S 38 SO 12/25 ER

Land
Niedersachsen-Bremen
Sozialgericht
SG Lüneburg (NSB)
Sachgebiet
Sozialhilfe
1. Instanz
SG Lüneburg (NSB)
Aktenzeichen
S 38 SO 12/25 ER
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

Leistungen der Existenzsicherung sind vom erstangegangenen Leistungsträger gemäß § 43 SGB I zu erbringen. Ein schriftlicher Hinweis des bisher zuständigen Trägers, es sei fortan ein anderer Träger der Existenzsicherung zuständig, entspricht nicht dem vom Gesetzgeber vorgesehenen Verfahren. Vielmehr ist die Leistungserbringung so lange fortzusetzen, bis der Träger, an den der Antrag gemäß § 16 Abs. 2 Satz 1 SGB I weiterzuleiten ist, die Leistungserbringung übernimmt, § 2 Abs. 3 SGB X analog.

  1. Die Antragsgegnerin wird verurteilt, dem Antragssteller Leistungen der Existenzsicherung für den Lebensunterhalt und für Kosten der Unterkunft und Heizung zu erbringen.
  2. Die Kosten des Verfahrens trägt die Antragsgegnerin.

                                                                       Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt existenzsichernde Leistungen.

Der 1989 geborene Antragsteller stand ausweislich der von der Antragsgegnerin beigezogenen Verwaltungsakte bereits im Jahr 2010 und steht mindestens seit dem März 2018 im laufenden Bezug von Leistungen nach dem SGB XII bei der Antragsgegnerin. Ausweislich der Akte hat er die Sonderschule besucht, jedoch keine Berufsausbildung gemacht. Jedenfalls bereits im Jahr 2010 und weiterhin seit 2018 ist für ihn eine rechtliche Betreuung nach den Vorschriften der §§ 1814 ff BGB wegen des Bestehens einer Behinderung eingerichtet. Nach dem vom Antragsteller vorgelegten Befundbericht vom 26. Mai 2021 des medizinischen Behandlungszentrums Uelzen für Erwachsene mit geistiger oder schwerer mehrfach Behinderung bestehen beim Antragsteller unter anderem eine Intelligenzminderung im Sinne einer wesentlichen geistigen Behinderung, ein fetales Alkoholsyndrom, eine Störung der Impulskontrolle mit intermittierend auftretender Reizbarkeit. In den letzten Jahren hat der Antragsteller eine Werkstatt für behinderte Menschen besucht. Seit März 2022 wohnt er in einer Wohnung der F. im Zuständigkeitsbereich des beigeladenen Jobcenter.

Seine Beschäftigung in der Werkstatt für behinderte Menschen endete zum 30. September 2024. Seither erhält der keine existenzsichernden Leistungen. Die Antragsgegnerin ist der Auffassung, dass nach Beendigung der Tätigkeit in der Werkstatt für behinderte Menschen unklar sei, ob der Antragsteller tatsächlich voll erwerbsgemindert sei. Vielmehr habe der Antragsteller bis zum Abschluss der Klärung als erwerbsfähig im Sinne des § 8 Abs. 1 SGB II zu gelten, weshalb Leistungen durch das beigeladene Jobcenter zu erbringen seien.

Eine Weiterleitung nach § 16 Abs. 2 Satz eins SGB I, wonach Anträge, die bei einem unzuständigen Leistungsträger gestellt werden, unverzüglich an den zuständigen Leistungsträger weiterzuleiten sind, erfolgte nicht. Ebenso ist nicht ersichtlich, dass das vom Gesetzgeber in § 45 SGB XII vorgesehene Verfahren zur Feststellung der Erwerbsminderung eingeleitet wurde. Nach § 45 Satz 1 SGB XII. Hat der jeweils für die Ausführung des Gesetzes nach diesem Kapitel zuständige Träger den Rentenversicherungsträger zu ersuchen, die medizinischen Voraussetzungen einer vollen Erwerbsminderung zu prüfen, wenn es aufgrund der Angaben und Nachweise des Leistungsberechtigten als wahrscheinlich erscheint, dass diese erfüllt sind und das zu berücksichtigende Einkommen und Vermögen nicht ausreicht, um den Lebensunterhalt vollständig zu decken.

Der rechtliche Betreuer hat für den Antragsteller sowohl bei der Antragsgegnerin einen Antrag auf Weiterbewilligung als auch Anträge auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente bei der zuständigen Rentenversicherung sowie auf Leistungen nach dem SGB II beim beigeladenen Jobcenter gestellt.

Das beigeladene Jobcenter hat die Leistungsbewilligung versagt, weil erforderliche Unterlagen nicht eingereicht worden seien.

Am 30. Januar 2025 hat der Antragsteller das Sozialgericht Lübeck um Eilrechtsschutz ersucht. Mit Beschluss vom 14. Februar 2025 hat das Sozialgericht Lübeck die Sache wegen der örtlichen Zuständigkeit an das Sozialgericht Lüneburg verwiesen.

Der Antragsteller beantragt,

            wie erkannt.

Die Antragsgegnerin beantragt,

            den Antrag zurückzuweisen.

Die Antragsgegnerin ist der Auffassung, dass beigeladene Jobcenter sei zuständig.

II.

Der zulässige Antrag hat Erfolg.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Erforderlich ist danach zum einen das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d.h. die Notwendigkeit einer Eilentscheidung, und zum anderen ein Anordnungsanspruch, also ein rechtlicher Anspruch auf die begehrte Maßnahme. Gem. § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) sind Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch glaubhaft zu machen.

Gemessen an diesen Vorgaben hat der Antrag Erfolg. Der Antragsteller hat sowohl das Vorliegen eines Anordnungsanspruches als auch eines Anordnungsgrundes glaubhaft gemacht.

Zunächst hat der Antragsteller die für den Bezug von existenzsichernden Leistungen notwendigen Voraussetzungen, insbesondere Hilfebedürftigkeit, glaubhaft gemacht. An der bestehenden Hilfebedürftigkeit ergeben sich schon deshalb keine Zweifel, weil der Antragsteller bei der Antragsgegnerin bis zuletzt Leistungen nach dem SGB XII bezogen hat und lediglich in einer Werkstatt für behinderte Menschen tätig war. Allein durch die Kenntnis, dass der Antragsteller existenzsichernde Leistungen bedarf, ist der erstangegangene Leistungsträger gemäß § 43 Abs. 1 SGB I verpflichtet, diese zu gewähren. Nach dieser Vorschrift hat der erstangegangene Leistungsträger Leistungen zu erbringen, wenn zwischen mehreren Leistungsträgern streitig ist, wer zur Leistung verpflichtet ist. Ausreichend ist, wenn die von den unterschiedlichen Trägern zu erbringende Leistung im Wesentlichen identisch ist [Groth in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 4. Aufl., § 43 SGB I (Stand: 15.06.2024), Rz 24]. Da es sich beim SGB II und SGB XII betreffend die Grundsicherung um Referenzsysteme handelt, die vom Gesetzgeber im Wesentlichen gleich geregelt sind, ist dies gegeben. Zudem reduziert sich im Falle existenzsichernder Leistungen etwaiges Ermessen auf Null, sodass mit Antragstellung ein Anspruch auf Leistungserbringung entsteht. Sodann hätte die Antragsgegnerin den Antrag an den aus ihrer Sicht zuständigen Träger weiterleiten müssen, § 16 Abs. 2 Satz 1 SGB I. Erst bei Übernahme der Leistungsgewährung der Existenzsicherung durch den anderen Träger hätte in analoger Anwendung von § 2 Abs. 3 SGB X eine Leistungseinstellung erfolgen dürfen.

Darüber hinaus ist der Antragsteller offenkundig nicht erwerbsfähig im Sinne des ersten Arbeitsmarktes. Soweit die Antragsgegnerin meint, der Antragsteller gelte als erwerbsfähig im Sinne von § 8 SGB II, so ist dies weder substantiiert vorgetragen noch ersichtlich. Der Kläger war zuletzt in einer Werkstatt für behinderte Menschen tätig und bezog in den letzten Jahren laufend Leistungen nach dem SGB XII. Dementsprechend liegen die Voraussetzungen für die Einleitung des Verfahrens nach § 45 SGB XII zur Feststellung der vollen Erwerbsminderung vor. Dies wird gestützt durch den vorgelegten Befundbericht zur Art und Schwere der Behinderung vom 26. Mai 2021. Demnach besteht eine wesentliche geistige Behinderung in Gestalt einer Intelligenzminderung so wie ein fetales Alkoholsyndrom mit erheblichen Konsequenzen für die Verhaltenssteuerung des Antragstellers. Die Behinderung ist als wesentlich und in ihrer Schwere als hoch einzustufen.

Eilbedürftigkeit ist glaubhaft gemacht, weil der Antragsteller existenzsichernde Leistungen begehrt und das Existenzminimum derzeit nicht auf andere Weise sichergestellt wird. Soweit der Antragsteller über die G. derzeit mitversorgt wird, so lässt dies Eilbedürftigkeit nicht entfallen. Denn zum einen werden diese Leistungen nur im Hinblick auf den bestehenden Leistungsanspruch erbracht, zum anderen ersetzen Güte und Mitmenschlichkeit nicht die Pflicht des Staates, in Notsituationen bestehende Leistungsansprüche zu erfüllen.

Die Entscheidung zu den Kosten ergibt sich aus einer entsprechenden Anwendung von §§ 193 Abs. 1, 183 SGG.

Rechtskraft
Aus
Saved