L 1 VE 21/23

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Frankfurt (HES)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 36 VE 16/18
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 1 VE 21/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze


Zur Bedeutung der konkreten Teilhabebeeinträchtigungen bei epileptischen Anfällen für die Bestimmung des Grades der Schädigungsfolgen


Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 23. Juni 2023, berichtigt durch Beschluss vom 29. Juni 2023, wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten im Berufungsverfahren zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen. 


Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Neufeststellung der anerkannten Wehrdienstbeschädigungsfolgen (WDB-Folgen) wegen Verschlimmerung des Versorgungsleidens und damit die Höherbewertung der bereits anerkannten WDB-Folge des Klägers streitig.

Der 1977 geborene Kläger war in der Zeit vom 1. Juli 1997 bis zum 28. Februar 1999 Soldat auf Zeit bei der Bundeswehr. Am 25. Mai 1998 erlitt er während der Dienstzeit einen Wegeunfall mit dem Pkw. Der Pkw überschlug sich mehrfach, wobei der Kläger Verletzungen erlitt.

Mit Bescheid vom 19. Oktober 2005 gewährte die Beklagte dem Kläger Versorgung nach den §§ 80, 81 Soldatenversorgungsgesetz (SVG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in Höhe von 50 v.H. ab dem 1. März 1999. Dabei erkannte die Beklagte als Wehrdienstbeschädigung im Sinne des § 81 SVG eine „Epilepsie mit seltenen großen Anfällen“ an.

Am 10. November 2014 beantragte der Kläger die Neufeststellung seines Versorgungsanspruchs und machte eine Verschlimmerung geltend. Mindestens alle ein bis zwei Wochen komme es zu epileptischen Anfällen. Er legte Befundberichte des Universitätsklinikums Frankfurt am Main sowie des Universitätsklinikums Gießen/Marburg vor.

Nach Auswertung der medizinischen Unterlagen und Einholung des neurologisch-epileptologisch-wissenschaftlichen Gutachtens von Prof. Dr. C. (damaliger Direktor des Universitätsklinikums Bonn) vom 28. Juni 2016 stellte die Beklagte unter Bezugnahme auf die versorgungsmedizinische Stellungnahme vom 13. September 2016 fest, dass ein Kausalzusammenhang des epileptischen Anfallsleidens mit einem Schädel-Hirn-Trauma im Mai 1998 nicht wahrscheinlich sei. Daher sei eine Höherbewertung des Grades der Schädigungsfolgen (GdS) nicht begründbar. Strukturelle Hirnläsionen, die posttraumatisch bedingt sein könnten, seien nicht nachgewiesen. Zudem deuteten die bei ihm festgestellten strukturellen Hirnveränderungen des Hippocampus auf eine entzündliche Gehirnaffektion im Sinne einer limbischen Encephalitis hin. Diesbezüglich empfahlen sowohl der Gutachter als auch die Versorgungärztin weitere diagnostische Maßnahmen wie eine Untersuchung des Gehirnwassers und des Blutserums auf Antikörper zur definitiven Klärung der Ätiologie der Epilepsie.

Mit Bescheid vom 22. März 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Juli 2018 lehnte die Beklagte den Neufeststellungsantrag ab. Ein höherer GdS sei mangels Kausalzusammenhangs nicht begründbar. Die Verschlimmerung sei nicht mit Wahrscheinlichkeit auf die Schädigung zurückzuführen.

Dagegen hat der Kläger am 21. August 2018 vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main Klage erhoben. Zur Begründung hat er darauf verweisen, dass Dr. E. (Facharztes für Neurologie) mit Gutachten vom 21. Juni 2004 festgestellt habe, dass das als wahrscheinlich angesehene Schädel-Hirn-Trauma infolge des Pkw-Unfalls an der Entwicklung der Epilepsie beteiligt gewesen sei. 

Nach Einholung eines Befundberichts bei der behandelnden Neurologin Dr. H. vom 18. Juni 2019 hat das Sozialgericht ein Gutachten bei dem Facharzt für Neurologie PD Dr. S. (Oberarzt, Klinik für Neurologie der Universitätsmedizin Mainz) in Auftrag gegeben, welches dieser am 8. Mai 2020 erstattet hat. Am 28. Oktober 2020 hat er zudem eine ergänzende Stellungnahme abgegeben. Ferner hat das Sozialgericht zur weiteren Sachaufklärung einen Befundbericht beim Universitätsklinikum Frankfurt am Main vom 4. November 2022 und einen weiteren Befundbericht bei Dr. H. vom 14. Februar 2023 eingeholt.

Die Beklagte hat ausgeführt, dass angesichts des hohen Funktionsniveaus und der vergleichsweise geringen Teilhabebeeinträchtigungen der GdS 60 betrage. Die komplex-fokalen Anfälle seien erstmals mit Gutachten vom 28. Juni 2016 aktenkundig geworden. Erst ab diesem Zeitpunkt komme die Anerkennung einer Verschlimmerung hin zu einem GdS von 60 in Betracht. Eine weitere Erhöhung könne vor dem Hintergrund der Schwere der Anfälle und des Ausmaßes des Abweichens von dem Lebensalter typischen Zustandes nicht befürwortet werden.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 23. Juni 2023 hat die Beklagte einen GdS von 60 ab dem 1. Juni 2016 sowie als Schädigungsfolge ein „posttraumatisches Anfallsleiden“ anerkannt. Der Kläger hat dieses Teilanerkenntnis angenommen.

Mit Urteil vom 23. Juni 2023 hat das Sozialgericht den Bescheid der Beklagten vom 22. März 2017 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 26. Juli 2018 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, beim Kläger für den Zeitraum vom 26. Januar 2011 bis 26. März 2017 eine Beschädigtenrente nach einem GdS von 60 und ab dem 27. März 2017 nach einem GdS von 80 zu gewähren. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen.

Im Zeitraum vom 26. Januar 2011 bis 29. Mai 2016 seien nächtliche epileptische Anfälle vom Typ Grand-Mal mit Pausen von Wochen und zusätzlich ab dem 30. Mai 2016 kleinere komplexe Anfälle tagsüber nachgewiesen. Eine weitere Zunahme der Anfallshäufigkeit der generalisierten Anfälle sei ab dem 27. März 2017 nachgewiesen. Ab diesem Zeitpunkt werde durchweg von durchschnittlich einem großen Anfall pro Woche berichtet. Die Angaben des Klägers gegenüber den behandelnden Ärzten seien dabei zur Überzeugung des Gerichts nicht verfahrens-, sondern behandlungsorientiert, wie sich insbesondere aus der mehrfachen Änderung der nebenwirkungsreichen Medikation ergebe. Auf den Seiten 10 bis 14 des Urteils hat das Sozialgericht die maßgeblichen Befunde in einer Tabelle mit Angaben zu den Anfällen (Zeitraum, Anzahl, Art und Tageszeit) sowie den damit einhergehenden Beeinträchtigungen aufgeführt.

Unter Berücksichtigung der Vorgaben von Teil B Nr. 3.1.2 der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) sei die Kammer zu dem Ergebnis gelangt, dass bereits ab dem 26. Januar 2011 von einer mittleren Anfallshäufigkeit auszugehen sei, die frühestens ab dem 1. November 2014 mit einem GdS von 60 zu berücksichtigen sei.

Eine weitere Erhöhung sei nach Ansicht der Kammer ab dem 27. März 2017 vorzunehmen. Mit ärztlichem Bericht des Universitätsklinikums Frankfurt am Main vom selben Tag sei eine Zunahme der Anfallsfrequenz der generalisierten Anfälle hin zu einem nächtlichen generalisierten Anfall pro Woche belegt, die ausweislich der medizinischen Befunde im darauffolgenden Zeitraum weiterhin anhalte und insbesondere mit kognitiven Beeinträchtigungen und Konzentrationsstörungen des Klägers einhergehe. Jedenfalls ab diesem Zeitpunkt sei von einer weiteren Verschlimmerung des Anfallsleidens auszugehen. Die wöchentlichen generalisierten Anfälle seien in Kombination mit den auch weiterhin tagsüber auftretenden komplex-fokalen Anfällen mit einem GdS von 80 zu bewerten. Der Bewertungsrahmen von 60 bis 80 sei angesichts der häufigen Anfallsfrequenz, der Schwere der Anfälle und auch den Beeinträchtigungen des Klägers auszuschöpfen. Dabei sei für die Kammer unter anderem entscheidungsleitend, dass sich der Kläger aufgrund der damals zeitweise täglich auftretenden Grand-Mal-Anfälle dazu gezwungen gesehen habe, seine Tätigkeit als Servicekraft in der Gastronomie aufzugeben, da die mit der Tätigkeit einhergehenden unregelmäßigen Arbeitszeiten bis spät in die Nacht das Auftreten der epileptischen Anfälle stark begünstigt habe. Die Erheblichkeit der Beeinträchtigungen des Klägers durch die epileptischen Anfälle werde angesichts der notwendigen Umschulung zum Verwaltungsfachangestellten offenbar. Neben den Beeinträchtigungen im beruflichen Bereich habe der Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung glaubhaft geschildert, dass er durch die häufigen epileptischen Anfälle auch im privaten Bereich deutlich eingeschränkt sei, was insbesondere anhand der starken Einschränkung seiner Freizeitgestaltung deutlich werde. So sei es ihm aufgrund der täglichen Absencen z.B. nicht mehr möglich bestimmte Sportarten auszuüben, wie etwa Schwimmen oder Fahrradfahren. Nach dem Auftreten eines großen Anfalls sei dem Kläger nach seinen glaubhaften Schilderungen sowohl die Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit nur eingeschränkt oder unter Schmerzmedikation möglich. Er benötige danach viel Ruhe an den darauffolgenden Tagen, meist über das gesamte Wochenende, was mit erheblichen Einschränkungen seines Privatlebens verbunden sei.

Der GdS-Bewertungsrahmen von 90 bis 100 sei angesichts der tageszeitlichen Verteilung der generalisierten Anfälle und der im Termin geschilderten Beeinträchtigungen des Klägers nach Auffassung der Kammer noch nicht erreicht. Der Kläger sei dazu in der Lage, sich eigenständig zu versorgen, seinen Alltag zu strukturieren und einer beruflichen Tätigkeit als Verwaltungsfachangestellter nachzugehen. Insofern habe der Sachverständige PD Dr. S. nachvollziehbar und schlüssig dargelegt, dass die Schädigungsfolgen wegen der tagesspezifischen Verteilung nicht höher als mit einem GdS von 80 zu bewerten seien. Für die Bewertung der Beeinträchtigungen durch ein Anfallsleiden sei eben nicht nur die Häufigkeit, sondern auch die Art und Schwere sowie tageszeitliche Verteilung der Anfälle maßgebend.

Der Vortrag der Beklagten, dass die Anerkennung nach einem GdS von 80 nicht mit den Grundsätzen der Gesamtbewertung von Hirnschäden nach Teil B Nr. 3.1.1 der Anlage zu § 2 VersMedV vereinbar sei, da beim Kläger keine dauerhaften, schweren Teilhabebeeinträchtigungen gegeben seien, weil die Anfälle meist nachts aufträten, führe zu keiner anderen Bewertung. Eine derartige Diskrepanz zu den Vorgaben in Teil B Nr. 3.1.1 der Anlage zu § 2 VersMedV sei nicht zu erkennen, da auch wöchentliche generalisierte Anfälle durchaus zu schweren Leistungsbeeinträchtigungen führen könnten, für die nach Teil B Nr. 3.1.1 ein GdS-Rahmen von 70 bis 100 vorgesehen sei. Auch wenn generalisiert tonischklonische Anfälle mit tonischen Phasen der Bewusstlosigkeit, Versteifung des ganzen Körpers und teilweise kurzem Atemstillstand sowie klonischen Phasen mit Zuckungen bei nächtlichem Auftreten weitaus weniger gefährlich für die betroffene Person seien, als wenn solche Anfälle tagsüber auftreten, könnten mit ihnen dennoch schwere Beeinträchtigungen, wie Übermüdung, kurzzeitige Verwirrtheit, Konzentrationsschwierigkeiten, geminderte Leistungsfähigkeit und Muskelbeschwerden einhergehen, die sich bei häufiger Anfallsfrequenz negativ auf den Alltag der Betroffenen auswirkten und zu schweren Leistungsbeeinträchtigungen führen könnten.

Hinsichtlich der Zeiträume, für die eine Erhöhung des festgestellten GdS von 50 auf 60 und 80 vorzunehmen sei, sei die Kammer deshalb nicht dem Vorschlag des Sachverständigen gefolgt, weil sich die vorgeschlagenen Zeiträume nicht anhand der vorliegenden Befunde über den Kläger erklären ließen und sich damit nicht als schlüssig erwiesen hätten. Der Sachverständige sei in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 28. Oktober 2020 zu dem Ergebnis gelangt, dass für den Zeitraum von Dezember 2011 bis Dezember 2016 die Bewertung mit einem GdS von 60 bei einer nachgewiesenen Anfallsfrequenz von ein bis zwei Anfällen pro Monat angemessen sei. Danach sei es neben den nächtlichen generalisierten-tonischen Anfällen zusätzlich zu tagsüber auftretenden komplex-fokalen Anfällen gekommen, die seit Dezember 2016 sicher nachgewiesen seien. Zu diesem Zeitpunkt habe sich auch die Anfallssituation der nächtlichen generalisierten-tonischen Anfälle hin zu einmal pro Woche verschlechtert. Dies bedinge eine GdS-Erhöhung auf 80 ab Dezember 2016. Dies sei für die Kammer nicht nachvollziehbar, da bereits ab dem 26. Januar 2011 eine Verschlimmerung der Anfallsfrequenz nachgewiesen worden sei, die eine Erhöhung des GdS von 50 auf 60 rechtfertige und ab dem 1. November 2014 Berücksichtigung finde. Insofern sei davon auszugehen, dass dem Sachverständigen die Regelung des § 60 BVG nicht bekannt gewesen sei und deshalb bereits ab Dezember 2011 eine entsprechende Erhöhung vorgeschlagen worden sei. Weshalb die Erhöhung jedoch erst neun Monate nach Zunahme der Anfallsfrequenz erfolgen solle, sei für die Kammer nicht nachvollziehbar. Ebenso wenig sei dem Vorschlag zu folgen, den GdS ab Dezember 2016 auf 80 zu erhöhen. Der Vorschlag sei für die Kammer weder im Hinblick auf den Zeitpunkt schlüssig noch hinsichtlich der Bewertung überzeugend. Das Auftreten der komplex-fokalen Anfälle am Tag sei jedenfalls mit dem Gutachten von Prof. Dr. C.s ab dem 30. Mai 2016 nachgewiesen. Dies rechtfertige jedoch nach Auffassung der Kammer noch nicht die weitere Erhöhung des GdS von 60 auf 80. Vielmehr sei eine weitere wesentliche Verschlimmerung erst durch die Zunahme der Anfallsfrequenz der generalisierten Anfälle bedingt. Diese Verschlimmerung sei jedenfalls ab dem 27. März 2017 nachgewiesen.

Mit Beschluss vom 29. Juni 2023 hat das Sozialgericht den Tenor des Urteils dahingehend korrigiert, dass die Beklagte verurteilt wird, beim Kläger für den Zeitraum vom 1. November 2014 bis 26. März 2017 eine Beschädigtenrente nach einem GdS von 60 zu gewähren. Es sei zu einer Verwechselung des Datums gekommen. Das Datum 26. Januar 2011 entspreche dem Zeitpunkt der tatsächlich nachgewiesenen Verschlimmerung des Anfallsleidens. Höhere Leistungen seien jedoch frühestens ab dem Antragsmonat, vorliegend also dem 1. November 2014, zu gewähren. 

Die Beklagte hat gegen das ihr am 19. Juli 2023 zugestellte Urteil am 25. Juli 2023 vor dem Hessischen Landessozialgericht Berufung eingelegt und darauf verwiesen, dass nicht nur die Anfallsfrequenz ausschlaggebend sei. Der Kläger habe zwar schwere, aber nicht schwerste Teilhabebeeinträchtigungen. Dies führe grundsätzlich nicht einmal zu einem Ausschluss für die Eignung zum Führen von privaten Kraftfahrzeugen. Weiterhin könne der Kläger für sich selbst sorgen und sei in der Lage gewesen zu studieren.

Auch sei zu berücksichtigen, dass bei der Gesamtbildung des GdS ein Vergleich mit solchen Gesundheitsstörungen vorzunehmen sei, bei denen in der GdS-Tabelle gleiche Werte angegeben seien (vgl. Teil A 3b der Anlage zu § 2 der VersMedV). Nach Teil B 3.1.2 der Anlage zu § 2 der VersMedV seien Erkrankungen wie z. B. Parkinson, mit schweren Störungen der Bewegungsabläufe bis zur Immobilität, oder Schizophrenie und affektive Psychosen mit einem GdS von 80 zu bewerten. Bei diesen Erkrankungen sei den Betroffenen eine eigenständige Lebensführung nicht mehr möglich. Sie seien ständig, auch bei der Befriedigung der bestehenden Grundbedürfnisse (Nahrungsaufnahme, Körperpflege, Fortbewegung) auf fremde Hilfe bzw. die Nutzung von Hilfsmitteln angewiesen. Auch dieser Vergleich zeige, dass eine höhere Bewertung des GdS im vorliegenden Fall nicht angezeigt sei. Weder der Sachverständige PD Dr. S. noch das Sozialgericht Frankfurt am Main hätten berücksichtigt, dass dem Kläger – anders als bei den nach Teil B 3.1.2 der Anlage zu § 2 der VersMedV mit einem GdS 80 bewerteten Erkrankungen – eine aktive Teilhabe und eine selbstständige Lebensführung – wenn auch eingeschränkt – noch möglich sei.

Eine Erhöhung des GdS von 50 auf 60 könne erst ab dem 30. Mai 2016 befürwortet werden. An diesem Tag habe der Sachverständige Prof. Dr. C. den Kläger untersucht.

Das Landessozialgericht Baden-Württemberg habe mit Urteil vom 15. September 2022 (L 6 SB 3312/20) entschieden, dass gegen die Feststellung eines höheren Grades der Behinderung (GdB) spreche, dass der betroffene Kläger trotz der verbliebenen Leistungseinschränkungen nicht in einem über die Bewertung mit einem GdB von 50 hinausgehenden Maße eingeschränkt sei. Es sei ihm möglich Vollzeit zu arbeiten, ein Auto zu führen, er könne in seiner Freizeit sportlichen Aktivitäten nachgehen, ferner könne er Tätigkeiten im Haushalt verrichten. Vorliegend sei es dem Kläger ebenso möglich sich eigenständig zu versorgen, er arbeite Vollzeit bei der Steuerkammer Hessen und könne sich auch sportlich betätigen (wie z.B. joggen).

Die Beklagte hat die versorgungsmedizinische Stellungnahme von G. (Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Suchtmedizin) vom 9. Dezember 2024 vorgelegt. Dieser hat ausgeführt, dass das Gesamtfunktionsniveau des Klägers insgesamt bei weitem keinem „Hirnschaden mit schwerer Leistungsbeeinträchtigung“ entspreche und somit auch keinem GdS von 70 oder höher gerecht werde.

Die Beklagte beantragt (sinngemäß),

das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 23. Juni 2023, geändert durch Beschluss vom 29. Juni 2023, aufzuheben, soweit die Beklagte verurteilt worden ist, unter Abänderung des Bescheides vom 22. März 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Juli 2018, in Gestalt des Teilanerkenntnisses vom 23. Juni 2023 dem Kläger Beschädigtenversorgung nach einem GdS von 60 ab dem 1. November 2014 bis 31. Mai 2016 und nach einem GdS von 80 ab dem 27. März 2017 zu gewähren und die Klage insoweit abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die angegriffene Entscheidung für zutreffend. 

Der Senat hat eine weitere Stellungnahme von Prof. Dr. S. eingeholt. Dieser hat unter dem 12. August 2024 an seinen Ausführungen zum GdS festgehalten. Schließlich hat der Senat entsprechend der Anregung der Beklagten und des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie G. weitere bzw. ausführlichere Befundberichte eingeholt.

Am 13. März 2025 ist die Sach- und Rechtslage mit den Beteiligten vor der Berichterstatterin erörtert worden. 

Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.


Entscheidungsgründe 

Die Entscheidung konnte durch Beschluss ergehen, da das Gericht die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind zu dieser Vorgehensweise im Erörterungstermin am 13. März 2025 angehört worden, § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die Beteiligten müssen nicht zustimmen. Das Gericht kann auch durch Beschluss entschieden, wenn die Beteiligten ausdrücklich eine mündliche Verhandlung verlangen (Keller in: Mayer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl., § 153 Rn. 14).

Die zulässige Berufung ist unbegründet. 

Das SVG vom 26. Juli 1957 (BGBl. I S. 785; letzte Bekanntmachung vom 16. September 2009, BGBl. I S. 3054) ist vorliegend weiterhin anzuwenden. Nach Art. 90 Abs. 6 des Gesetzes über die Entschädigung der Soldatinnen und Soldaten und zur Neuordnung des Soldatenversorgungsrechts vom 20. August 2021 (BGBl. I S. 3932) ist das bisherige SVG zwar zum 31. Dezember 2024 außer Kraft getreten. Zum 1. Januar 2025 ist mit der Herauslösung der Beschädigtenversorgung aus dem bisherigen SVG insoweit das Soldatenentschädigungsgesetz (<SEG>, Art. 1, Art. 90 Abs. 1 des Gesetzes vom 20. August 2021) an dessen Stelle getreten. Über einen bis zum 31. Dezember 2024 gestellten und nicht bestandskräftig beschiedenen Antrag auf Leistungen nach dem SVG in Verbindung mit dem BVG ist jedoch nach dem zum Zeitpunkt der Antragstellung geltenden Recht zu entscheiden (§ 80 Abs. 2 Satz 1 SEG). Damit ist auch das bereits zum 1. Januar 2024 außer Kraft getretene und durch das Vierzehnte Buch Sozialgesetzbuch (SGB XIV) ersetzte BVG (Art. 58 Nr. 2, Art. 60 Abs. 7 des Gesetzes zur Regelung des Sozialen Entschädigungsrechts vom 12. Dezember 2019, BGBl. I. 2652) weiterhin anzuwenden (vgl. auch § 142 Abs. 2 Satz 1 SGB XIV). Da der Kläger seinen hier gegenständlichen Antrag bereits 2014 gestellt hat, richtet sich das Verfahren weiterhin nach dem SVG i.V.m. dem BVG.

Zu Recht hat das Sozialgericht mit Urteil vom 23. Juni 2023, geändert durch Beschluss vom 29. Juni 2023, die Beklagte verurteilt, unter Abänderung des Bescheides vom 22. März 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Juli 2018, in Gestalt des Teilanerkenntnisses vom 23. Juni 2023 dem Kläger Beschädigtenversorgung nach einem GdS von 60 ab dem 1. November 2014 bis 26. März 2017 und nach einem GdS von 80 ab dem 27. März 2017 zu gewähren.

Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat insoweit gemäß § 153 Abs. 2 SGG Bezug auf die zutreffenden Entscheidungsgründe der erstinstanzlichen Entscheidung. Sie sind überzeugend und würdigen die fallentscheidenden Aspekte vollständig.

Der Vortrag der Beklagten sowie die weiteren Ermittlungen im Berufungsverfahren begründen keine andere Entscheidung. 

Ergänzend wird festgestellt, dass nach den VersMedV bei epileptischen Anfällen für die Bestimmung des GdS maßgeblich die „Art, Schwere, Häufigkeit und tageszeitliche Verteilung“ sind (Teil B 3.1.2 der Anlage zu § 2 der VersMedV). Dies ist bei isoliert vorkommenden bzw. führenden Syndromen die Beurteilungsbasis. Lediglich die Gesamtwürdigung eines Hirnschadens mit verschiedenen Folgeerscheinungen hat nach den allgemeinen Grundsätzen gemäß Teil B 3.1.1 der Anlage zu § 2 der VersMedV zu erfolgen (s. Anmerkung zu Teil B 3.1 – Hirnschäden nach Tabellen 3.1.1 oder 3.1.2 der Anlage zu § 2 der VersMedV).

Dies wird auch deutlich durch die Bestimmung eines GdS von 40 für „sehr selten“ (generalisierte <große> und komplex-fokale Anfälle mit Pausen von mehr als einem Jahr; kleine und einfach-fokale Anfälle mit Pausen von Monaten) und eines GdS von 30 nach drei Jahren Anfallsfreiheit bei weiterer Notwendigkeit antikonvulsiver Behandlung (Teil B 3.1.2 der Anlage zu § 2 der VersMedV). Insoweit wird in keiner Weise auf konkrete Teilhabebeeinträchtigungen, Schäden oder Funktionsbeeinträchtigungen abgestellt. Diese dürften bei längeren Anfallspausen bzw. Anfallsfreiheit auch nicht feststellbar sein. Ein GdS von 30 bzw. 40 wäre unter (maßgeblicher) Heranziehung von Teil B 3.1.1 der Anlage zu § 2 der VersMedV kaum feststellbar. Dies ist aber erkennbar nicht Sinn und Zweck von Teil B 3.1.2 der Anlage zu § 2 der VersMedV. 

Mit der Tabelle in Teil B 3.1.2 der Anlage zu § 2 der VersMedV findet vielmehr die besondere Belastung Berücksichtigung, die eine epileptische Erkrankung für die hiervon Betroffenen bedeutet. Der Kläger hat im Erörterungstermin am 13. März 2025 eindrücklich geschildert, welche Auswirkungen die - konkret nicht vorhersehbaren - Absencen (Zustände, bei denen er nicht bewusstlos sei, aber aufhöre zu denken) und die fokalen Anfälle (bewusstlos) auf sein tägliches Leben haben. 

Der Annahme, dass bei epileptischen Anfällen für die Bestimmung des GdS maßgeblich die „Art, Schwere, Häufigkeit und tageszeitliche Verteilung“ (Teil B 3.1.2 der Anlage zu § 2 der VersMedV) und nicht die konkrete Teilhabebeeinträchtigungen, Schäden oder Funktionsbeeinträchtigungen des Betroffenen sind, steht auch das Urteil des Landessozialgericht Berlin-Brandenburg vom 2. Februar 2012 nicht entgegen. Mit dieser Entscheidung ist zwar ausgeführt worden, dass Teil B 3.1.2 der Anlage zu § 2 der VersMedV nur eine ergänzende Hilfe zur Beurteilung darstelle. Damit hat es aber lediglich klargestellt, dass nicht mit Verweis auf Teil B 3.1.2 der Anlage zu § 2 der VersMedV die verschiedenen Folgen der Hirnschädigung einzeln zu bewerten sind und aufgrund dieser Einzelbewertung ein geringerer GdB begründet werden kann (L 13 SB 210/10, juris Rn. 25). Das Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen wiederum hat mit Urteil vom 30. Januar 2019 festgestellt, dass bei einer mittleren Anfallshäufigkeit nach Teil B 3.1.2 der Anlage zu § 2 der VersMedV für die Epilepsie ein GdB von mindestens 60 zugrunde zu legen ist (L 17 SB 149/17, juris Rn. 38). Eine Reduzierung des GdB unter Verweis auf Teil B 3.1.1 der Anlage zu § 2 der VersMedV hat es hingegen nicht vorgenommen.

Das von der Beklagten angeführte Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 15. September 2022 (L 6 SB 3312/20) hingegen betrifft einen maßgeblich anderen Sachverhalt, dem bereits keine epileptische Erkrankung, sondern vielmehr ein Schädel-Hirn-Trauma sowie eine Subarachnoidalblutung zugrunde lagen. Zudem war - wie in dem zuvor genannten Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen - eine Gesamtbewertung von unterschiedlichen Hirnschäden vorzunehmen. 

Vorliegend ist bei dem Kläger ab dem 1. November 2014 zumindest von einer mittleren Anfallshäufigkeit (GdS 60 – 80) auszugehen, so dass ein GdS von 60 auch für die Zeit vom 1. November 2014 bis einschließlich 31. Mai 2016 zugrunde zu legen ist. Ab dem 27. März 2017 ist von einer höheren Anfallshäufigkeit auszugehen, die jedenfalls einen GdS von 80 begründet. Wie vom Sachverständigen Prof. Dr. S. in seiner Stellungnahme vom 28. Oktober 2020 ausgeführt, erreicht bei dem Kläger die klinische Situation seit Dezember 2016 teilweise schon die nächste Kategorie „häufig“ (GdS 90 – 100). Da der Kläger kein Rechtsmittel gegen das Urteil eingelegt hat, kann der Senat allerdings dahinstehen lassen, ob ein GdS über 80 festzustellen wäre. 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen von § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
 

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Aus
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