S 36 VE 16/18

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Frankfurt (HES)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 36 VE 16/18
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 1 VE 21/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil


1.    Der Bescheid der Beklagten vom 22. März 2017 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 26. Juli 2018 wird aufgehoben und die Beklagte verurteilt, beim Kläger für den Zeitraum vom 26. Januar 2011 bis 26. März 2017 eine Beschädigtenrente nach einem GdS von 60 und ab dem 27. März 2017 nach einem GdS von 80 zu gewähren.

2.    Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

3.    Die Beklagte hat dem Kläger ¾ der notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.


Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Neufeststellung der anerkannten Wehrdienstbeschädigungsfolgen (WDB-Folgen) wegen Verschlimmerung des Versorgungsleidens und damit die Höherbewertung der bereits anerkannten WDB-Folge des Klägers streitig.

Der 1977 geborene Kläger war in der Zeit vom 1. Juli 1997 bis zum 28. Februar 1999 Soldat auf Zeit bei der Bundeswehr. Am 25. Mai 1998 erlitt er während der Dienstzeit einen Wegeunfall mit dem Pkw, bei welchem er sich mehrfach überschlug und leichte Verletzungen erlitt.

 Mit Bescheid vom 19. Oktober 2005 gewährte die Beklagte dem Kläger Versorgung nach den §§ 80, 81 des Soldatenversorgungsgesetzes (SVG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in Höhe von 50 v.H. ab dem 1. März 1999 in Gestalt einer Beschädigtenrente (Bl. 169 f. VA). Dabei erkannte die Beklagte als Wehrdienstbeschädigung im Sinne des § 81 SVG eine „Epilepsie mit seltenen großen Anfällen“ an.

Am 10. November 2014 stellte der Kläger einen Antrag auf Neufeststellung seines Versorgungsanspruchs bei der Beklagten und machte dabei eine Verschlimmerung des anerkannten Versorgungsleidens geltend. Die Häufigkeit der Anfälle habe stark zugenommen. Es komme alle ein bis zwei Wochen zu epileptischen Anfällen, manchmal sogar öfters (Bl. 350 VA). Mit dem Antrag legte er ärztliche Berichte des Universitätsklinikums Frankfurt am Main vom 26. Januar 2011, 19. Dezember 2011 und 3. Februar 2012 sowie des Universitätsklinikums Gießen/Marburg vom 30. April 2012 und 10. Juli 2012 vor.

Nach Auswertung der medizinischen Unterlagen und Einholung eines neurologisch-epileptologisch-wissenschaftlichen Gutachtens, welches am 28. Juni 2016 durch den damaligen Direktor des Universitätsklinikums Bonn Prof. C. erstattet wurde, stellte die Beklagte unter Bezugnahme auf die versorgungsmedizinische Stellungnahme vom 13. September 2016 fest, dass ein Kausalzusammenhang des epileptischen Anfallsleidens mit einem Schädel-Hirn-Trauma im Mai 1998 nicht wahrscheinlich sei und daher eine Höherbewertung des Grades der Schädigungsfolgen (GdS) nicht begründbar sei (Bl. 412 ff. VA). Strukturelle Hirnläsionen, die posttraumatisch bedingt sein könnten, seien beim Kläger nicht nachgewiesen. Zudem deuteten die bei ihm festgestellten strukturellen Hirnveränderungen des Hippocampus auf eine entzündliche Gehirnaffektion im Sinne einer limbischen Encephalitis hin. Diesbezüglich empfahlen sowohl der Gutachter als auch die Versorgungärztin weitere diagnostische Maßnahmen wie eine Untersuchung des Gehirnwassers und des Blutserums auf Antikörper zur definitiven Klärung der Ätiologie der Epilepsie.

Mit Bescheid vom 22. März 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Juli 2018 lehnte die Beklagte den Neufeststellungsantrag des Klägers vom 10. November 2014 ab. Eine Höherbewertung des GdS sei mangels Kausalzusammenhangs nicht begründbar. Die Verschlimmerung sei nicht mit Wahrscheinlichkeit auf die Schädigung zurückzuführen.

Dagegen wendet sich der Prozessbevollmächtigte des Klägers mit seiner am 21. August 2018 erhobenen Klage vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main, mit welcher er die Höherbewertung der festgestellten Schädigungsfolge begehrt. Mit neurologischem Gutachten des Facharztes für Neurologie Dr. E. vom 21. Juni 2004 sei festgestellt worden, dass das als wahrscheinlich angesehene Schädel-Hirn-Trauma infolge des Pkw-Unfalls an der Entwicklung der Epilepsie beteiligt war. Die erhöhte Häufigkeit der epileptischen Anfälle ergebe sich aus den im Widerspruchsverfahren vorgelegten Arztberichten des Universitätsklinikums Frankfurt am Main.

Nach Einholung eines Befundberichts bei der behandelnden Neurologin Dr. H. vom 18. Juni 2019 hat das Gericht ein neurologisches Gutachten beim Facharzt für Neurologie PD Dr. S. in Auftrag gegeben, welches am 8. Mai 2020 erstattet wurde. Am 28. Oktober 2020 hat er zudem eine ergänzende Stellungnahme zum Gutachten abgegeben. Ferner hat das Gericht zur weiteren Sachaufklärung einen Befundbericht beim Universitätsklinikum Frankfurt am Main vom 4. November 2022 und einen weiteren Befundbericht bei Dr. H. vom 14. Februar 2023 eingeholt.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 23. Juni 2023 hat die Beklagte ein Teilanerkenntnis abgegeben und einen GdS von 60 ab dem 1. Juni 2016 anerkannt. Im Zuge dessen hat sie im Einverständnis des Klägers die Schädigungsfolge neu bezeichnet und als Schädigungsfolge ein „posttraumatisches Anfallsleiden“ anerkannt. 

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat das Teilanerkenntnis angenommen und beantragt zuletzt, 
den Bescheid der Beklagten vom 22. März 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Juli 2018 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, beim Kläger einen Grad der Schädigungsfolgen von 80 ab dem 1. November 2014 anzuerkennen.

Die Beklagte beantragt, 
die Klage im Übrigen abzuweisen.

Sie ist der Auffassung, dass der GdS angesichts des hohen Funktionsniveaus und der vergleichsweise geringen Teilhabebeeinträchtigungen anhaltend im Sinne eines Durchschnitts-GdS mit 60 zu bewerten sei. Die komplex-fokalen Anfälle seien erstmals mit Gutachten vom 28. Juni 2016 aktenkundig geworden. Erst ab diesem Zeitpunkt komme die Anerkennung einer Verschlimmerung hin zu einem GdS von 60 in Betracht. Eine weitere Erhöhung könne vor dem Hintergrund der Schwere der Anfälle und des Ausmaßes des Abweichens von dem Lebensalter typischen Zustand nicht befürwortet werden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten (2 Bände), der Verwaltungsakten der Beklagten (2 Bände „Rente“, 1 Band „Medizin“ und 2 Bände „Recht Widerspruch“) sowie der WDB-Akten der Wehrbereichsverwaltung V Stuttgart (2 Bände), die Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidung gewesen sind, Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist teilweise begründet.

Streitgegenstand ist die Neufeststellung der mit Bescheid vom 19. Oktober 2005 anerkannte WDB-Folge des Klägers nach § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) und damit die Erhöhung des GdS aufgrund einer geltend gemachten Verschlimmerung der anerkannten Gesundheitsstörung. Die Anerkennung weiterer Gesundheitsstörungen als Schädigungsfolgen wird nach Erörterung der Sach- und Rechtslage im Termin zur mündlichen Verhandlung nicht mehr begehrt.

Der Bescheid vom 22. März 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Juli 2018 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG). 

In den Verhältnissen, die für die Erteilung des Bescheides vom 19. Oktober 2005 maßgebend waren, ist eine wesentliche Änderung im Sinne des § 48 Abs. 1 SGB X eingetreten. Der Kläger hat einen Anspruch auf Höherbewertung der anerkannten WDB-Folge infolge der Verschlimmerung der anerkannten Schädigungsfolge.

Nach § 48 Abs. 1 SGB X ist, soweit in den tatsächlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, dieser Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Der Verwaltungsakt soll mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt. § 48 SGB X findet auf alle Verwaltungsakte mit Dauerwirkung Anwendung und damit auch auf feststellende Verwaltungsakte. Eine solche wesentliche Änderung der tatsächlichen (oder rechtlichen) Verhältnisse, wie sie bislang der Gewährung von Versorgung zugrunde gelegt worden sind, ist dann anzunehmen, wenn eine Verschlimmerung der als Schädigungsfolgen bereits anerkannten Gesundheitsstörungen eingetreten bzw. neue weitere noch als Schädigungsfolge anzuerkennende Gesundheitsstörungen aufgetreten sind. Wesentlich ist eine Verschlimmerung nur dann, wenn der veränderte Gesundheitszustand mehr als sechs Monate andauert und die Änderung zu einer Erhöhung des GdS und damit zu einer höheren Beschädigtenrente nach den §§ 31 ff. BVG führt.

Rechtsgrundlage für eine Versorgung bei Wehrdienstbeschädigung sind die §§ 80, 81 SVG i.V.m. dem BVG.

Gemäß § 80 Abs. 1 SVG erhält ein Soldat, der eine Wehrdienstbeschädigung (WDB) erlitten hat, nach Beendigung des Wehrdienstverhältnisses auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Nach § 81 Abs. 1 SVG ist eine WDB eine gesundheitliche Schädigung, die durch eine Wehrdienstverrichtung, durch einen während der Ausübung des Wehrdienstes erlittenen Unfall oder durch die dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnisse herbeigeführt worden ist.

Die Höhe der Versorgung richtet sich gemäß §§ 31, 32 BVG nach der Höhe des GdS, der gemäß § 30 Abs. 1 Satz 2 BVG in Zehnergraden von 10 bis 100 zu bemessen ist. Dabei sind die Maßstäbe der auf Grundlage von § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10. Dezember 2008 in der Fassung vom 6. Juni 2023 und insbesondere die in der Anlage 2 zu dieser Verordnung enthaltenen Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VmG) zu beachten. Wesentlich hierbei sind die Funktionseinschränkungen, die tatsächlich vorliegen und die durch medizinische Befunde bzw. Befunderhebungen bewiesen sein müssen.

Das Vorliegen der erforderlichen dreistufigen Kausalkette für einen Anspruch auf Versorgung bei Wehrdienstbeschädigung ist zwischen den Beteiligten im Laufe des Verfahrens unstreitig gestellt worden. Lediglich die anerkannte Schädigungsfolge „Epilepsie mit seltenen großen Anfällen“ wurde in die Bezeichnung „posttraumatisches Anfallsleiden“ geändert.

Die Kammer ist zur Überzeugung gelangt, dass beim Kläger eine Verschlimmerung der anerkannten WDB-Folge eingetreten ist. Dabei stützt sie sich auf das Ergebnis der Beweisaufnahme, die vorgelegten und eingeholten medizinischen Unterlagen auf neurologischem Fachgebiet und den Eindruck des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung. 

Der Sachverständige Dr. S. hat sich in seinem Gutachten vom 8. Mai 2020 umfassend mit dem Gesundheitszustand des Klägers auseinandergesetzt und diesen ausführlich dargestellt. Das Eintreten einer Verschlimmerung des anerkannten Versorgungsleidens wird im Gutachten schlüssig und nachvollziehbar dargelegt.

Den Ausführungen im Gutachten lässt sich entnehmen, dass die beim Kläger im Jahr 2017 durchgeführte Antikörperdiagnostik negative Befunde ergeben hat Es besteht daher kein Hinweis für eine limbische Enzephalitis als Ursache für die epileptischen Anfälle. Zudem hat eine weitere epileptologische Abklärung mittels Video-EEG-Monitoring im Jahr 2017 gezeigt, dass der Kläger an einer Frontallappen-Epilepsie leidet. Der Sachverständige Dr. S. geht daher in Übereinstimmung mit dem neurologischen Gutachter Dr. E., der am 21. Juni 2004 ein Gutachten zu dieser Frage erstattet hat, von einer posttraumatischen Ätiologie der aufgetretenen Epilepsie-Erkrankung aus. Er weist darauf hin, dass sich das Fehlen von posttraumatischen Hirnparenchymveränderungen in den cMRT-Aufnahmen vor dem Hintergrund erklären lasse, dass auch moderne, hochauflösende Geräte sehr kleine Läsionen nicht darstellen könnten. Er zieht deshalb den Schluss, dass beim Kläger eine Schädigung auf mikrostruktureller Ebene vorliegt. 

Nach Einschätzung des Sachverständigen Dr. S. ist beim Kläger eine Verschlimmerung der anerkannten Schädigungsfolge „Epilepsie mit seltenen großen Anfällen“ eingetreten. Insofern sei eine spontane Verschlechterung der Anfallssituation seit dem Jahr 2011 zu beobachten. In den letzten Jahren seien epileptische Anfälle einmal in ein bis zwei Wochen aufgetreten. Es komme zeitweise wöchentlich zu generalisierten tonisch-klonischen Anfällen (meist nachts) und komplex-fokalen Anfällen (vermehrt tagsüber). Er kommt zu dem Ergebnis, dass bei epileptischen Anfällen von mittlerer Häufigkeit (generalisierte oder komplex-fokale Anfälle mit Pausen von Wochen) ein GdS von 80 angemessen ist. Zur Begründung führt er aus, dass die nächtlichen Anfälle beim Kläger zu erheblichen Beeinträchtigungen im Alltag führen. Es komme u.a. zu einer Leistungsminderung, Konzentrationsstörungen und Kopfschmerzen. Zudem hebt er hervor, dass nächtliche Anfälle generell mit einem erhöhten Todesrisiko verbunden sind. Er weist darauf hin, dass die klinische Situation teilweise schon die Kategorie wöchentlicher generalisierter oder komplex-fokaler Anfälle erreicht habe, die eine GdS Bewertung von 90 bis 100 rechtfertigt. Insofern stellt er klar, dass er gleichwohl angesichts der tagesspezifischen Verteilung der Anfälle eine Bewertung der Schädigungsfolgen mit einem GdS von 80 beim Kläger als angemessen betrachte.

Die Kammer folgt dem Vorschlag des Sachverständigen hinsichtlich seiner Einschätzung der Höhe des GdS. Die von ihm vorgenommene Bewertung des GdS ist für die Kammer sowohl schlüssig als auch überzeugend und steht hinsichtlich der beschriebenen Teilhabebeeinträchtigungen des Klägers infolge der Epilepsie und ihres Ausmaßes im Einklang mit den vorliegenden medizinischen Befunden auf neurologisch-epileptologischem Fachgebiet. 

Hinsichtlich der Zeitpunkte der Verschlimmerung ist die Kammer zur Überzeugung gelangt, dass beim Kläger ab dem 1. November 2014 eine erste Verschlimmerung eingetreten ist, die einen GdS von 60 bedingt, und ab dem 27. März 2017 eine weitere Verschlimmerung, die einen GdS von 80 rechtfertigt.

Im Zeitraum vom 26. Januar 2011 bis 29. Mai 2016 sind nächtliche epileptische Anfälle vom Typ Grand-Mal mit Pausen von Wochen und zusätzlich ab dem 30. Mai 2016 kleinere komplexe Anfälle tagsüber nachgewiesen. Eine weitere Zunahme der Anfallshäufigkeit der generalisierten Anfälle ist ab dem 27. März 2017 nachgewiesen. Ab diesem Zeitpunkt wird durchweg von durchschnittlich einem großen Anfall pro Woche berichtet. Die Angaben des Klägers gegenüber den behandelnden Ärzten waren dabei zur Überzeugung des Gerichts nicht verfahrens- sondern behandlungsorientiert, wie sich insbesondere aus der mehrfachen Änderung der nebenwirkungsreichen Medikation ergibt.

Ihrer Bewertung hat die Kammer dabei die folgenden mitgeteilten Befunde zugrunde gelegt: 

              Es folgt eine Tabelle, die aus technischen Gründen nicht dargestellt werden kann (vorhanden unter www.lareda.hessenrecht.hessen.de)

Ausgehend von dieser Befundlage sind die Teilhabebeeinträchtigungen des Klägers nach Maßgabe der in Anlage 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung enthaltenen Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VmG) zu bewerten. 

Die Bewertung des GdS richtet sich nach Teil B Nr. 3.1.2 der VmG und sieht für epileptische Anfälle folgendes vor:

Epileptische Anfälle je nach Art, Schwere, Häufigkeit und tageszeitlicher Verteilung 
     sehr selten (generalisierte [große] und komplex-fokale Anfälle mit Pausen von mehr als einem Jahr; kleine und einfach-fokale Anfälle mit Pausen von Monaten) . .40 
     selten (generalisierte [große] und komplex-fokale Anfälle mit Pausen von Monaten; kleine und einfach-fokale Anfälle mit Pausen von Wochen) ...... 50-60 
     mittlere Häufigkeit (generalisierte [große] und komplex-fokale Anfälle mit Pausen von Wochen; kleine und einfach-fokale Anfälle mit Pausen von Tagen)  .. 60-80 
     häufig (generalisierte [große] oder komplex-fokale Anfälle wöchentlich oder Serien von generalisierten Krampfanfällen, von fokal betonten oder von multifokalen Anfällen; kleine und einfach-fokale Anfälle täglich) .. .90-100 
     nach drei Jahren Anfallsfreiheit bei weiterer Notwendigkeit antikonvulsiver Behandlung ...30

Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben ist die Kammer zu dem Ergebnis gelangt, dass bereits ab dem 26. Januar 2011 von einer mittleren Anfallshäufigkeit auszugehen ist, die frühestens ab dem 1. November 2014 mit einem GdS von 60 zu berücksichtigen ist. Die begehrte höhere Leistung beginnt gemäß § 60 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 BVG frühestens ab dem Antragsmonat, hier also ab dem 1. November 2014, auch wenn ihre Voraussetzungen bereits früher erfüllt waren. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz kam vorliegend nicht in Betracht, da keine Anhaltspunkte dafür vorlagen, dass der Kläger ohne sein Verschulden an einer früheren Antragstellung verhindert gewesen ist, vgl. § 60 Abs. 2 Satz 1 BVG. Dementsprechend hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers seinen Antrag im Termin zur mündlichen Verhandlung geändert bzw. näher bestimmt und für den Kläger höhere Leistungen ab dem 1. November 2014 begehrt. 

Eine weitere Erhöhung war nach Ansicht der Kammer ab dem 27. März 2017 vorzunehmen. Mit ärztlichem Bericht des Universitätsklinikums Frankfurt am Main vom selben Tag ist eine Zunahme der Anfallsfrequenz der generalisierten Anfälle hin zu einem nächtlichen generalisierten Anfall pro Woche belegt, die ausweislich der medizinischen Befunde im darauffolgenden Zeitraum weiterhin anhält und insbesondere mit kognitiven Beeinträchtigungen und Konzentrationsstörungen des Klägers einhergehen. Jedenfalls ab diesem Zeitpunkt ist von einer weiteren Verschlimmerung des Anfallsleidens auszugehen. Die wöchentlichen generalisierten Anfälle sind in Kombination mit den auch weiterhin tagsüber auftretenden komplex-fokalen Anfällen mit einem GdS von 80 zu bewerten. Der Bewertungsrahmen von 60 bis 80 war angesichts der häufigen Anfallsfrequenz, der Schwere der Anfälle und auch den Beeinträchtigungen des Klägers auszuschöpfen. Dabei war für die Kammer unter anderem entscheidungsleitend, dass sich der Kläger aufgrund der damals zeitweise täglich auftretenden Grand-Mal Anfälle dazu gezwungen sah, seine Tätigkeit als Servicekraft in der Gastronomie aufzugeben, da die mit der Tätigkeit einhergehenden unregelmäßigen Arbeitszeiten bis spät in die Nacht das Auftreten der epileptischen Anfälle stark begünstigte. Die Erheblichkeit der Beeinträchtigungen des Klägers durch die epileptischen Anfälle wird angesichts der notwendigen Umschulung zum Verwaltungsfachangestellten offenbar. Neben den Beeinträchtigungen im beruflichen Bereich hat der Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung glaubhaft geschildert, dass er durch die häufigen epileptischen Anfälle auch im privaten Bereich deutlich eingeschränkt ist, was insbesondere anhand der starken Einschränkung seiner Freizeitgestaltung deutlich wird. So ist es ihm aufgrund der täglichen Absencen z. B. nicht mehr möglich bestimmte Sportarten auszuüben, wie etwa Schwimmen oder Fahrradfahren. Nach dem Auftreten eines großen Anfalls ist dem Kläger nach seinen glaubhaften Schilderungen sowohl die Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit nur eingeschränkt oder unter Schmerzmedikation möglich. Er benötige danach viel Ruhe an den darauffolgenden Tagen, meist über das gesamte Wochenende, was mit erheblichen Einschränkungen seines Privatlebens verbunden ist. 

Der GdS-Bewertungsrahmen von 90 bis 100 ist angesichts der tageszeitlichen Verteilung der generalisierten Anfälle und der im Termin geschilderten Beeinträchtigungen des Klägers nach Auffassung der Kammer noch nicht erreicht. Der Kläger ist dazu in der Lage, sich eigenständig zu versorgen, seinen Alltag zu strukturieren und einer beruflichen Tätigkeit als Verwaltungsfachangestellter nachzugehen. Insofern hat der Sachverständige Dr. S. nachvollziehbar und schlüssig dargelegt, dass die Schädigungsfolgen wegen der tagesspezifischen Verteilung nicht höher als mit einem GdS von 80 zu bewerten sind. Für die Bewertung der Beeinträchtigungen durch ein Anfallsleiden ist eben nicht nur die Häufigkeit, sondern auch die Art und Schwere sowie tageszeitliche Verteilung der Anfälle maßgebend.

Der Vortrag der Beklagten, dass die Anerkennung nach einem GdS von 80 nicht mit den Grundsätzen der Gesamtbewertung von Hirnschäden nach Teil B Nr. 3.1.1 der VmG vereinbar sei, da beim Kläger keine dauerhaften, schweren Teilhabebeeinträchtigungen gegeben seien, weil die Anfälle meist nachts auftreten, hat nicht zu einer anderen Bewertung der Kammer geführt. Sie vermag eine derartige Diskrepanz zu den Vorgaben in Teil B Nr. 3.1.1 der VmG nicht zu erkennen, da auch wöchentliche generalisierte Anfälle durchaus zu schweren Leistungsbeeinträchtigungen führen können, für die nach Teil B Nr. 3.1.1 ein GdS-Rahmen von 70 bis 100 vorgesehen ist. Auch wenn generalisiert tonisch-klonische Anfälle mit tonischen Phasen der Bewusstlosigkeit, Versteifung des ganzen Körpers und teilweise kurzem Atemstillstand sowie klonischen Phasen mit Zuckungen bei nächtlichem Auftreten weitaus weniger gefährlich für die betroffene Person sind als wenn solche Anfälle tagsüber auftreten, können mit ihnen dennoch schwerer Beeinträchtigungen, wie Übermüdung, kurzzeitige Verwirrtheit, Konzentrationsschwierigkeiten, geminderter Leistungsfähigkeit und Muskelbeschwerden einhergehen, die sich bei häufiger Anfallsfrequenz negativ auf den Alltag der Betroffenen auswirken und zu schweren Leistungsbeeinträchtigungen führen können.

Hinsichtlich der Zeiträume, für die eine Erhöhung des festgestellten GdS von 50 auf 60 und 80 vorzunehmen ist, ist die Kammer deshalb nicht dem Vorschlag des Sachverständigen gefolgt, weil sich die vorgeschlagenen Zeiträume nicht anhand der vorliegenden Befunde über den Kläger erklären ließen und sich damit nicht als schlüssig erwiesen haben. Der Sachverständige ist in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 28. Oktober 2020 zu dem Ergebnis gelangt, dass für den Zeitraum von Dezember 2011 bis Dezember 2016 die Bewertung mit einem GdS von 60 bei einer nachgewiesenen Anfallsfrequenz von ein bis zwei Anfällen pro Monat angemessen sei. Danach sei es neben den nächtlichen generalisierten-tonischen Anfällen zusätzlich zu tagsüber auftretenden komplex-fokalen Anfällen gekommen, die seit Dezember 2016 sicher nachgewiesen seien. Zu diesem Zeitpunkt habe sich auch die Anfallssituation der nächtlichen generalisierten-tonischen Anfälle hin zu einmal pro Woche verschlechtert. Dies bedinge eine GdS-Erhöhung auf 80 ab Dezember 2016. Dies ließ sich für die Kammer nicht nachvollziehen, da bereits ab dem 26. Januar 2011 eine Verschlimmerung der Anfallsfrequenz nachgewiesen wurde, die eine Erhöhung des GdS von 50 auf 60 rechtfertigt und ab dem 1. November 2014 Berücksichtigung findet. Insofern ist davon auszugehen, dass dem Sachverständigen die Regelung des § 60 BVG nicht bekannt war und deshalb bereits ab Dezember 2011 eine entsprechende Erhöhung vorgeschlagen wurde. Weshalb die Erhöhung jedoch erst neun Monate nach Zunahme der Anfallsfrequenz erfolgen soll, ist für die Kammer nicht nachvollziehbar. Ebenso wenig war dem Vorschlag zu folgen, den GdS ab Dezember 2016 auf 80 zu erhöhen. Der Vorschlag war für die Kammer weder im Hinblick auf den Zeitpunkt schlüssig noch hinsichtlich der Bewertung überzeugend. Das Auftreten der komplex-fokalen Anfälle am Tag war jedenfalls mit Gutachten des Prof. C.s ab dem 30. Mai 2016 nachgewiesen. Dies rechtfertigt jedoch nach Auffassung der Kammer noch nicht die weitere Erhöhung des GdS von 60 auf 80. Vielmehr ist eine weitere wesentliche Verschlimmerung erst durch die Zunahme der Anfallsfrequenz der generalisierten Anfälle bedingt.  Diese Verschlimmerung ist jedenfalls ab dem 27. März 2017 nachgewiesen. 

Nach alldem war zu entscheiden wie geschehen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und orientiert sich am Ergebnis des Verfahrens.

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Berichtigungsbeschluss

Der Tenor des Urteils vom 23. Juni 2023 wird dahingehend korrigiert, dass die Beklagte verurteilt wird, beim Kläger für den Zeitraum vom 1. November 2014 bis 26. März 2017 eine Beschädigtenrente nach einem Grad der Schädigungsfolgen von 60 zu gewähren.


Gründe

Das Urteil vom 23. Juni 2023 war hinsichtlich seines Tenors gemäß § 138 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zu berichtigen und dahingehend zu korrigieren, dass die Beklagte verurteilt wird, beim Kläger für den Zeitraum vom 1. November 2014 bis 26. März 2017 eine Beschädigtenrente nach einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 60 zu gewähren. 

Gemäß § 138 Satz 1 SGG sind Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten im Urteil jederzeit von Amts wegen zu berichtigen. Ähnlich offenbare Unrichtigkeiten können Fehler aller Art sein, z.B. ein vergessener oder verwechselter Bescheid (vgl. Keller in: Mayer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, Kommentar, 13. Auflage 2020, § 138 Rn. 3). 

Eine solche ähnliche offenbare Unrichtigkeit lag vorliegend vor. Der im Tenor vorgesehenen Gewährung eines GdS von 60 ab dem 26. Januar 2011 lag eine Verwechslung des Datums zugrunde. Das Datum 26. Januar 2011 entspricht dem Zeitpunkt der tatsächlich nachgewiesenen Verschlimmerung des Anfallsleidens. Dieses Datum bildete die Grundlage der Entscheidung der Kammer, dem Kläger höhere Leistungen frühestens ab dem Antragsmonat, vorliegend also dem 1. November 2014 zu gewähren. Diese Unrichtigkeit war auch offenbar, da der Antrag des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung auf Hinweis der Vorsitzenden dahingehend geändert bzw. konkretisiert wurde, dass der Kläger höhere Leistungen ab dem 1. November 2014 begehrt.
 

Rechtskraft
Aus
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