Die Berufung wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Im Streit ist die Genehmigung der Versorgung mit Cannabis.
Der 1980 geborene Kläger ist bei der Beklagten krankenversichert. Er konsumiert seit seiner Jugend Cannabis.
Erstmals im Jahr 2015 stellten behandelnde Ärzte der Spezialambulanz der C für ADHS im Erwachsenenalter bei ihm unter Berücksichtigung der Anamnese, des psychometrischen Befundes und des biografischen Verlaufes eine ADHS im Erwachsenenalter fest. Es liege eine kombinierte Ausprägung vor. Zudem bestehe eine Abhängigkeit von Cannabis. Dem Kläger werde eine suchtmedizinische Behandlung in Bezug auf den Cannabiskonsum empfohlen. Bis zur Erreichung der Abstinenz von Cannabis werde empfohlen, eine pharmakologische Behandlung der ADHS-Symptomatik zurückzustellen.
Im Zusammenhang mit einem Bericht an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte vom 20. Januar 2016 teilte die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. M mit, dass sich der Kläger bei ihr mit dem Wunsch vorgestellt habe, seine Selbstmedikation mit Cannabis in einem legalen Rahmen fortführen zu wollen. Aus der Vorgeschichte ergebe sich der typische Verlauf einer ADHS mit Beginn der Auffälligkeiten im frühen Kindesalter. Sie unterstütze eine Ausnahmeerlaubnis zur medizinischen Verwendung von Cannabisprodukten.
Der Kläger beantragte am 20. August 2018 bei der Beklagten die Übernahme der Kosten der Therapie mit Cannabis. Der Facharzt für Innere Medizin Dr. K teilte unter dem 31. August 2018 im Rahmen eines Fragebogens mit, dass dem Kläger Cannabinoidmedikamente verordnet werden sollen. Behandelt werden solle eine hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens, kombinierte Ausprägung F 90.8.
Die Beklagte holte eine Stellungnahme des medizinischen Dienstes der Krankenversicherung e. V. (MDK) ein. Dieser gelangte im Gutachten nach Aktenlage vom 18. September 2018 durch Dr. V zum Ergebnis, dass beim Kläger die Diagnose ICD-10 F 90.8 vorliege. Die Erkrankung sei nicht schwerwiegend. Niedrigschwellige Behandlungsoptionen seien nicht ausgeschöpft worden. Die Störung könne mit Psycho- und Soziotherapie behandelt werden. Die Impulsivität könne je nach psychiatrischer Komorbidität mit antidepressiv und neuroleptischen wirkenden Psychopharmaka behandelt werden. Durch Behandlung mit Canabioniden bestehe keine Aussicht auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf. Die psychiatrische Störung und die Suchtanamnese stellten Kontraindikationen dar.
Die Beklagte lehnte daraufhin mit Bescheid vom 19. September 2018 den Antrag auf Übernahme der Kosten von Cannabis ab.
Der Kläger erhob Widerspruch. Sein Behandler Dr. K äußerte sich unter dem 22. Oktober 2018, es bestehe kein annähernd vernünftiger Zweifel an der Wirksamkeit der Medikation beim Kläger. Die bei ihm vorliegende Störung sei unbehandelt extrem schwerwiegend. Die vom MDK vorgeschlagenen Therapiealternativen reichten zur Behandlung nicht aus. Die Gabe von Stimulanzien sei kontraindiziert. Dr. M teilte mit Schreiben vom 26. Oktober 2018 mit, den Antrag des Klägers auf Kostenübernahme zu unterstützen. Die Diagnose der kombinierten ADHS sei im Jahr 2015 von der entsprechenden Spezialambulanz gestellt worden. Eine Behandlung mit Atomoxetin habe abgebrochen werden müssen. Sie widerspreche der Aussage, es bestünden psychiatrischerseits unausgeschöpfte Behandlungsoptionen.
Unter dem 14. November 2018 erstellte Dr. V ein weiteres sozialmedizinisches Gutachten für den MDK nach Aktenlage und wies darin auf die S 3-Leitlinie der Fachgesellschaften zu ADHS hin, wonach Cannabis für die Behandlung dieser Krankheit nicht eingesetzt werden solle.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 17. Juli 2019 zurück.
Hiergegen hat der Kläger am 21. August 2019 Klage beim Sozialgericht Berlin (SG) erhoben.
Das SG hat Befundberichte über den Behandlungszeitraum seit Januar 2018 von Dr. K, Dr. M und Dr. A angefordert. Es hat weiter ein Sachverständigengutachten in Auftrag gegeben. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. Gi hat dies unter dem 13. September 2022 erstattet. Er ist zu der Diagnose einer kombinierten Persönlichkeitsstörung (ICD-10 F 61.0) gelangt. Hingegen sei die Annahme einer adulten ADHS nach ICD-10 nicht gerechtfertigt. Festzustellen seien narzistische Persönlichkeitsanteile mit der Überzeugung, besonders zu sein, ein Mangel an Empathie sowie Eigenschaften der Manipulation anderer. Die vom Behandler Dr. Kl angeführte Wirksamkeit von Cannabis auf Aggressivität und Impulsivität sei zwar nachvollziehbar, da Cannabis eine allgemein hemmende Wirkung habe. Die bestehende Impulsivität und Aggressivität sei jedoch nicht Ausdruck einer ADHS, sondern der kombinierten Persönlichkeitsstörung mit sozialen, narzistischen und impulsiven Anteilen. Dass ADHS-Medikamente beim Kläger bislang nicht angesprochen hätten, bestätige dies. Eine kombinierte Persönlichkeitsstörung werde mit ambulanter Psychotherapie behandelt. Diese sei bisher nicht durchgeführt worden. Ergänzend könne bei ausgeprägter Impulsivität und Aggressivität eine medikamentöse Therapie mit Neuroleptika in Form von Atypika erfolgen. In seiner Stellungnahme vom 22. November 2022 hat Dr. K hierzu vorgebracht, in der Zusammenschau der Befunde der universitären Spezialambulanz, der fachärztlichen Begutachtungen und der klinischen Therapieeffekte bestünden keine vernünftigen Zweifel an der Diagnose einer hyperaktiv-impulsiven ADHS, der Unwirksamkeit der Standardmedikamente und der Wirksamkeit von Medizin-Cannabis. In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 15. Februar 2023 hat der Sachverständige Dr. G ausgeführt, dass in Deutschland aktuell nach ICD-10 diagnostiziert werde. Eine ADHS im Erwachsenenalter sei danach beim Kläger nicht festzustellen, da dieser weder aktuell noch in Intervallen mit Cannabisabstinenz wie beispielsjahrweise in den Jahren 2003 und 2004 Konzentrationsstörungen aufgewiesen habe bzw. aufweise.
Der Kläger hat vorgebracht, seine Erkrankung sei schwerwiegend. Sein verordnender Arzt habe eine Einschätzungsprärogative. Die leitliniengerechten alternativen Therapien seien erfolglos durchgeführt worden. Er müsse nicht langjährig schwerwiegende Nebenwirkungen ertragen, bevor die Therapiealternative eines Cannabisarzneimittels genehmigt werden könne. Es dürften keine überhöhten Anforderungen an die begründete Einschätzung des Arztes gestellt werden. Studien beschrieben die positiven Effekte einer Cannabismedikamentation bei ADHS-Patienten. Das Gutachten des Dr. G sei falsch, weil sich die Bewertung nach der ICD-11 richten müsse. Die Diagnose einer ADHS habe sich danach verändert. Eine gleichzeitige Aufmerksamkeitsstörung sei nicht mehr zwingend erforderlich. Insoweit beachte das Gutachten den aktuellen Stand der Wissenschaft nicht. Die Diagnose kombinierte Persönlichkeitsstörung gebe es nach ICD-11 nicht mehr.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 24. Februar 2023 abgewiesen. Zur Begründung hat es u. a. ausgeführt, die Voraussetzungen für einen Anspruch auf die Versorgung mit Cannabis nach § 31 Abs. 6 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) lägen nicht vor. Denn zur Behandlung des Klägers stünde eine allgemein anerkannte, den medizinischen Standard entsprechende Leistung zur Verfügung. Auch fehle es an einer begründeten Einschätzung i. S. d. § 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 b SGB V. Dem Gutachten Dr. G sei zu folgen. Unter anderem habe dieser zutreffend nach dem ICD-10 diagnostiziert. Das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte weise auf seiner Internetseite daraufhin, dass die Einführung der ICD-11 in Deutschland noch mehrere Jahre in Anspruch nehmen werde und bis dahin die ICD-10 die gültige amtliche Klassifikation für Deutschland bleibe. Auch habe der Sachverständige klargestellt, dass auch unter Anwendung der ICD-11 die Diagnose einer ADHS nicht zu stellen sei, sondern diejenige einer Persönlichkeitsstörung. Dem sei der Kläger nicht überzeugend entgegengetreten.
Gegen diese am 10. März 2023 zugestellte Entscheidung richtet sich die Berufung des Klägers vom 11. April 2023 (Dienstag nach Ostern). Zu deren Begründung führt er aus, streitig sei hier in erster Linie, welche Diagnose bei ihm vorliege. Das Gutachten Dr. G, der beim Kläger eine kombinierte Persönlichkeitsstörung diagnostiziert habe, sei unverwertbar. Er weigere sich, den Stand der Wissenschaft anzuwenden. Zweifel an seiner fachlichen Eignung ergebe sich aus dessen unzutreffenden Aussage, dass Cannabis zu Langzeitschäden wie COPD führe. Die Annahmen einer kombinierten Persönlichkeitsstörung sei angesichts der erfolgreichen beruflichen Tätigkeit des Klägers falsch, die Darstellungen des Gutachtens zu einer Neigung zu Gewalt stark übertrieben. Zudem gebe es im ICD-11 bei der „kombinierten Persönlichkeitsstörung“ die wesentlichsten Änderungen im Vergleich zu ICD-10.
Es liege auch eine begründete Einschätzung i. S. d. § 31 Abs. 6 SGB V vor. Es könne auch nicht ernsthaft bestritten werden, dass der Kläger durch den Einsatz von Cannabis in der Lage gewesen sei und aktuell in der Lage sei, ein weitgehend normales berufliches und familiäres Leben zu führen. Dies spreche klar dafür, dass die Therapie die richtige Wahl gewesen sei und ist, unabhängig von der genauen Diagnose. Es könne nicht im Sinne des Gesetzgebers und der Gemeinschaft der Beitragszahler sein, dass der Kläger gezwungen werde, seine Cannabis-Therapie abzubrechen, um nochmals erkennbar kontraproduktive Standardtherapien auszuprobieren und so arbeits- und lebensunfähig zu werden. Nach der Teillegalisierung von Cannabis stelle sich die Frage, ob die strengen Anforderungen des BSG noch gerechtfertigt seien.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, unter Aufhebung des Bescheides vom 19. September 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Juli 2019 und unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Berlin vom 24. Februar 2023 die Genehmigung der vertragsärztlichen Verordnung von Cannabis zu erteilen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen und dessen ergänzende Stellungnahme für plausibel und nachvollziehbar.
Auf die zitierten ärztlichen Stellungnahmen und Gutachten wird ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Es könnte im schriftlichen Verfahren und durch den Berichterstatter alleine entschieden werden, §§ 155 Abs. 3, 4, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Beide Beteiligten haben sich mit einer solchen Vorgehensweise schriftsätzlich einverstanden erklärt. Gründe, von der Ermächtigung kein Gebrauch zu machen, sind nicht ersichtlich.
Der Berufung muss Erfolg versagt bleiben. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der streitgegenständliche Ablehnungsbescheid vom 19. September 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Juli 2019 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
Nach § 31 Abs. 6 SGB V haben Versicherte Anspruch auf die Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol und Nabilon (nachfolgend zusammengefasst Cannabis), wenn sie an einer schwerwiegenden Erkrankung leiden (S. 1), eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht oder im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann (S. 1 Nr. 1) und eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht (S. 1 Nr. 2). Die Leistung bedarf bei der ersten Verordnung der nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnenden Genehmigung der KK, die vor Beginn der Leistung zu erteilen ist (S. 2).
Der Anspruch auf Versorgung mit Cannabis besteht also nur zur Behandlung einer schwerwiegenden Erkrankung. Eine Erkrankung ist schwerwiegend, wenn sie lebensbedrohlich ist oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt (vgl. BSG, Urteil vom 10. November 2022 – B 1 KR 28/21 R –, BSGE 135, 89-105, Rn. 11 unter Bezugnahme u. a. auf Urteil vom 19. März 2002 - B 1 KR 37/00 R - BSGE 89, 184, 191 f).
Eine Erkrankung an ADHS, von welcher der Kläger ausgeht und eine Cannabisabhängigkeit sind nicht lebensbedrohlich in dem Sinne, dass die Gefahr eines tödlichen Krankheitsverlaufs nach allgemeiner Erkenntnis oder nach der Beurteilung im konkreten Einzelfall innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums drohen würde (vgl. zur Definition (BSG, Urteil vom 10. November 2022, Rn. 12 mit weit. Nachweis).
Ist die Erkrankung nicht lebensbedrohlich, besteht ein Anspruch auf Versorgung mit Cannabis nur, wenn die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt ist. Von einer dauerhaften Beeinträchtigung der Lebensqualität ist in Anlehnung an entsprechende Regelungen in §§ 43, 101 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch, § 2 Abs. 1 S. 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch, § 14 Abs. 1 S. 3 Sozialgesetzbuch Elftes Buch, § 30 Abs. 1 S. 3 Bundesversorgungsgesetz ab einem Zeitraum von (voraussichtlich) sechs Monaten auszugehen. Die Beeinträchtigung der Lebensqualität ergibt sich nicht aus der gestellten Diagnose, sondern aus den konkreten Auswirkungen der Erkrankung. Diese müssen den Betroffenen überdurchschnittlich schwer beeinträchtigen, wofür die GdS (Grad der Schädigungsfolgen) -Tabelle aus Teil 2 der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) als Anhaltspunkt dienen kann (BSG, a. a. O., Rn. 13).
Es kann hier dahingestellt bleiben, ob beim Kläger die Diagnose einer ADHS im Erwachsenenalter zu stellen ist oder ob er eine kombinierte Persönlichkeitsstörung o.ä. vorliegt. Selbst wenn dem Kläger gefolgt wird, liegt jedenfalls keine ADHS im Sinne einer schwerwiegenden Erkrankung im vorgenannten Sinne vor.
Dies hängt u.a. von der Schwere der dadurch verursachten sozialen Anpassungsschwierigkeiten ab. Diese liegen nach der Definition der VersMedV vor, wenn die Integration in den allgemeinen Arbeitsmarkt, in das öffentliche Leben und das häusliche Leben nicht ohne besondere Förderung und Unterstützung gegeben ist. (vgl. zu diesen Voraussetzungen: BSG, a. a. O., Rn. 19). Davon kann beim Kläger ausweislich seiner erfolgreichen Geschäftsführertätigkeit nicht ausgegangen werden
Aber selbst wenn beim Kläger eine in diesem Sinne schwerwiegende Erkrankung vorläge, scheiterte der geltend gemachte Anspruch auf Genehmigung einer Cannabis-Verordnung am Fehlen der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes:
Ein Anspruch auf Versorgung mit Cannabis setzt voraus, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht (§ 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 Buchst. a SGB V). Daran fehlt es hier.
Nach der Auffassung des SG, welches dem gerichtlich bestellten Gutachter in seiner Einschätzung gefolgt ist, ist von einer Behandelbarkeit einer kombinierten Persönlichkeitsstörung auszugehen. Auf dessen Ausführungen wird nach § 153 Abs. 2 SGG verwiesen. Auch kann ADHS im Erwachsenenalter grundsätzlich medikamentös (Ritalin, Atomoxetin) behandelt werden.
Stehen für die Behandlung der Erkrankungen Methoden zur Verfügung, die dem medizinischen Standard entsprechen, bedarf es der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes, warum diese Methoden unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes nicht zur Anwendung kommen können (§ 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 Buchst. b SGB V). Das Gesetz gesteht dem behandelnden Vertragsarzt zwar eine Einschätzungsprärogative zu, an die begründete Einschätzung sind indes hohe Anforderungen zu stellen (BSG, Urteil vom 29. August 2023 – B 1 KR 26/22 R –, Rn. 14, mit Bezugnahme auf Urteil vom 10. November 2022 - B 1 KR 28/21 R – Rn. 24 ff).
Diese muss enthalten:
-die Dokumentation des Krankheitszustandes mit bestehenden Funktions- und Fähigkeitseinschränkungen aufgrund eigener Untersuchung des Patienten und ggf. Hinzuziehung von Befunden anderer behandelnder Ärzte;
-die Darstellung der mit Cannabis zu behandelnden Erkrankungen, ihrer Symptome und des angestrebten Behandlungsziels;
-bereits angewendete Standardtherapien, deren Erfolg im Hinblick auf das Behandlungsziel und dabei aufgetretene Nebenwirkungen; die noch verfügbaren Standardtherapien, deren zu erwartender Erfolg im Hinblick auf das Behandlungsziel und dabei auftretende Nebenwirkungen;
-die Abwägung der Nebenwirkungen einer Standardtherapie mit dem beschriebenen Krankheitszustand und den möglichen schädlichen Auswirkungen einer Therapie mit Cannabis; in die Abwägung einfließen dürfen dabei nur Nebenwirkungen, die das Ausmaß einer behandlungsbedürftigen Erkrankung erreichen.
Die eingeschränkte Überprüfbarkeit der begründeten Einschätzung gilt auch im Fall eines vorbestehenden Suchtmittelkonsums oder einer vorbestehenden Suchtmittelabhängigkeit. Ob dieser Umstand eine Kontraindikation für die Behandlung mit Cannabis darstellt, ist vom Vertragsarzt im jeweiligen Einzelfall abzuwägen und in der begründeten Einschätzung darzulegen. Er hat sich möglichst genaue Kenntnis vom bisherigen Konsumverhalten, möglichen schädlichen Wirkungen des bisherigen Konsums und einer eventuellen Abhängigkeit zu verschaffen. Auf dieser Grundlage unterfällt es seiner Beurteilung, ob eine Kontraindikation vorliegt oder welche Vorkehrungen gegen einen Missbrauch des verordneten Cannabis zu treffen sind.
(Bundessozialgericht -BSG, Urteil vom 10. November 2022, Rdnr. 38).
An solchen Feststellungen fehlt es sowohl in der bereits 2018 erfolgten Stellungnahme des Dr. Kl also auch in der vom 22. November 2022, in der (nur) knapp über die positiven Wirkungen des Medizinalcannabis beim Kläger berichtet wird.
Ob eine den Anforderungen entsprechende begründete Einschätzung des Vertragsarztes vorliegt, bestimmt sich nach den vorliegenden Stellungnahmen des behandelnden Vertragsarztes zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der Tatsacheninstanz. Der Versicherte hat die begründete Einschätzung als Voraussetzung des Versorgungs- und Genehmigungsanspruchs beizubringen. Es besteht keine Verpflichtung des Gerichts, beim behandelnden Vertragsarzt eine begründete Einschätzung oder ihre Ergänzung um bisher nicht berücksichtigte Umstände anzufordern. Die begründete Einschätzung dokumentiert die Abwägung des Vertragsarztes, die als Ergebnis seines Entscheidungsprozesses keine Tatsache darstellt, die durch das Gericht mit den zur Verfügung stehenden prozessualen Mitteln erforscht werden könnte (BSG, Urteil vom 10. November 2022, Rdnr. 39).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und entspricht dem Ergebnis in der Sache.
Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor. Insbesondere hat sich das BSG bereits mit den Konsequenzen der Einführung des Cannabisgesetzes vom 27. März 2024 auseinandergesetzt (vgl. BSG, Beschluss vom 10. März 2025 – B 1 KR 62/24 B, Rn. 10).