folgen, denn eine Vollremission des bei dem Kläger vorliegenden Non-Hodgkin-Lymphoms sei zu keinem Zeitpunkt eingetreten. Nach der Bildgebung sei der Tumor bei dem Kläger im gesamten Verlauf nachweisbar gewesen.

 

Bei dem Kläger ist im November 2024 ein diffus großflächiges B-Zell-Lymphom festgestellt worden. Der Beklagte hat außerhalb des vorliegenden Verfahrens mit Bescheid vom 6. Februar 2025 mit Wirkung ab dem 13. November 2024 den GdB mit 100 festgestellt.

 

Auf Hinweis des Berichterstatters, wonach die Berufung des Beklagten keinen Erfolg haben dürfte, hat der Beklagte eine ärztliche Stellungnahme zu den Gerichtsakten gereicht. Der Lymphomrest könne nicht sicher einem follikulären Lymphom zugeordnet werden. Histologische Befunde lägen nicht vor. Es sei nicht eindeutig belegt worden, dass es sich um das Vorliegen eines lokalisierten niedrigmalignen Non-Hodgkin-Lymphoms handele. Beschwerden seien nicht beschrieben worden. Schwerbehindertenrechtlich würden aber gesundheitliche Beeinträchtigungen und nicht Diagnosen bewertet.

 

Der Beklagte beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 23. November 2022 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

 

Der Kläger beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie die den Kläger betreffenden Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

 

Der Senat kann ohne mündliche Verhandlung durch den Berichterstatter entscheiden, weil die Beteiligten zu dieser Entscheidungsform ihr Einverständnis erklärt haben, § 124 Abs. 2 SGG i. V. m. § 155 Abs. 4 und Abs. 3 SGG.

 

Die zulässige Berufung des Beklagten ist nicht begründet, das Urteil des Sozialgerichts zutreffend. Die der Berufung zugrunde liegende Klage ist als reine Anfechtungsklage im Sinne des § 54 Abs. 1 Satz 1 SGG zulässig. Der angegriffene Bescheid erschöpft sich in der teilweisen Aufhebung eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung (hier des Bescheides vom 24. August 2016). Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid vom 8. Juli 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Februar 2020 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

 

Rechtsgrundlage für den angefochtenen Bescheid, gegen den formelle Bedenken nicht bestehen, ist hier § 48 Abs. 1 Satz 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X). Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung im Wege einer gebundenen Entscheidung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X liegen hier nicht vor. Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides ist dabei der Zeitraum zwischen Bekanntgabe des Bescheides und des Widerspruchsbescheides (vgl. dazu eingehend Urteil des Senats vom 6. November 2014 - L 11 SB 178/10; auch Bundessozialgericht <BSG>, Beschluss vom 27. Mai 2020 - B 9 SB 67/19 B - juris), hier nach § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X zwischen dem 11. Juli 2019 und dem 28. Februar 2020.

 

Nach § 152 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung zum Zeitpunkt der Antragstellung fest. Bei der Prüfung, ob diese Voraussetzungen vorliegen, sind seit dem 1. Januar 2009 die in der Anlage zu § 2 VersMedV vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I Seite 2412) festgelegten „versorgungsmedizinischen Grundsätze“ zu beachten, die durch die Verordnungen vom 1. März 2010 (BGBl. I Seite 249), 14. Juli 2010 (BGBl. I Seite 928), vom 17. Dezember 2010 (BGBl. I Seite 2124), vom 28. Oktober 2011 (BGBl. I Seite 2153) und vom 11. Oktober 2012 (BGBl. I Seite 2122) sowie durch Gesetze vom 23. Dezember 2016 (BGBl. I Seite 3234), vom 17. Juli 2017 (BGBl. I Seite 2541) und vom 12. Dezember 2019 (BGBl. I Seite 2652) Änderungen erfahren haben.

 

Einzel-GdB sind entsprechend den genannten Grundsätzen als Grad der Behinderung in Zehnergraden zu bestimmen. Für die Bildung des Gesamt-GdB bei Vorliegen mehrerer Funktionsbeeinträchtigungen sind nach § 152 Abs. 3 SGB IX die Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander zu ermitteln, wobei sich nach Teil A Nr. 3 a) der Anlage zu § 2 VersMedV die Anwendung jeglicher Rechenmethode verbietet. Vielmehr ist zu prüfen, ob und inwieweit die Auswirkungen der einzelnen Behinderungen voneinander unabhängig sind und ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen oder ob und inwieweit sich die Auswirkungen der Behinderungen überschneiden oder gegenseitig verstärken. Dabei ist in der Regel von einer Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten Grad 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden, wobei die einzelnen Werte jedoch nicht addiert werden dürfen. Leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB-Grad von 10 bedingen, führen grundsätzlich nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung; auch bei leichten Funktionsstörungen mit einem GdB-Grad von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (Teil A Nr. 3 d) aa) – ee) der Anlage zu § 2 VersMedV).

 

Der GdB betrug auch im maßgeblichen Prüfungszeitraum jedenfalls 50. Der Senat verweist einleitend auf die in jeder Hinsicht überzeugenden Gründe der angefochtenen Entscheidung, denen er nach eigener Prüfung folgt (§ 153 Abs. 2 SGG) und denen er kaum was hinzufügen kann.

 

Beim Kläger bestand bei Erstfeststellung mit Bescheid vom 24. August 2016 wie auch im hier maßgeblichen Prüfungszeitraum ein lokalisiertes niedrigmalignes Non-Hodgkin-Lymphom, das nach Teil B Nr. 16.3.1 der Anlage zu § 2 VersMedV nach Vollremission (Beseitigung des Tumors) für die Dauer von drei Jahren (Heilungsbewährung) mit einem GdB von 50 zu bewerten ist. Diese Tumorklassifikation ist von der behandelnden Ärztin eindeutig bestätigt worden. Eine Vollremission ist nach Lage der Akten nie eingetreten, so dass im Zusammenspiel mit dem vom Sozialgericht genannten Beschluss des Ärztlichen Sachverständigenbeirats beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung vom 12./13. November 1997 der GdB im streitigen Prüfungszeitraum weiter mit 50 zu bewerten war. Die Einschätzung des Beirats wird im Übrigen auch durch einen einfachen rechtlichen „Erst-Recht-Schluss“ bestätigt: Denn wenn der GdB nach Vollremission 50 beträgt, muss dies erst Recht gelten, solange noch keine Vollremission eingetreten ist. Der Beiratsbeschluss vom 8./9. November 2005 bezieht sich auf ein generalisiertes Non-Hodgkin-Lymphom und ist schon deshalb hier nicht einschlägig. Übrigens geht auch der Beklagte ausweislich der Berufungsbegründung vom 28. März 2023 – jedenfalls mitunter - von einem lokalisierten niedrigmalignen Non-Hodgkin-Lymphom aus. Und dass insoweit keine Vollremission eingetreten ist, ergibt sich außer aus den Befunden auch aus einer gutachtlichen Stellungnahme des versorgungsärztlichen Dienstes vom 25. April 2019, nach der zwar eine gute, aber eben auch nur eine partielle Remission eingetreten ist. Der Hinweis des Beklagten, im Rahmen der eingeleiteten Nachuntersuchung nach Ablauf der Heilungsbewährung sei Rezidivfreiheit (keine Beschwerden, keine weitere Behandlungsbedürftigkeit, keine wesentliche Progredienz des Lymphomrestes u. a.) festgestellt worden, ist zum einen zirkelschlüssig, weil er eine Heilungsbewährung unterstellt, die gerade fraglich ist. Er ist zum anderen widersprüchlich, weil er von einem Lymphomrest ausgeht, der einer Vollremission entgegen steht. Der Hinweis, maßgeblich sei die Abgrenzung zwischen einem verbliebenen follikulären Non-Hodgkin-Lymphom (dann weiter höherer GdB) oder einem lokalisierten niedrigmalignen Non-Hodgkin-Lymphom, ist unzutreffend, auch im letzteren Fall ist von Heilungsbewährung erst nach Vollremission auszugehen. Der Hinweis auf die nicht eindeutige Zuordnung des Lymphomrests ist schlicht unverständlich. Bei dem Kläger ist nach der Chemotherapie eine partielle Remission festgestellt und schließlich ein dauerhafter Restbefund beschrieben worden. Soweit der Beklagte alternativ hierzu eine fokal aktivierte Arthrose oder eine Narbe in Erwägung zieht, scheint dies doch reichlich spekulativ zu sein, die behandelnden Ärzte haben sich in diese Richtung jedenfalls nicht geäußert. Der Senat hat bei der Befundlage keinen Zweifel, dass das lokalisierte niedrigmaligne Non-Hodgkin-Lymphom vorliegend nicht voll remittiert ist, eine nur partielle Remission haben die behandelnden Ärzte bestätigt. Abgesehen davon gingen etwaige Restzweifel ohnehin zu Lasten des Beklagten, der in Herabsetzungsverfahren beweispflichtig für die die GdB-Absenkung rechtfertigende wesentliche Änderung der Verhältnisse ist (vgl. nur BSG, Urteil vom 6. Dezember 1989 - 9 RVs 3/89, juris).

 

Dass, worauf der versorgungsärztliche Dienst des Beklagten grundsätzlich richtig hinweist, im Schwerbehindertenrecht gesundheitliche Beeinträchtigungen und nicht Diagnosen bewertet werden, gilt gerade für Krebserkrankungen nur eingeschränkt (vgl. auch Teil A Nr. 2 h) VersMedV).

 

Was die Sachverständigengutachten betrifft, ist einleitend darauf hinzuweisen, dass die Bemessung des GdB grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe ist. Dabei müssen die Instanzgerichte bei der Feststellung der einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen (erster Schritt) in der Regel ärztliches Fachwissen heranziehen. Bei der Bemessung der Einzel-GdB und des Gesamt-GdB kommt es indessen nach § 152 Abs. 1 Satz 5 und Abs. 3 Satz 1 SGB IX maßgeblich auf die Auswirkungen der Gesundheitsstörungen auf die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft an. Bei diesem zweiten und dritten Verfahrensschritt haben die Tatsachengerichte über die medizinisch zu beurteilenden Verhältnisse hinaus weitere Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2021 - B 9 SB 6/19 R, juris). Hier ist nach obigen Ausführungen von einem lokalisierten niedrigmalignen Non-Hodgkin-Lymphom auszugehen, dessen Bewertung sich aus Teil B Nr. 16.3.1 der Anlage zu § 2 VersMedV in Verbindung mit dem Beiratsbeschluss vom 12./13. November 1997 ergibt. Soweit Dr. G den Standpunkt des Beklagten bestätigt hat, fehlt jeder Bezug zu den versorgungsmedizinischen Grundsätzen und damit auch eine Begründung für die GdB-Bewertung. Dr. B hat die GdB-Bewertung für die Krebserkrankung lediglich übernommen und sich inhaltlich nur zu seinem psychiatrischen Fachgebiet geäußert. Dr. L hat bestätigt, dass hinsichtlich der Krebserkrankung zu keinem Zeitpunkt eine Vollremission eingetreten ist. Dieser Einschätzung ist zu folgen.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Die Revision war nicht zuzulassen, weil ein Grund hierfür gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG nicht vorliegt.

                                              

 

 

 

Rechtskraft
Aus
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