1.Bei der Prüfung, ob ein „begründeter Einzelfall“ vorliegt, in dem ausnahmsweise eine Abweichung von der gesetzlichen Soll-Regelung des § 130b Abs. 3 Satz 1 SGB V aF und Durchbrechung der Preisobergrenze für ein Arzneimittel geboten ist, kommt der gerichtsfreie weite Gestaltungsspielraum der Schiedsstelle in besonderem Maße zum Tragen; der weite Gestaltungsspielraum der Schiedsstelle wird bereits dann fehlerfrei gehandhabt, wenn sich nur eine einigermaßen plausible Begründung dafür findet, in dem betreffenden Wirkstoff keinen „Sonderfall“ zu sehen.
2.Dem Schiedsverfahren auf der zweiten Stufe der Preisregulierung obliegt es nicht, Bewertungen nachzuholen, die nach der Regelungssystematik der ersten (Nutzenbewertungs-)Stufe zugewiesen sind (vgl. BSG, Urteil vom 12. August 2021, zitiert nach juris, Rn. 53). Hat der Gemeinsame Bundesausschuss den Zusatznutzen eines Arzneimittels auf der ersten Stufe verneint, ist es dementsprechend nicht zu beanstanden, dass eine Schiedsstelle es auf der zweiten Stufe ablehnt, einen vom Hersteller geltend gemachten „kleinen“ Zusatznutzen im Wege einer Ausnahme von der Soll-Regelung des § 130b Abs. 3 Satz 1 SGB V aF (doch) zu „monetarisieren“.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen zu 1; der Beigeladene zu 2 trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Im Streit steht ein Schiedsspruch über die Festlegung eines Erstattungsbetrages für ein erstattungsfähiges Arzneimittel mit neuem Wirkstoff.
Die Klägerin ist ein pharmazeutisches Unternehmen in der Rechtsform einer GmbH. Im März 2021 brachte sie das der Behandlung von Krebs dienende Fertigarzneimittel Retsevmo® mit dem Wirkstoff Selpercatinib in Deutschland in den Verkehr. Retsevmo® zielt auf sehr selten auftretende Veränderungen im Rearranged During Transfection (RET)-Gen, die das Wachstum von Krebszellen anregen.
Retsevmo® wurde im Februar 2021 europaweit – gemäß Art. 14-a der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 unter besonderen Bedingungen („conditional approval“) – für folgende drei Anwendungsgebiete zugelassen:
- als Monotherapie zur Behandlung von Erwachsenen mit fortgeschrittenem RET-Fusions-positivem nicht-kleinzelligen Lungenkarzinom (NSCLC), die eine systemische Therapie nach Platin-basierter Chemotherapie und/oder einer Behandlung mit Immuntherapie benötigen,
- als Monotherapie zur Behandlung von Erwachsenen mit fortgeschrittenem RET-Fusions-positivem Schilddrüsenkarzinom (nMTC), die eine systemische Therapie nach einer Behandlung mit Sorafenib und/oder Lenvatinib benötigen,
- als Monotherapie zur Behandlung von Erwachsenen und Jugendlichen ab 12 Jahren mit fortgeschrittenem RET-mutierten medullären Schilddrüsenkarzinom (MTC), die eine systemische Therapie nach einer Behandlung mit Cabozantinib und/oder Vandetanib benötigen.
Der zu 2 beigeladene Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) bewertete im Verfahren nach § 35a SGB V den Nutzen des Wirkstoffs Selpercatinib und ergänzte die Anlage XII der Arzneimittel-Richtlinie in Bezug auf alle drei Anwendungsgebiete (hinsichtlich des Anwendungsgebiets NSCLC für drei Untergruppen) um die Feststellung, dass ein Zusatznutzen gegenüber der jeweils zweckmäßigen Vergleichstherapie nicht belegt sei (Beschlüsse vom 2. September 2021, BAnz AT 20.10.2021 B3, BAnz AT 06.10.2021 B4 und BAnz AT 06.10.2021 B3). In den tragenden Gründen der Beschlüsse teilte der Beigeladene zu 2 jeweils mit, dass für die Bewertung des Zusatznutzens keine geeigneten Daten vorlägen. Zudem wies er in den tragenden Gründen darauf hin, dass Selpercatinib „im Einzelfall“ bzw. „in Einzelfällen“ eine „relevante Therapieoption“ darstellen könne. Einer Festbetragsgruppe ordnete der Beigeladene zu 2 das Arzneimittel nicht zu.
Nach teilweise gescheiterten Verhandlungen zwischen der Klägerin und dem Beigeladenen zu 1 über eine Erstattungsvereinbarung rief die Klägerin am 18. Februar 2022 die beklagte Schiedsstelle an und bat um Festsetzung des Vertragsinhalts nach § 130b Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) für Selpercatinib (Retsevmo®). Sie beantragte, den Erstattungsbetrag einheitlich auf 1,2448 Euro (Abgabepreis des pharmazeutischen Unternehmens, netto) je Bezugsgröße (1 mg) festzusetzen, und begründete dies insbesondere wie folgt: Von der Soll-Vorgabe in § 130b Abs. 3 Satz 1 SGB V (in der bis zum 11. November 2022 geltenden alten Fassung [aF] des GKV-Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetzes vom 4. Mai 2017, BGBl I, 1050), die Jahrestherapiekosten der zweckmäßigen Vergleichstherapie nicht zu überschreiten, sei eine Ausnahme zu machen. Denn Retsevmo® schließe eine essentielle Behandlungslücke auch für Kinder und Jugendliche. Seine Funktion als neue und wichtige zusätzliche Therapieoption sei von den Zulassungsbehörden, Fachgesellschaften, klinischen Experten, Patientenvertretern sowie – mit dem Hinweis in den tragenden Gründen der Nutzenbewertungsbeschlüsse auf Selpercatinib als „relevante Therapieoption“ – vom Beigeladenen zu 2 anerkannt worden. Zudem liege ein Ausnahmefall vor, weil der Wegfall von Selpercatinib die Versorgung von besonders schwer erkrankten Patienten gefährde, die Entwicklung des Arzneimittels wegen der sehr geringen Patientenzahlen besonders schwierig sei und der Zusatznutzen aufgrund der eingeschränkten Datenlage nur schwer belegt werden könne. Dies müsse sich in der Höhe des Erstattungsbetrages niederschlagen.
Bei der Berechnung des von ihr genannten Erstattungsbetrages von 1,2448 Euro legte die Klägerin (insoweit entsprechend der Soll-Vorgabe) gemischte und gewichtete Jahrestherapiekosten zweckmäßiger Vergleichstherapien zugrunde und addierte zu diesen Kosten (in Abweichung von der Soll-Vorgabe) einen Wert für einen Zusatznutzen von Retsevmo® hinzu, den sie anhand von zusätzlichen progressionsfreien Monaten bei Anwendung von Retsevmo® und den monatlichen Kosten für die Vergleichstherapien bestimmte. Darüber hinaus berücksichtigte sie die tatsächlichen Abgabepreise in anderen europäischen Ländern bei der Berechnung.
Der Beigeladene zu 1 beantragte vor der Schiedsstelle, den Erstattungsbetrag – entsprechend der Soll-Vorgabe des § 130b Abs. 3 Satz 1 SGB V aF – nach Maßgabe gemischter und gewichteter Jahrestherapiekosten der zweckmäßigen Vergleichstherapien einheitlich auf 0,23946772 Euro pro mg festzusetzen.
Mit Schiedsspruch vom 9. Juni 2022 setzte die Beklagte den Erstattungsbetrag für Selpercatinib auf 0,3699 Euro pro mg fest. Dabei hielt sie sich an die Soll-Vorgabe des § 130b Abs. 3 Satz 1 SGB V aF, die Jahrestherapiekosten der zweckmäßigen Vergleichstherapie nicht zu überschreiten. Von dem Antrag des Beigeladenen zu 1 wich der von der Beklagten festgesetzte Betrag ab, weil die Beklagte zum Teil andere Vergleichstherapien als maßgebend ansah. Dass keine Ausnahme von der Soll-Vorgabe des § 130b Abs. 3 Satz 1 SGB V aF zu machen sei, begründete die Beklagte folgendermaßen:
„Da für Selpercatinib (Retsevmo) nach dem insoweit für die Schiedsstelle bindenden Nutzenbewertungsbeschluss des G-BA ein Zusatznutzen nicht belegt war, war die Bestimmung des Erstattungsbetrags nach § 130b Abs. 3 S. 1 SGB V grundsätzlich so vorzunehmen, dass der Erstattungsbetrag nicht zu höheren Jahrestherapiekosten als die zweckmäßige Vergleichstherapie führt. Allerdings hat die Schiedsstelle sehr intensiv überlegt und erörtert, ob hier nicht eine Ausnahme von diesem Grundsatz vorliegt, der seit dem AMVSG nicht mehr zwingend, sondern als Soll-Vorschrift vorgegeben ist. Für die Annahme einer Durchbrechung der Soll-Vorschrift könnte hier zunächst sprechen, dass – wie bereits erwähnt – der G-BA in den Tragenden Gründen jeweils ausgeführt hat, dass Selpercatinib (Retsevmo) ‚im Einzelfall eine relevante Therapieoption darstellen‘ könne – auch wenn sich daraus keine Bindung für die Schiedsstelle ergeben kann, da sie und nicht der G-BA für die Preisfindung verantwortlich ist. Ferner hat die Schiedsstelle gesehen, dass es angesichts der sehr begrenzten Patientenzahlen in den einzelnen Anwendungsgebieten hier nicht einfach ist, über Studien einen Zusatznutzenbeleg darzustellen, der den Anforderungen des G-BA genügt. Und schließlich besteht hier die Besonderheit, dass ein Zusatznutzen in keinem Anwendungsgebiet und in keiner Patientenpopulation belegt ist; dies limitiert die Flexibilität der Preisfindung zusätzlich.
Trotzdem hat sich die Schiedsstelle nicht zu einer Durchbrechung der Soll-Regelung entscheiden können. Leitend muss dabei neben dem Wortlaut der Norm der gesetzgeberische Wille sein, der insbesondere in der Gesetzesbegründung zum Ausdruck kommt: ‚Die derzeitige Regelung schreibt vor, dass für Arzneimittel, für die ein Zusatznutzen nach § 35a nicht belegt ist und die keiner Festbetragsgruppe zugeordnet werden können, ein Erstattungsbetrag zu vereinbaren ist, der nicht zu höheren Jahrestherapiekosten führt als die zweckmäßige Vergleichstherapie (zVT). Sind mehrere zweckmäßige Vergleichstherapien bestimmt, darf der Erstattungsbetrag nicht zu höheren Jahrestherapiekosten führen als die wirtschaftlichste Alternative. Daran soll im Grundsatz festgehalten werden. Für ein Arzneimittel, für das keine therapierelevanten Vorteile in der Versorgung belegt sind, kann gegenüber der Standardtherapie auch weiterhin kein höherer Preis beansprucht werden. Durch die Regelung wird der Verhandlungsspielraum jedoch für den Einzelfall erweitert. Wie sich in der Praxis gezeigt hat, kann die derzeitige enge und unflexible Vorgabe es in bestimmten Einzelfällen erschweren, einen angemessenen Preis zu vereinbaren. Dies kann zum Beispiel der Fall sein, wenn für unterschiedliche Patientengruppen unterschiedliche, im Preis stark divergierende Vergleichstherapien bestimmt sind. Durch die ‚Soll‘-Formulierung ist klargestellt, dass diese Flexibilisierung nur im begründeten Einzelfall zum Tragen kommt und im Regelfall die Bindung an den Preis der zweckmäßigen Vergleichstherapie weiterbesteht‘ (BT-Drucks. 18/10208, S. 36). Danach muss die Schiedsstelle darauf achten, dass eine Abweichung von der Soll-Vorgabe nur ‚im begründeten Einzelfall‘ in Betracht kommt, und daher der Gefahr einer unangemessenen Ausweitung dieser Durchbrechung begegnen.
Vor diesem Hintergrund konnte die Schiedsstelle nicht erkennen, dass hier ein derartiger ‚begründeter Einzelfall‘ mit hinreichendem Seltenheitswert vorliegt. Mit Blick auf die Erwähnung der ‚relevanten Therapieoption im Einzelfall‘ durch den G-BA spielte es dabei eine Rolle, dass sich diese Erwähnung nicht im Nutzenbewertungsbeschluss selbst, sondern lediglich – und dies ist dann so selten nicht – in den Tragenden Gründen findet. Auch der Umstand, dass die Patientenpopulationen in den einzelnen Anwendungsgebieten überschaubar sind, kommt alles andere als selten vor; zudem ist zu erwarten, dass diese Konstellation angesichts der Zunahme zielgerichteter Therapien häufiger werden wird. Schließlich war hier zwar die Preisfindungsfreiheit in besonderer Weise eingeschränkt; in gewisser Weise wäre es aber sinnwidrig, Produkte mit einer Durchbrechung der Soll-Regelung zu ‚belohnen‘, weil sie in allen Anwendungsgebieten keinen Zusatznutzen belegen konnten. Die Schiedsstelle war daher der Ansicht, dass sie den Grenzfall, der hier sicherlich vorliegt, mit dem zur Verfügung stehenden Instrumentarium nicht befriedigend lösen kann, ohne den Grundsatz der Bindung an die zVT-Kosten in einem zu großen Ausmaß zu relativieren. Nur am Rande sei erwähnt, dass die Schiedsstelle auch nicht der Auffassung ist, dass eine Durchbrechung der Soll-Regelung zur Monetarisierung eines (fiktiven) Zusatznutzens führt; das wäre mit der Bindung an den G-BA Beschluss nicht vereinbar.
Danach kam es für die Festsetzung des Erstattungsbetrags ausschließlich auf die Bestimmung der zVT-Kosten an.“
Gegen den ihr am 15. Juni 2022 zugestellten Schiedsspruch hat die Klägerin am 12. Juli 2022 Klage erhoben. Die Klägerin macht geltend:
Gegen die dem Verfahren zugrunde liegenden drei Nutzenbewertungsbeschlüsse wende sie sich nicht. Ebenso wenig beanstande sie die bei der Bildung der Preisobergrenze des § 130b Abs. 3 Satz 1 und 2 SGB V aF zugrunde gelegten Erstattungsbeträge und die Gewichtung der Erstattungsbeträge. Sie wende sich vielmehr dagegen, dass die Beklagte die nur als Soll-Vorgabe ausgestaltete Preisobergrenze des § 130b Abs. 3 Satz 1 SGB V aF nicht überschritten habe. Dadurch habe die Beklagte ihren Gestaltungsspielraum verletzt. Der Gesetzgeber habe davon abgesehen, der Soll-Regelung klare Konturen zu verleihen. Er habe aber darauf hingewiesen, dass die gesetzlichen Maßnahmen darauf abzielten, Innovationen und neue Wirkstoffe weiterhin möglichst schnell den Patienten zur Verfügung zu stellen und Versorgungslücken zu schließen (Verweis auf BT-Drs. 18/11449, Seite 1 und S. 37 f.). Zudem habe er die Ergebnisse des sogenannten Pharmadialogs abbilden wollen (Verweis auf BT-Drs. 18/11449, Seiten 1, 28 und 31), so dass für die Auslegung auch der Abschlussbericht des Pharmadialogs mit heranzuziehen sei. Daraus ergebe sich, dass auch Arzneimittel ohne festgestellten Zusatznutzen eine wichtige zusätzliche Therapieoption darstellen könnten. Der Beigeladene zu 2 habe in den tragenden Gründen der drei Nutzenbewertungsbeschlüsse darauf hingewiesen, dass Selpercatinib in Einzelfällen eine relevante Therapieoption darstelle und so den therapeutischen Stellenwert von Selpercatinib gewürdigt. Die klinischen Experten teilten diese Einschätzung. Die Versorgungsrelevanz müsse ein gewichtiges Abwägungskriterium sein.
Die Argumente der Beklagten für die Anwendung der Preisobergrenze und gegen eine Ausnahme von der Soll-Vorgabe überzeugten nicht. Dies gelte zunächst für die Erwägung, dass der Hinweis des Beigeladenen zu 2 auf Selpercatinib als im Einzelfall relevante Therapieoption keine Bindungswirkung habe und nicht in den Nutzenbewertungsbeschlüssen selbst, sondern nur in den tragenden Gründen enthalten sei. Die tragenden Gründen seien integraler Teil der Beschlussfassung und nähmen an der Bindungswirkung der Beschlüsse teil. Der Beigeladene zu 2 habe mit seinem Hinweis das „Ob“ der Überschreitung der Preisobergrenze bejaht. Es handele sich sicher um eine Aussage zum Nutzen des Arzneimittels. Dies habe die Beklagte beachten müssen. In einem anderen Schiedsspruch vom 17. Januar 2023 zu Dostarlimab habe die Beklagte einen gleichlautenden Hinweis des Beigeladenen zu 2 in den tragenden Gründen als Türöffner für die Anerkennung einer Ausnahme von der Sollregelung angesehen. Der Hinweis auf die „relevante Therapieoption“ sei auch kein bloßer Versorgungshinweis an Ärzte. Ein solcher Hinweis wäre für die Ärzte völlig bedeutungslos und es sei nicht erklärbar, weshalb er sich nur in einem geringen Prozentsatz der Fälle finde, obwohl diese Binsenweisheit für sämtliche Arzneimittel gelte. Sinnvoll sei der Hinweis nur für Therapiesituationen, in denen die Verordnung des zu bewertenden Arzneimittels trotz kostengünstigerer Alternativen wirtschaftlich sei, weil eine Versorgungslücke bestehe. Der Beigeladene zu 2 habe verbindlich eine Versorgungslücke festgestellt, die im Einzelfall trotz etwaiger Preisunterschiede wirtschaftlich mit Selpercatinib geschlossen werden könne. Ebenso beurteilungsfehlerhaft sei die Überlegung, dass kleinere Patientenpopulationen nicht selten seien und zudem zu erwarten sei, dass Fälle wie der vorliegende angesichts der Zunahme zielgerichteter Therapien in Zukunft häufiger aufträten. Der Verweis auf zukünftige Fälle sei bereits deshalb fehlerhaft, weil der Zeitpunkt der Schiedsstellenentscheidung maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt sei. Darüber hinaus sei es sehr naheliegend, die Patientenanzahl bei der Prüfung einer Ausnahme von der Preisobergrenze zu berücksichtigen, da die Preisobergrenze bei einer geringen Patientenanzahl nur hinsichtlich eines kleinen Teils der GKV-Versorgung durchbrochen werde. Bei den NSCLC-, nMTC- und MTC-Erkrankungen mit RET-Veränderungen handele es sich um sehr seltene Erkrankungen mit geringen Patientenzahlen. Die Anerkennung einer Ausnahme bei geringen Patientenzahlen entspreche § 35a Abs. 1 Satz 11 SGB V, der einen Zusatznutzen für Orphan Drugs gesetzlich feststelle. Von dieser Vorschrift profitiere Selpercatinib nur deshalb nicht, weil die Europäische Kommission bei der Beurteilung der Seltenheit einer Erkrankung auf die Gesamterkrankung und nicht auf Genveränderungen abstelle. Die Umwandlung der Muss- in eine Sollvorgabe ermögliche hier eine flexiblere Handhabung. Die Schweizer Arzneimittelzulassungsbehörde habe Selpercatinib für die hier relevanten Indikationsgebiete als Orphan Drug zugelassen. Auch dies verdeutliche, wie nahe es liege, eine Ausnahme von der Preisobergrenzenregelung zu machen. Selpercatinib wirke hochspezifisch und sei deshalb in besonderer Weise geeignet, das grundsätzlich geltende Regel-Ausnahme-Verhältnis zu wahren. Die besondere Versorgungsrelevanz sei durch die Zulassung nach Art. 14-a der VO (EG) Nr. 726/2004 bestätigt worden. Auch das weitere Argument der Beklagten, Produkte nicht zu belohnen, die in allen Anwendungsgebieten keinen Zusatznutzen hätten, sei fehlerhaft. Es widerspreche dem Schiedsspruch zu Olaparib vom 4. März 2022. Der fehlende Zusatznutzen sei gerade Voraussetzung der Durchbrechung der Soll-Vorschrift. Unter welchen Voraussetzungen überhaupt eine Ausnahme von der Soll-Regelung möglich sei, bleibe offen. Dies verfehle den gesetzlich übertragenen Gestaltungsauftrag. Der Gesetzgeber habe an die Systembeteiligten die Erwartung gerichtet, neue Sachverhalte und Entwicklungen angemessen abzubilden. Dazu gehöre auch, den Besonderheiten des auf RET-Genveränderungen zielenden Selpercatinib, die im Rahmen der Nutzenbewertung nach der Methodik des Beigeladenen zu 2 nicht erfasst würden, auf der Ebene der Bestimmung des Erstattungsbetrags Rechnung zu tragen.
Im vorliegenden Fall sei allein eine Überschreitung der Preisobergrenze beurteilungsfehlerfrei gewesen. Dies folge daraus, dass angesichts der geringen Patientenzahlen unter Zugrundelegung der Methodik des Beigeladenen zu 2 besondere Schwierigkeiten bestünden, einen Zusatznutzen darzustellen und zu belegen. Die dafür erforderlichen Daten könnten im Zeitpunkt der Zulassungserteilung nicht vorliegen, die Durchführung klinischer Studien sei erschwert. Die Beklagte habe nicht berücksichtigt, dass die Klägerin Selpercatinib bereits ab März 2021 im Wege der bedingten Zulassung frühzeitig zur Verfügung gestellt habe. Im Schiedsspruch vom 17. Januar 2023 zu Dostarlimab habe die Beklagte diesen Umstand zur Begründung einer Ausnahme von der Soll-Vorgabe herangezogen. Sie entscheide inkonsistent.
Für eine Ausnahme spreche des Weiteren, dass bei einem Wegfall von Selpercatinib die Versorgung von schwer erkrankten Patienten – auch von Kindern und Jugendlichen – gefährdet wäre. Die Fachgesellschaften und klinischen Experten hätten bestätigt, dass Selpercatinib für die Versorgung essentiell sei. Dies werde durch die bedingte Zulassung bestätigt, da ein ungedeckter medizinischer Bedarf und damit eine Versorgungslücke Voraussetzung der bedingten Zulassung sei. Die Beklagte habe § 130b Abs. 4 Satz 2 SGB V missachtet, wonach die Schiedsstelle unter freier Würdigung aller Umstände des Einzelfalls zu entscheiden und dabei die Besonderheiten des jeweiligen Therapiegebietes zu berücksichtigen habe.
Die Klägerin beantragt,
den Schiedsspruch der Beklagten vom 9. Juni 2022 zur Festsetzung des Vertragsinhalts für das Arzneimittel Retsevmo® (Wirkstoff Selpercatinib) aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, über den Schiedsantrag unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Ihrer Auffassung nach ist der Schiedsspruch nicht zu beanstanden. Sie sei nicht verpflichtet gewesen, den Kostendeckel des § 130b Abs. 3 Satz 1 SGB V aF zu durchbrechen. Die Schiedsstelle verfüge auch hinsichtlich der Frage, ob ein Ausnahmefall vorliege, über einen gerichtlich nur eingeschränkt kontrollierbaren Beurteilungsspielraum. Der gerichtlichen Kontrolle seien schon durch das Fehlen von gesetzlichen Vorgaben für die Anerkennung eines Ausnahmefalls und dessen Einzelfallabhängigkeit Grenzen gesetzt. Eine Reduktion des Beurteilungsspielraums dahingehend, dass trotz der grundsätzlichen Wertung der Soll-Regelung ein Ausnahmefall vorliege und entsprechende preisrechtliche Konsequenzen gezogen werden müssten, werde dadurch sehr unwahrscheinlich. Ausgehend davon griffen die Einwände der Klägerin nicht durch. Soweit die Klägerin bemängele, dass die Beklagte die Bindung an die Nutzenbewertungsbeschlüsse missachtet habe, sei zu beachten, dass die Entscheidung über die Durchbrechung der Soll-Vorgabe nicht dem GBA, sondern der Beklagten überantwortet sei. Zwar seien die Feststellungen im Nutzenbewertungsbeschluss von hoher Bedeutung für diese Entscheidung. Hinweise des GBA auf eine „im Einzelfall relevante Therapieoption“ stellten aber nur eine notwendige und keine hinreichende Voraussetzung für die Durchbrechung der Soll-Regelung dar. Soweit in den Gesetzesmaterialien davon die Rede sei, dass es „im Einzelfall“ eine Durchbrechung der Soll-Regelung geben könne, beziehe sich diese Formulierung – anders als die Klägerin meine – nicht auf geringe Patientenzahlen. Eine geringe Patientenzahl sei als solche nicht von Bedeutung für die Durchbrechung der Soll-Vorgabe. Der Verweis auf die Orphan-Drugs-Regelungen überzeuge nicht. Da ansonsten für Arzneimittel mit kleinen Patientenpopulationen gesetzlich Nichts geregelt sei, liege eher ein Umkehrschluss nahe. Darüber hinaus missverstehe die Klägerin den Hinweis darauf, dass Selpercatinib in allen Anwendungsgebieten keinen Zusatznutzen habe. Im Rahmen einer Mischpreisbildung bestehe eine gewisse Flexibilität, wenn in einigen Subgruppen ein Zusatznutzen nachgewiesen worden sei. Diese Flexibilität bestehe hier nicht, weil dies für Selpercatinib in keiner Patientensubgruppe gelungen sei. Wollte man darauf reagieren, indem die preisliche Flexibilität im Wege der Durchbrechung der Soll-Vorgabe geschaffen werde, führte dies zu einer sinnwidrigen Privilegierung derjenigen Präparate, für die gar kein Zusatznutzen habe belegt werden können. Die darüber hinaus von der Klägerin genannten Argumente seien für die Schiedsstellenentscheidung von Bedeutung gewesen, könnten aber schwerlich zur Folge haben, dass allein eine Durchbrechung der Soll-Regelung den rechtlichen Vorgaben entspräche. Die Klägerin greife daher auf die Gleichheits- und Konsistenzerwägung zurück, dass die vorliegende Entscheidung im Widerspruch zum Schiedsspruch im Verfahren zu Dostarlimab stehe. Diese Erwägung sei jedoch schon deshalb verfehlt, weil der Schiedsspruch zu Dostarlimab erst im Jahr 2023 – nach der hier streitigen Entscheidung vom 9. Juni 2022 – ergangen sei.
Der Beigeladene zu 1 beantragt ebenfalls,
die Klage abzuweisen.
Der Beigeladene zu 1 führt aus, dass der Schiedsspruch vom 9. Juni 2022 rechtmäßig sei. Ein atypischer Fall, der eine Abweichung von der Preisobergrenze erforderlich mache, liege nicht vor. Der Verweis des Beigeladenen zu 2 auf Selpercatinib als in Einzelfällen relevante Therapieoption begründe keinen solchen Fall. Es sei selbstverständlich, dass Arzneimittel eine relevante Therapieoption darstellen könnten. Die Formulierung sei seit dem Jahr 2017 vor der hier streitigen Schiedsstellenentscheidung in über 20 Beschlüssen verwendet worden. Es handele sich lediglich um einen Versorgungshinweis an die behandelnden Ärzte. Der GBA könne nach der gesetzlichen Systematik keine preisrechtliche Entscheidung treffen. Auch die geringe Patientenzahl rechtfertige keine Ausnahme. Geringe Patientenzahlen gebe es regelmäßig. Für Arzneimittel, die zur Behandlung eines seltenen Leidens zugelassen und damit unweigerlich wenige Patienten beträfen, gelte die Fiktion des Zusatznutzens für Orphan Drugs in § 35a Abs. 1 Satz 11 SGB V. Eine weitere Privilegierung habe der Gesetzgeber nicht für notwendig erachtet. Ebenso wenig liege ein atypischer Fall im Hinblick darauf vor, dass die Behandlung mit Selpercatinib eine zielgerichtete, spezifisch wirkende Therapie darstelle. Die personalisierte, zielgerichtete Medizin sei ein umfassendes Gebiet, in dem unzählige Substanzen von verschiedenen Herstellern entwickelt und auf den Markt gebracht würden. Den Zusatznutzen der zielgerichteten Therapie mit Selpercatinib habe die Klägerin gerade nicht nachweisen können. Schwierigkeiten bei der Evidenzgenerierung sowie die bedingte Zulassung von Selpercatinib begründeten ebenfalls keinen Ausnahmefall. Eine bedingte Zulassung bedeute, dass die ihr zugrunde liegenden Daten noch unreif seien. Unreife Daten könnten zu einer bedingten, frühen Zulassung führen, seien aber zweifelsohne kein Qualitätskriterium derart, dass deshalb das Preisniveau gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie angehoben werden müsste. Es sei nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber durch die Regelung in § 130b Abs. 3 Satz 1 SGB V aF eine Privilegierung für bedingte arzneimittelrechtliche Zulassungen haben einführen wollen. Bei einem Wegfall von Selpercatinib sei die Versorgung nicht gefährdet, da es ausweislich der Nutzenbewertungsbeschlüsse genug Versorgungsalternativen gebe. Dies gelte im Anwendungsgebiet MTC auch für Kinder und Jugendliche. Auch methodische Schwierigkeiten bei der Darstellung des Zusatznutzens seien nicht maßgeblich. Zulassungsverfahren, Nutzenbewertungsverfahren und Erstattungsbetragsverfahren beträfen unterschiedliche Regelungskreise mit unterschiedlichen Anforderungen. Es könne nicht Sinn des Erstattungsbetragsverfahrens sein, dass pharmazeutische Unternehmer mit unreifen Daten früh ihre Produkte auf den Markt brächten und dann einen höheren Preis forderten.
Der Beigeladene zu 2 hat keinen Antrag gestellt. Er macht geltend: Die Sichtweise der Klägerin, dass sich die Formulierung „relevante Therapieoption im Einzelfall“ in den Nutzenbewertungsbeschlüssen eng an der Gesetzesbegründung zur Umgestaltung der Preisobergrenze des § 130b SGB V in eine Soll-Regelung anlehne, scheitere bereits an der diesbezüglich fehlenden Regelungskompetenz des Beigeladenen zu 2. Es handele sich lediglich um Therapiehinweise an die Ärzte.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Klage hat keinen Erfolg.
A. Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg ist nach § 29 Abs. 4 Nr. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) für Klagen gegen Entscheidungen der Schiedsstelle nach § 130b SGB V im ersten Rechtszug sachlich zuständig.
B. Die Klage ist zulässig. Gegenstand des Verfahrens ist der Schiedsspruch der Beklagten vom 9. Juni 2022. Gegen diesen Schiedsspruch wendet sich die Klägerin zulässig mit der Anfechtungs- und Bescheidungsklage (§§ 54 Abs. 1 Satz 1, 131 Abs. 3 SGG). Ihr Begehren ist auf die Änderung des Schiedsspruchs im Hinblick auf die Festsetzung des Erstattungsbetrags und die Verpflichtung der Schiedsstelle zur neuen Entscheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats gerichtet (vgl. BSG, Urteil vom 22. Februar 2023, B 3 KR 6/21 R, zitiert nach juris, Rn. 11). Die Klägerin ist als pharmazeutisches Unternehmen klagebefugt (vgl. Urteil des Senats vom 27. Januar 2020, L 9 KR 82/19 KL, zitiert nach juris, Rn. 62). Eines Vorverfahrens bedurfte es nicht (§ 130b Abs. 4 Satz 6 SGB V). Die Klagefrist von einem Monat (§ 87 Abs. 1 Satz 1 SGG) ist gewahrt.
Nicht Gegenstand des Verfahrens sind die Nutzenbewertungsbeschlüsse des Beigeladenen zu 2 vom 2. September 2021. Die Klägerin wendet sich allein dagegen, dass die beklagte Schiedsstelle bei der Festsetzung des Erstattungsbetrags für Selpercatinib keine Ausnahme von der Soll-Vorgabe in § 130b Abs. 3 Satz 1 SGB V aF gemacht hat, die Jahrestherapiekosten der zweckmäßigen Vergleichstherapie nicht zu überschreiten.
C. Die Klage ist unbegründet.
I. Die angefochtene Festsetzung des Erstattungsbetrages durch die beklagte Schiedsstelle nach Maßgabe der Soll-Regelung des § 130b Abs. 3 Satz 1 SGB V aF ist nicht zu beanstanden.
1. Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Schiedsspruchs ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Festlegung des Vertragsinhalts durch die Entscheidung der Schiedsstelle (vgl. BSG, Urteil vom 12. August 2021, B 3 KR 3/20 R, zitiert nach juris, Rn. 40). Im vorliegenden Verfahren ist daher die Sach- und Rechtslage am 9. Juni 2022 maßgeblich.
2. Rechtsgrundlage des Schiedsspruchs ist § 130b SGB V aF. Die Schiedsstelle nach § 130b Abs. 5 SGB V setzt auf Grundlage des Beschlusses des GBA über die Nutzenbewertung nach § 35a Abs. 3 SGB V den Vertragsinhalt fest (§ 130b Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4 Satz 1 SGB V; vgl. BSG, Urteil vom 22. Februar 2023, B 3 KR 6/21 R, zitiert nach juris, Rn. 14). Sie entscheidet unter freier Würdigung aller Umstände des Einzelfalls und berücksichtigt dabei die Besonderheiten des jeweiligen Therapiegebietes (§ 130b Abs. 4 Satz 2 SGB V).
Für ein Arzneimittel, das – wie im vorliegenden Fall – nach dem Nutzenbewertungsbeschluss nach § 35a Abs. 3 SGB V keinen Zusatznutzen hat und keiner Festbetragsgruppe zugeordnet werden kann, „soll“ ein Erstattungsbetrag vereinbart werden, der nicht zu höheren Jahrestherapiekosten führt als die nach § 35a Abs. 1 Satz 7 SGB V bestimmte zweckmäßige Vergleichstherapie (§ 130b Abs. 3 Satz 1 SGB V aF); sind nach § 35a Abs. 1 Satz 7 SGB V mehrere Alternativen für die zweckmäßige Vergleichstherapie bestimmt, „soll“ der Erstattungsbetrag nicht zu höheren Jahrestherapiekosten führen als die wirtschaftlichste Alternative (§ 130b Abs. 3 Satz 2 SGB V aF, vgl. BSG, Urteil vom 12. August 2021, B 3 KR 3/20 R, zitiert nach juris, Rn. 43). Die Jahrestherapiekosten der Vergleichstherapie bilden dabei nur eine Obergrenze. Eine auch deutliche Unterschreitung dieser Linie ist gesetzlich nicht ausgeschlossen (vgl. Luthe in: Hauck/Noftz SGB V, Stand 4. EL 2025, § 130b, Rn. 65).
Mit der Einführung dieser Soll-Regelungen anstelle der zuvor strikten Begriffe wurde der Spielraum bei der Festlegung des Erstattungsbetrags „moderat erweitert“ (vgl. BSG, Urteil vom 28. März 2019, B 3 KR 2/18 R, zitiert nach juris, Rn. 44). Im Einzelnen heißt es dazu im Entwurf des Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetzes (BT-Drs. 18/10208, S. 36):
„Mit der Änderung wird der Verhandlungsspielraum von GKV-Spitzenverband und pharmazeutischem Unternehmer bei der Vereinbarung des Erstattungsbetrags in Einzelfällen erweitert. Die derzeitige Regelung schreibt vor, dass für Arzneimittel, für die ein Zusatznutzen nach § 35a nicht belegt ist und die keiner Festbetragsgruppe zugeordnet werden können, ein Erstattungsbetrag zu vereinbaren ist, der nicht zu höheren Jahrestherapiekosten führt als die zweckmäßige Vergleichstherapie. Sind mehrere zweckmäßige Vergleichstherapien bestimmt, darf der Erstattungsbetrag nicht zu höheren Jahrestherapiekosten führen als die wirtschaftlichste Alternative. Daran soll im Grundsatz festgehalten werden. Für ein Arzneimittel, für das keine therapierelevanten Vorteile in der Versorgung belegt sind, kann gegenüber der Standardtherapie auch weiterhin kein höherer Preis beansprucht werden. Durch die Regelung wird der Verhandlungsspielraum jedoch für den Einzelfall erweitert. Wie sich in der Praxis gezeigt hat, kann die derzeitige enge und unflexible Vorgabe es in bestimmten Einzelfällen erschweren, einen angemessenen Preis zu vereinbaren. Dies kann zum Beispiel der Fall sein, wenn für unterschiedliche Patientengruppen unterschiedliche, im Preis stark divergierende Vergleichstherapien bestimmt sind. Durch die ‚Soll‘-Formulierung ist klargestellt, dass diese Flexibilisierung nur im begründeten Einzelfall zum Tragen kommt und im Regelfall die Bindung an den Preis der zweckmäßigen Vergleichstherapie weiterbesteht.“
3. Bei der Festlegung des Erstattungsbetrags nach § 130b Abs. 3 Satz 1 SGB V aF verfügt die Schiedsstelle über einen weiten Gestaltungsspielraum, der nur einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle zugänglich ist.
a. Der Gesetzgeber misst der Struktur des Einigungs- und Aushandlungsprozesses besondere Bedeutung bei. Dieser Prozess soll in erster Linie zu einer Einigung zwischen den Beteiligten führen. Kommt eine Einigung nicht zustande, führt die paritätisch und sachkundig besetzte Schiedsstelle zunächst als Vermittlerin den Verhandlungsprozess fort, um noch auf diesem Weg eine einvernehmliche Lösung zu erwirken. Erst wenn auch dieses Vorgehen gescheitert ist, ersetzt die Schiedsstelle durch eine Mehrheitsentscheidung der Mitglieder die offen gebliebenen Regelungen. Dieses austarierte Verhandlungssystem bietet vor allem durch seine an vertraglichen Vereinbarungen orientierten strukturellen Vorgaben sowie die sachkundig und teils paritätisch, teils unparteiisch besetzte Schiedsstelle eine hinreichende Gewähr dafür, zu akzeptablen Inhalten der Schiedssprüche zu gelangen. Unter Berücksichtigung der materiell-rechtlichen gesetzlichen und untergesetzlichen Vorgaben bildet diese Verfahrensweise ein gegen willkürliche Entscheidungen der Schiedsstelle hinreichend abgesichertes Gesamtsystem; gewisse Unwägbarkeiten bei der Festsetzung des Erstattungsbetrages sind hinzunehmen (vgl. Urteil des Senats vom 27. Januar 2020, L 9 KR 82/19 KL, zitiert nach juris, Rn. 122). Die Vertragsgestaltungsfreiheit, die der gerichtlichen Überprüfung Grenzen setzt, ist für die Schiedsstelle nicht geringer als diejenige der Vertragspartner einer im Wege freier Verhandlung erzielten Vereinbarung. Entscheidungen der Schiedsstelle nach § 130b Abs. 5 SGB V unterliegen daher einer gerichtlichen Kontrolle nur darauf hin, ob die Schiedsstelle zwingendes Gesetzesrecht beachtet, den bestehenden Gestaltungsspielraum eingehalten und den zugrunde gelegten Sachverhalt in einem fairen Verfahren unter Wahrung des rechtlichen Gehörs hinreichend ermittelt hat (vgl. BSG, Urteile vom 12. August 2021, zitiert nach juris, Rn. 39, und vom 5. Juni 2024, B 6 KA 10/23 R, zitiert nach juris, Rn. 18; vgl. auch Urteil des Senats vom 26. April 2023, L 7 KA 19/22 KL, zitiert nach juris, Rn. 55).
b. Bei der Prüfung, ob ein „begründeter Einzelfall“ vorliegt, in dem ausnahmsweise eine Abweichung von der gesetzlichen Soll-Regelung des § 130b Abs. 3 Satz 1 SGB V aF und Durchbrechung der Preisobergrenze geboten ist, kommt der gerichtsfreie weite Gestaltungsspielraum der beklagten Schiedsstelle in besonderem Maße zum Tragen (vgl. Urteil des Senats vom 27. Januar 2020, L 9 KR 82/19 KL, zitiert nach juris, Rn. 137). Kennzeichen der Soll-Regelung ist ihre normative Offenheit. Sie ermöglicht es, Billigkeits- und Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten Rechnung zu tragen (vgl. auch die Gesetzesbegründung BT-Drs. 18/10208, S. 36, wonach die Flexibilisierung dazu dient, im Einzelfall einen „angemessenen“ Preis zu vereinbaren). Dadurch unterscheidet sie sich von Regelungen, deren tatbestandliche Voraussetzungen abschließend durch den Gesetzgeber ausformuliert sind und die keinen Spielraum für eine differenzierende Betrachtung eröffnen (vgl. zu einer solchen Regelung LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 26. April 2023, L 7 KA 19/22, zitiert nach juris, Rn. 59; BSG, Urteil vom 5. Juni 2024, B 6 KA 10/23 R, zitiert nach juris, Rn. 20). Dabei ist die Rechtsfolge bei Vorliegen der gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen der Soll-Regelung regelmäßig vorgezeichnet; von ihr kann nur in atypischen Fällen nach Ermessen abgewichen werden (vgl. auch Becker/Kingreen/Axer, SGB V, 7. Aufl. 2020, § 130b Rn. 18: „besonderer, von den anderen Fällen deutlich unterscheidbarer Grund, der vom pharmazeutischen Unternehmer darzulegen ist“). Ausgehend davon wird der weite Gestaltungsspielraum der Schiedsstelle in Fällen wie dem vorliegenden bereits dann fehlerfrei gehandhabt, wenn sich nur eine einigermaßen plausible Begründung dafür findet, in dem betreffenden Wirkstoff keinen „Sonderfall“ zu sehen (vgl. Urteil des Senats vom 27. Januar 2020, L 9 KR 82/19 KL, zitiert nach juris, Rn. 137).
c. Angesichts des Kompromisscharakters des Schiedsspruchs und des weiten Gestaltungsspielraums sind an die Begründung des Schiedsspruchs keine hohen Anforderungen zu stellen. Es genügt, dass die Gründe wenigstens andeutungsweise erkennbar sind (vgl. BSG, Urteil vom 4. Juli 2018, B 3 KR 21/17 R, zitiert nach juris, Rn. 41; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 24. April 2024, L 16 KR 311/20 KL, zitiert nach juris, Rn. 65).
4. Ausgehend von diesen Maßstäben ist der Schiedsspruch rechtmäßig. Die Entscheidung der Schiedsstelle, den Erstattungsbetrag nach Maßgabe der Kosten der Vergleichstherapien festzulegen und keinen atypischen, eine Abweichung von der gesetzlichen Soll-Regelung des § 130b Abs. 3 Satz 1 SGB V aF rechtfertigenden Fall anzuerkennen, leidet unter keinem Beurteilungsfehler und ist nicht zu beanstanden.
a. Aus dem von der Klägerin genannten Schiedsspruch vom 17. Januar 2023 zu Dostarlimab kann die Klägerin bereits deshalb nichts für sich herleiten, weil maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt der Zeitpunkt der Festlegung des Vertragsinhalts durch die Entscheidung der Schiedsstelle am 9. Juni 2022 ist.
b. Im Übrigen sind die Gründe der Beklagten dafür, sich an die gesetzliche Regelvorgabe zu halten und keinen atypischen Ausnahmefall anzunehmen, ausreichend tragfähig. Dass die Beklagte ihren Gestaltungsspielraum fehlerhaft ausgeübt oder (zwingende) gesetzliche Vorgaben missachtet hätte, ist nicht ersichtlich.
aa. Die Beklagte hat zunächst zutreffend erkannt, im Ausnahmefall einen Erstattungsbetrag oberhalb der Preisobergrenze festlegen zu können. Sie hat den Schiedsspruch diesbezüglich eingehend begründet und insbesondere ausgeführt, es sei intensiv erörtert worden, von der Soll-Vorschrift abzuweichen.
bb. Der Hinweis der Beklagten darauf, dass die Durchbrechung der Soll-Regelung nicht zur Monetarisierung eines – vom GBA nicht anerkannten, fiktiven – Zusatznutzens führen dürfe, ist nicht zu beanstanden. Insbesondere die Ausführungen der Klägerin zur Berechnung des von ihr genannten Erstattungsbetrages von 1,2448 Euro lassen darauf schließen, dass es ihr bei der geforderten Durchbrechung der Preisobergrenze vor allem um die Monetarisierung eines Zusatznutzens geht. Denn sie hat zu den Jahrestherapiekosten zweckmäßiger Vergleichstherapien einen Wert für einen Zusatznutzen von Retsevmo® hinzuaddiert, den sie anhand von zusätzlichen progressionsfreien Monaten bei Anwendung von Retsevmo® und den monatlichen Kosten für die Vergleichstherapien bestimmt hat. Zudem hat sie in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat einen „kleinen“ Zusatznutzen bzw. „Quasi-Zusatznutzen“ zur Begründung eines Ausnahmefalls angeführt.
Diese Begründung für eine Durchbrechung der Preisobergrenze durfte die Beklagte ohne Weiteres zurückweisen. Denn einen (fiktiven) Zusatznutzen im Wege einer Ausnahme von der Soll-Regelung des § 130b Abs. 3 Satz 1 SGB V aF zu monetarisieren, läuft der zweistufigen gesetzlichen Regelungssystematik der Preisregulierung grundsätzlich entgegen. Auf der ersten Stufe bewertet der GBA den medizinischen Nutzen von in der GKV erstattungsfähigen Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen. Auf der zweiten Stufe erfolgt die wirtschaftliche Preisregulierung des Arzneimittels in der GKV. Dem Schiedsverfahren auf der zweiten Stufe der Preisregulierung obliegt es nicht, Bewertungen nachzuholen, die nach der Regelungssystematik der ersten (Nutzenbewertungs-)Stufe zugewiesen sind (vgl. BSG, Urteil vom 12. August 2021, zitiert nach juris, Rn. 53). Dies legt auch die Gesetzesbegründung zur Einführung der Soll-Regelung nahe, in der es heißt, dass für ein Arzneimittel, für das keine therapierelevanten Vorteile in der Versorgung belegt sind, weiterhin kein höherer Preis gegenüber der Standardtherapie beansprucht werden kann (vgl. BT-Drs. 18/10208, S. 36).
cc. Soweit die Beklagte darüber hinaus in den Hinweisen in den tragenden Gründen der Beschlüsse des GBA vom 2. September 2021, dass Selpercatinib „im Einzelfall“ bzw. „in Einzelfällen“ eine „relevante Therapieoption“ darstellen könne, keinen Grund für die Durchbrechung der Preisobergrenze gesehen hat, begegnet dies – unter Berücksichtigung der eingeschränkten Kontrolldichte – keinen durchgreifenden Bedenken. Dies folgt bereits daraus, dass diese Hinweise schon ihrem Inhalt nach – unabhängig von der Reichweite der rechtlichen Bindungswirkung der Beschlüsse und ihrer Begründungsteile – nicht dahingehend verstanden werden müssen, dass Selpercatinib bei der Preisbildung zu privilegieren ist. Die Beschreibung als „relevant“ bezieht sich auf die „Therapie“ mit Selpercatinib und impliziert nicht automatisch eine Relevanz in Bezug auf die Anerkennung eines Ausnahmefalls. Dies gilt umso mehr, als der GBA für die Preisbildung nicht zuständig ist und selbst mehrfach ausdrücklich erklärt hat, dass es sich bei den betreffenden Hinweisen in den tragenden Gründen seiner Beschlüsse lediglich um Versorgungshinweise an Ärzte handele.
Ebenso wenig musste die Beklagte daher annehmen, dass der GBA mit seinen Hinweisen das „Ob“ der Überschreitung der Preisobergrenze bejaht oder mit „im Einzelfall“ bzw. „in Einzelfällen“ den in der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/10208, S. 36) genannten „begründeten Einzelfall“ gemeint hat. Die Formulierung „im Einzelfall“ bzw. „in Einzelfällen“ bezieht sich vielmehr auf die Therapie einzelner Patienten, während der „begründete Einzelfall“ die Gesetzestechnik der Soll-Vorschrift – mit einer gesetzlichen Regel, von der lediglich im Ausnahmefall abgewichen werden kann – in Bezug nimmt.
dd. Im Übrigen hat die Beklagte ihren Schiedsspruch damit begründet, dass Hinweise wie die in den Beschlüssen vom 2. September 2021 in den tragenden Gründen von Nutzenbewertungsbeschlüssen nicht so selten seien, dass daraus ein atypischer Ausnahmefall abgeleitet werden könne (zu weiteren Beispielen aus der Zeit vor dem hier streitigen Schiedsspruch siehe Anlage 1 des Schriftsatzes des Beigeladenen zu 1 vom 10. April 2024, Bl. 255 bis 265 der Gerichtsakte). Diese Wertung ist – unter Berücksichtigung der eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle – hinzunehmen, zumal sich die in den Beschlüssen vom 2. September 2021 verwendete Formulierung („im Einzelfall eine relevante Therapieoption darstellen“) deutlich von derjenigen unterscheidet, die – im Zusammenhang mit der Forderung nach einer Flexibilisierung der Regelungen zum Erstattungsbetrag – im Bericht zu den Ergebnissen des Pharmadialogs (vom 12. April 2016) enthalten ist („wichtige zusätzliche Therapieoption“) und auf die die Klägerin verweist.
ee. Ebenfalls nicht zu beanstanden ist die Auffassung der Beklagten, dass die geringe Patientenzahl in den einzelnen Anwendungsgebieten und die damit zusammenhängende Schwierigkeit, mit Studien einen Zusatznutzen zu belegen, noch keinen Ausnahmefall i.S.d. § 130b Abs. 3 Satz 1 SGB V begründet. Die Beklagte hat auch insoweit jedenfalls plausibel darauf abgestellt, dass ein solcher Sachverhalt nicht atypisch ist.
Ergänzend bemerkt der Senat, dass bei Arzneimitteln für seltene Leiden („Orphan Medicinal Products“) spezielle Regelungen gelten. Diese können von der Europäischen Kommission nach der Verordnung (EG) 141/2000 zugelassen werden. Nach § 35a Abs. 1 Satz 11 SGB V gilt der Zusatznutzen dieser Arzneimittel durch die Zulassung als belegt, weshalb grundsätzlich keine Nachweise zum Nutzen und Zusatznutzen vorgelegt werden müssen (vgl. Pitz in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, § 35a SGB V, Stand: 1. April 2025, Rn. 40). Von dieser Vorschrift profitiert Selpercatinib nach den Angaben der Klägerin nicht, weil bei der Beurteilung der Seltenheit einer Erkrankung auf die Gesamterkrankung und nicht auf Genveränderungen abgestellt werde. Ausgehend davon spricht Einiges dafür, die Seltenheit der Genveränderungen auch deshalb nicht oder nicht mit durchschlagendem Gewicht (als „Quasi-Seltenheitsfall“) bei der Prüfung, ob eine Ausnahme vorliegt, zu berücksichtigen, weil dadurch die nur für Orphan Medicinal Products unter den Voraussetzungen der Verordnung (EG) 141/2000 vorgesehene Privilegierung unterlaufen würde. Jedenfalls liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass mit der Einführung der flexibleren Soll-Regelung des § 130b Abs. 3 Satz 1 SGB V aF Lücken der bestehenden speziellen Regelungen über die Privilegierung von Orphan Medicinal Products geschlossen werden sollten. Ebenso wenig ist ersichtlich, dass die Soll-Regelung dazu dient, die von der Klägerin beschriebenen methodischen Unzulänglichkeiten des Nutzenbewertungsverfahrens, die ihrer Auffassung nach die Anerkennung eines Zusatznutzen erschweren, auf der Ebene der wirtschaftlichen Preisregulierung zu kompensieren. Dafür gibt insbesondere die Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drs. 18/10208, S. 36) nichts her.
ff. Die weitere, gegen einen atypischen Fall angeführte Erwägung im angegriffenen Schiedsspruch, es sei „zudem […] zu erwarten“, dass Konstellationen mit überschaubaren Patientenpopulationen in den einzelnen Anwendungsgebieten angesichts der Zunahme zielgerichteter Therapien häufiger würden, ist ebenfalls nicht zu beanstanden. Es begegnet keinen grundsätzlichen Bedenken, dass die Beklagte bei der Beurteilung, ob ein atypischer Fall vorliegt, zukünftige Entwicklungen einbezieht. Im Übrigen misst der Senat dem zukunftsbezogenen Hinweis der Beklagten keine derart tragende Bedeutung zu, dass dessen (unterstellte) Fehlerhaftigkeit zur Rechtswidrigkeit des Schiedsspruchs führen könnte.
gg. Soweit die Beklagte im Schiedsspruch ausgeführt hat, dass ein atypischer Fall auch deshalb ausscheide, weil in keinem der drei Anwendungsgebiete ein Zusatznutzen habe belegt werden können, leuchtet dies unmittelbar ein. Die Beklagte hat hierzu ergänzend ausgeführt, dass ein Fall, in dem in einigen Subgruppen ein Zusatznutzen habe nachgewiesen werden können und deshalb – im Rahmen einer Mischpreisbildung – eine gewisse Flexibilität geboten sei, nicht vorliege. Auch dies ist nachvollziehbar.
hh. Die Beklagte hat ferner beanstandungsfrei betont, dass der Grundsatz der Bindung an die Kosten der zweckmäßigen Vergleichstherapie nicht in einem zu großen Ausmaß relativiert werden dürfe. Dieser restriktive Ansatz entspricht dem Interesse, die finanzielle Stabilität der GKV sicherzustellen.
Mit diesem Interesse wurde auch die Neuregelung des § 130b SGB V durch das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz vom 7. November 2022 mit Wirkung ab dem 12. November 2022 begründet. In der Gesetzesbegründung heißt es insoweit, dass die Praxis gezeigt habe, dass die Öffnung der Kosten-Obergrenze im begründeten Einzelfall für Arzneimittel ohne Zusatznutzen dazu geführt habe, dass die vereinbarten Erstattungsbeträge regelmäßig oberhalb der wirtschaftlichsten Alternative der zweckmäßigen Vergleichstherapie gelegen hätten und daher die Ausgaben der GKV für Arzneimittel ohne Zusatznutzen auf ein nicht nutzenadäquates Niveau hätten steigen können (vgl. BT-Drs. 20/3448, S. 42 f.).
ii. Aus den allgemeinen Überlegungen im Gesetzgebungsverfahren zum Arzneimittelversorgungsgesetz, es müssten Innovationen und neue Wirkstoffe möglichst schnell den Patienten zur Verfügung gestellt und Versorgungslücken geschlossen werden (Verweis der Klägerin auf BT-Drs. 18/11449, S. 1 und S. 37 f.), kann die Klägerin für die Atypizität des vorliegenden Falles nichts herleiten.
jj. Schließlich musste die Beklagte einen atypischen Fall auch nicht im Hinblick darauf annehmen, dass Selpercatinib gemäß Art. 14-a der VO (EG) Nr. 726/2004 – „zur Schließung medizinischer Versorgungslücken“ (vgl. Abs. 1 Satz 1 des Art. 14-a VO (EG) Nr. 726/2004) – unter besonderen Bedingungen zugelassen wurde. Anknüpfungspunkt für die Bestimmung des Erstattungsbetrages ist, dass das Arzneimittel „nach dem Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses nach § 35a Abs. 3 SGB V“ keinen Zusatznutzen hat (§ 130b Abs. 1 SGB V aF); ein im Rahmen des vorausgegangenen Zulassungsverfahrens erkannter Nutzen, der zudem auf unzureichender Datenlage festgestellt wurde (vgl. Hess in: BeckOGK, Stand 1. Mai 2022, SGB V, § 35a, Rn. 66; vgl. Abs. 1 Satz 1 des Art. 14-a VO (EG) Nr. 726/2004, wonach die Zulassung bereits „in hinreichend begründeten Fällen“ erteilt werden kann), ist nicht maßgeblich (vgl. allgemein zu den unterschiedlichen Zwecken des Arzneimittel[zulassungs]rechts einerseits und des SGB V andererseits Urteil des Senats vom 27. Januar 2020, L 9 KR 514/15, zitiert nach juris, Rn. 124 ff.; Nitz in: PharmR 2021, Seite 10).
Dafür spricht auch, dass in § 130b Abs. 3 Satz 7 SGB V für Arzneimittel nach § 35a Abs. 3b Satz 1 SGB V, zu denen auch die nach Art. 14-a der VO (EG) Nr. 726/2004 zugelassenen Arzneimittel gehören, (allein) eine Neuverhandlung des Erstattungsbetrages nach Ablauf der vom GBA gesetzten Frist zur Durchführung einer anwendungsbegleitenden Datenerhebung angeordnet wurde. Eine Regelung, der zufolge diese Arzneimittel bei der Preisbildung als atypisch zu privilegieren sind, hat der Gesetzgeber in diesem Zusammenhang nicht getroffen.
II. Da der Schiedsspruch rechtmäßig ist, kommt auch die begehrte Verurteilung der Beklagten zur Neubescheidung nicht in Betracht.
D. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 SGG i.V.m. §§ 154 Abs. 1, 154 Abs. 3, 162 Abs. 3 Verwaltungsgerichtsordnung. Die Klägerin hat auch die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen zu 1 zu erstatten, weil der Beigeladene zu 1 einen eigenen Antrag (erfolgreich) gestellt und damit ein eigenes Kostenrisiko übernommen hat (vgl. Stotz in: Schlegel/Voelzke, juris-PK-SGG, Stand 15. Juni 2022, Rn. 135).
E. Der Senat hat die Revision nicht zugelassen, weil Zulassungsgründe (vgl. § 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.