Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 30. Juni 2022 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Versicherungspflicht des Klägers in der Krankenversicherung der Rentner (KVdR) streitig.
Der 1956 geborene Kläger war ab 8. Oktober 1976 an der Universität S1 im Studiengang Maschinenwesen immatrikuliert. Voraussetzung für die Einschreibung war ein achtwöchiges Vorpraktikum (vgl. Bescheinigung der Universität S1 vom 19. Mai 2020, Bl. 22 VerwA). Der Kläger absolvierte dementsprechend vom 13. Juli bis 17. September 1976 bei der H1-Werke KG (im Folgenden Firma H1) einen Kurzlehrgang „Grundausbildung zum Mechaniker“ (vgl. Praktikantenzeugnis vom 15. September 1976, Bl. 135 VerwA). Während des Praktikums bezog der Kläger eine Vergütung und die Firma H1 entrichtete Beiträge zur Rentenversicherung. Zum 30. September 1977 brach der Kläger sein Studium ab und wechselte in den Studiengang Chemie. Nach Abschluss dieses Studiums war der Kläger ab 1985 in diesem Berufsbereich tätig. Der Kläger ist Vater von drei Kindern. Seit 17. August 2018 ist er in zweiter Ehe verheiratet. Seine Ehefrau ist geschieden und Mutter von drei Kindern.
Der Kläger war zunächst privat krankenversichert, sodann vom 1. Oktober 2010 bis 31. Dezember 2014 Mitglied der Barmer Ersatzkasse (vgl. Bestätigung vom 23. März 2020; Bl. 196 VerwA) und nachfolgend (nahezu durchgehend) freiwilliges Mitglied der Beklagten.
Am 11. März 2020 beantragte der Kläger die Gewährung einer Altersrente, worauf die Deutsche Rentenversicherung Baden-Württemberg (DRV) dem Kläger mit Bescheid vom 29. Juni 2020 Altersrente für langjährig Versicherte ab 1. Mai 2020 bewilligte.
Im Hinblick auf den gestellten Rentenantrag teilte die Beklagte dem Kläger mit zwei (sich widersprechenden) Schreiben vom 9. April 2020 zum einen mit, dass er wegen Erfüllung der Voraussetzungen als Rentenantragsteller in der KVdR bei ihr pflichtversichert sei, und zum anderen, dass er auch nach seinem Rentenantrag freiwillig versichert sei, da er die Voraussetzungen für eine Pflichtversicherung in der KVdR nicht erfülle.
Auf den Hinweis des Klägers, dass sich die Ausführungen in den genannten Schreiben widersprächen, führte die Beklagte mit Bescheid vom 24. April 2020 u.a. aus, die Voraussetzungen für die Pflichtmitgliedschaft in der KVdR seien nicht erfüllt. Ausgehend von seinen Angaben im Rentenantrag, wonach er am 12. Juli 1976 erstmals eine Erwerbstätigkeit aufgenommen habe und dem am 11. März 2020 gestellten Rentenantrag ergebe sich eine Rahmenfrist von 43 Jahren, 7 Monaten und 30 Tagen. Die zweite Hälfte der Rahmenfrist beginne am 12. Mai 1998. Die zu erfüllende Vorversicherungszeit von 9/10 der zweiten Hälfte der Rahmenfrist betrage mithin 19 Jahre, 7 Monate und 29 Tage. Anrechenbare Vorversicherungszeiten lägen vom 1. Oktober 2010 bis 29. August 2015 (4 Jahre, 10 Monate und 29 Tage) und vom 31. August 2015 bis 11. März 2020 (4 Jahre, 6 Monate und 11 Tage) vor, mithin insgesamt 9 Jahre, 5 Monate und 10 Tage. Für drei zu berücksichtigende Kinder seien weitere neun Jahre anrechenbar, sodass Vorversicherungszeiten von 18 Jahren, 5 Monaten und 10 Tagen anrechenbar seien. Damit seien die Voraussetzungen für die KVdR nicht erfüllt.
Am 8. August 2020 erhob der Kläger hiergegen Widerspruch und wandte sich gegen den von der Beklagten zugrunde gelegten Beginn der Rahmenfrist. Insoweit machte er geltend, sein tatsächlicher Eintritt ins Erwerbsleben sei erst neun Jahre später am 1. Juli 1985 erfolgt. Bei der achtwöchigen Beschäftigung von Juli bis September 1976 habe es sich um ein zeitlich und finanziell geringfügiges Pflichtpraktikum für die Zulassung zum Maschinenbaustudium gehandelt. Die daraus resultierende Konsequenz (Nichtaufnahme in die KVdR) sei in Anbetracht seiner nicht hohen Rente unverhältnismäßig. Das Praktikum habe nahtlos in der Lücke zwischen Grundwehrdienst und Studium stattgefunden und sei im Gegensatz zu Ferienjobs alles andere als erwerbsorientiert gewesen. Über diesen angeblichen Eintritt ins Erwerbsleben habe ihn niemand aufgeklärt. Er könne nicht akzeptieren, dass ein so kurzes Praktikum 44 Jahre später bei veränderten sozialrechtlichen Rahmenbedingungen solche Konsequenzen haben solle, zumal sein wirklicher Eintritt ins Erwerbsleben mit dem ersten Arbeitsvertrag erst neun Jahre später erfolgt sei. Er beantrage daher eine Bereinigung seiner Rahmenfrist um dieses Praktikum und eine neue Einstufung als Pflichtversicherter.
Die Beklagte behandelte diesen Widerspruch wegen Ablauf der Widerspruchsfrist als Überprüfungsantrag und lehnte es mit Bescheid vom 17. August 2020 der Sache nach ab, unter Abänderung des Bescheids vom 24. April 2020 die Erfüllung der Voraussetzungen für die KVdR festzustellen. Die Rahmenfrist für die Prüfung der Vorversicherungszeit werde auch durch ein für ein Studium vorgeschriebenes Praktikum gegen Arbeitsentgelt ausgelöst (Hinweis auf Bundessozialgerichts [BSG], Urteil vom 22. Februar 1996 – 12 RK 33/94 –). Hiergegen erhob der Kläger unter Aufrechterhaltung seines Standpunktes Widerspruch.
Mit Bescheid vom 22. Februar 2021 ergänzte die Beklagte ihren Bescheid vom 17. August 2020 dahingehend, dass bei der Berechnung der Vorversicherungszeit die Stiefkinder mangels Erfüllung der erforderlichen Voraussetzungen nicht berücksichtigungsfähig seien.
Mit Widerspruchsbescheid vom 23. März 2021 wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten den Widerspruch zurück und führte zur Begründung aus, die Rahmenfrist beginne mit dem Tag der erstmaligen Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, wobei als Erwerbstätigkeit jede auf Erwerb gerichtete oder zur Berufsausbildung ausgeübte Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit gelte. Für den Beginn der Rahmenfrist komme es nicht darauf an, ob die Erwerbstätigkeit den Zugang zur Krankenversicherung eröffnet habe. Der Beginn der Rahmenfrist werde daher bspw. auch beim Eintritt in ein für ein Studium vorgeschriebenes Praktikum gegen Arbeitsentgelt ausgelöst. Ausgehend hiervon sei die erforderliche Vorversicherungszeit (19 Jahre, 7 Monate und 29 Tage) nicht erfüllt, weshalb eine Pflichtversicherung in der KVdR ausscheide.
Am 21. April 2021 erhob der Kläger hiergegen beim Sozialgericht Heilbronn (SG) Klage und trug zur Begründung vor, er sei nicht mit einem Praktikum in das Erwerbsleben eingetreten. Denn im Anschluss sei eine langjährige Ausbildungszeit in Form der Hochschulausbildung gefolgt. Der Eintritt in das Erwerbsleben sei daher ca. neun Jahre später anzunehmen. Erst nach der Hochschulausbildung von Oktober 1976 bis Oktober 1982 sei am 1. Juli 1985 eine erste Pflichtbeitragszeit gegen Entgelt zu verzeichnen, die den Eintritt in das Erwerbsleben darstelle. Die Auslegung der Beklagten sei befremdlich. Das Praktikum sei für die Zulassung zum Studium zwingend vorgeschrieben gewesen und gehöre zur Studienzeit, keinesfalls jedoch zur Zeit einer Erwerbstätigkeit. Die Rahmenfrist beginne mithin erst mit dem tatsächlichen Eintritt in das Erwerbsleben.
Die Beklagte trat der Klage unter Aufrechterhaltung ihres Standpunktes entgegen.
Mit Urteil vom 30. Juni 2022 wies das SG die Klage ab. Der Kläger erfülle nicht die Voraussetzungen für eine Pflichtversicherung in der KVdR. Die Beklagte habe hinsichtlich des Beginns der Rahmenfrist zutreffend auf den Beginn des als Praktikum absolvierten Kurzlehrgangs „Grundausbildung zu Mechaniker“ abgestellt. Denn der Kläger habe hiermit erstmals eine entgeltliche Beschäftigung aufgenommen. Eine Erwerbstätigkeit im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 11 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) sei auch eine Beschäftigung als Praktikant, wenn sie gegen Entgelt ausgeübt werde. Unerheblich seien die Dauerhaftigkeit der entsprechenden Tätigkeit und die Gründe für deren Aufnahme bzw. deren Aufgabe. Die Berücksichtigung derartiger Gesichtspunkte würden dem Gesetzeswortlaut widersprechen. Auch die Gründe für das Fehlen einer ausreichenden Versicherung nach Aufnahme der Erwerbstätigkeit seien unerheblich. Mit der somit anrechenbaren Vorversicherungszeit von 18 Jahren, 5 Monaten und 10 Tagen erfülle der Kläger die sog. Neun-Zehntel-Belegung nicht.
Gegen das seinen Prozessbevollmächtigten am 4. August 2022 zugestellte Urteil hat der Kläger am 22. August 2022 beim SG Berufung eingelegt. Er ist der Auffassung, dass das Pflichtpraktikum als Voraussetzung für den Beginn des Maschinenbaustudiums nicht als entgeltpflichtige Beschäftigung und damit als erstmalige Aufnahme einer Beschäftigung gewertet werden dürfe. Praktikanten seien im Rahmen eines nach der Studienordnung vorgeschriebenen Vor- oder Nachpraktikums zwar versicherungspflichtig, jedoch unter dem Charakteristikum „Zu ihrer Berufsausbildung“. Dies müsse dazu führen, dass die Rahmenfrist nicht beginne, da keine entgeltliche Beschäftigung zur Bestreitung des Lebensunterhalts auf Dauer vorliege. Die Rahmenfrist beginne erst mit der erstmaligen Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung im Jahr 1985, sodass die Voraussetzungen für die Pflichtversicherung in der KVdR erfüllt seien.
Der Kläger beantragt schriftlich (sachdienlich gefasst),
das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 30. Juni 2022 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide vom 17. August 2020 und 22. Februar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23. März 2021 zu verurteilen, den Bescheid vom 24. April 2020 abzuändern und seine Pflichtmitgliedschaft in der Krankenversicherung der Rentner seit 11. März 2020 festzustellen.
Die Beklagte beantragt schriftlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für richtig.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verfahrensakten des SG und des Senats sowie die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
1. Die nach § 151 Abs. 1 und 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist gemäß § 143 SGG statthaft und auch im Übrigen zulässig. Sie bedurfte insbesondere nicht der Zulassung nach § 144 Abs. 1 Satz 1 SGG. Denn die Klage betrifft weder eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung noch einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt.
2. Gegenstand des Verfahrens ist das Begehren des Klägers auf Feststellung seiner Versicherungspflicht in der KVdR ab dem Zeitpunkt seiner Rentenantragstellung am 11. März 2020. Dieses Begehren verfolgt der Kläger im Wege des Zugunstenverfahrens nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) gegen den ursprünglichen, bindend gewordenen (§ 77 SGG) und die Versicherungspflicht in der KVdR verneinenden Bescheid vom 24. April 2020. Streitbefangen sind damit die dies ablehnenden Bescheide der Beklagten vom 17. August 2020 und 22. Februar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23. März 2021 (§ 95 SGG).
Nicht Gegenstand des Verfahrens ist die Mitgliedschaft des Klägers in der sozialen Pflegeversicherung bei der bei der Beklagten eingerichteten Pflegekasse. Weder im Ausgangs- noch im Widerspruchsbescheid wurde eine Entscheidung hierzu getroffen. Der Widerspruchsausschuss wies zwar darauf hin, soweit Beiträge der Pflegeversicherung Gegenstand des Verfahrens seien, auch die Aufgabe des Widerspruchsausschusses der Pflegeversicherung wahrzunehmen, eine Entscheidung über eine Versicherung in der Pflegeversicherung der Rentner wurde aber nicht getroffen. Die Bescheide ergingen nicht auch im Namen der Pflegekasse. Die Klage richtete sich auch ausdrücklich (nur) gegen die beklagte Krankenkasse. Auch das SG entschied nur zur Mitgliedschaft in der Krankenversicherung. Ohnehin folgt die Versicherungspflicht in der sozialen Pflegeversicherung nach § 20 Abs. 3 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) kraft Gesetzes aus der freiwilligen Krankenversicherung (vgl. Senatsurteile vom 29. Januar 2021 – L 4 KR 1241/19 – n.v. und vom 22. März 2019 – L 4 KR 2182/18 – juris, Rn. 21).
3. Die Berufung des Klägers ist nicht begründet. Das SG hat die als kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG) statthafte und zulässige Klage zu Recht abgewiesen. Die Bescheide vom 17. August 2020 und 22. Februar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23. März 2021 sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung der Versicherungspflicht in der KVdR ab 11. März 2020.
a) Rechtsgrundlage für das Begehren des Klägers ist § 44 Abs. 1 SGB X. Dieser bestimmt: Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Dies gilt nicht, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Betroffene vorsätzlich in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat. Für die Beurteilung, ob das Recht unrichtig angewandt wurde, ist grundsätzlich die damalige Sach- und Rechtslage maßgebend (BSG, Urteil vom 14. November 2002 – B 13 RJ 47/01 R – juris, Rn. 19).
Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Die Beklagte wandte bei Erlass des Bescheids vom 24. April 2020 bezüglich der Versicherungspflicht des Klägers in der KVdR das Recht weder unrichtig an, noch ging sie von einem Sachverhalt aus, der sich nachträglich als unrichtig erwiesen hat. Sie ging vielmehr zu Recht davon aus, dass eine Pflichtversicherung des Klägers in der KVdR nicht besteht. Denn der Kläger erfüllt die entsprechenden Voraussetzungen nicht.
Versicherungspflichtig sind nach § 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB V Personen, die die Voraussetzungen für den Anspruch auf eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung erfüllen und diese Rente beantragt haben, wenn sie seit der erstmaligen Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bis zur Stellung des Rentenantrags mindestens 9/10 der zweiten Hälfte des Zeitraums Mitglied oder nach § 10 SGB V versichert waren.
aa) Der Kläger erfüllt zwar die Eingangsvoraussetzungen, da er seit dem 1. Mai 2020 eine Altersrente für langjährig Versicherte aus der gesetzlichen Rentenversicherung bezieht, die er am 11. März 2020 beantragt hatte. Dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig. Eine die Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB V ausschließende hauptberufliche Selbständigkeit oder vorrangige Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 bis 7 oder 8 SGB V (vgl. § 5 Abs. 5 und 8 SGB V) besteht im streitbefangenen Zeitraum nicht. Anhaltspunkte für eine solche sind weder den vorliegenden Akten noch dem Vorbringen der Beteiligten zu entnehmen.
bb) Die erforderliche Vorversicherungszeit erfüllt der Kläger aber nicht.
§ 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB V bestimmt als Rahmenfrist für die Berechnung der 9/10-Belegung den Zeitraum zwischen der erstmaligen Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bis zur Stellung des Rentenantrags. Die Rahmenfrist umfasst damit das gesamte Erwerbsleben von der erstmaligen Aufnahme einer entgeltlichen Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit bis zum Rentenantrag. Der Tag der Aufnahme der Erwerbstätigkeit ist mitzurechnen; der Tag der Rentenantragstellung bleibt unberücksichtigt (Vossen, in: Krauskopf, Soziale Krankenversicherung/Pflegeversicherung, Stand: Januar 2020, § 5 SGB V Rn. 69).
(a) Der Kläger nahm erstmals am 13. Juli 1976 eine Erwerbstätigkeit im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB V auf.
Eine Erwerbstätigkeit ist grundsätzlich jede auf Erwerb gerichtete Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit einschließlich betrieblicher Berufsausbildung unabhängig davon, wie sie versicherungsrechtlich zu beurteilen war (BSG, Urteil vom 8. November 1983 – 12 RK 26/82 – juris, Rn. 11f.; BSG, Urteil vom 22. Februar 1996, a.a.O., juris, Rn 18). Auch eine Beschäftigung als Praktikant ist eine Erwerbstätigkeit in diesem Sinne, wenn sie gegen Entgelt ausgeübt wird. Unerheblich ist, ob die konkrete Beschäftigung nach dem jeweils geltenden Recht in allen oder in einzelnen Zweigen der Sozialversicherung versicherungsfrei war, denn die Vorschriften über die Versicherungsfreiheit wären überflüssig gewesen, wenn nicht die in Rede stehende Tätigkeit in abhängiger und entgeltlicher Beschäftigung seit jeher dem Grunde nach als versicherungspflichtige Beschäftigung und damit auch als Erwerbstätigkeit angesehen worden wäre (vgl. BSG, Urteil vom 17. Mai 2001 – B 12 KR 33/00 R – juris, Rn. 16; BSG, Urteil vom 22. Februar 1996, a.a.O., juris Rn. 19; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 15. Oktober 2019 – L 11 KR 3621/18 – juris, Rn. 31).
Gemessen hieran stellt das vom Kläger bei der Firma H1 ab dem 13. Juli 1976 absolvierte Vorpraktikum eine Erwerbstätigkeit dar. Dass der Kläger dieses Praktikum im Hinblick auf das zunächst angestrebte Studium im Studiengang Maschinenwesen absolvierte und es als Pflichtpraktikum Einschreibevoraussetzung und damit Teil der ursprünglich angestrebten „Berufsausbildung“ darstellte, ändert entgegen der Ansicht des Klägers nichts. Denn eine Erwerbstätigkeit im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB V erfasst auch die betriebliche Berufsausbildung. Auch die Auffassung des Klägers, wonach hiervon nur eine zur Bestreitung des Lebensunterhalts und auf Dauer angelegte Erwerbstätigkeit erfasst werde, trifft nicht zu. Diese Auslegung widerspricht dem Gesetzeszweck und ist mit dem Wortlaut der Regelung nicht vereinbar. Mit der erstmaligen Aufnahme einer Erwerbstätigkeit wird die Rahmenfrist in Lauf gesetzt. Innerhalb dieser Rahmenfrist muss eine bestimmte Mindestversicherungszeit zurückgelegt sein, um in die beitragsbegünstigte KVdR zu gelangen. Die Gründe für das Fehlen einer ausreichenden Versicherung nach Aufnahme der Erwerbstätigkeit sind nach dem Gesetz unerheblich. Insofern wäre es widersprüchlich, die Rahmenfrist nicht beginnen zu lassen, weil eine nur vorübergehende Erwerbstätigkeit aufgenommen wurde, und damit im Ergebnis nach dem Grund für die Aufnahme der Erwerbstätigkeit zu fragen (BSG, Urteil vom 22. Februar 1996, a.a.O., juris, Rn 20). Entsprechend ist ohne Belang, dass der Kläger nach Abbruch seines Studiums im Studiengang Maschinenwesen zum 30. September 1977 in den Studiengang Chemie wechselte und erst nach Abschluss dieses Studiums im Jahr 1985 eine dauerhafte Erwerbstätigkeit in diesem Berufsbereich aufnahm. Anknüpfungspunkte für die Annahme des Klägers, dass es sich um eine zur Bestreitung des Lebensunterhalts und auf Dauer angelegte Erwerbstätigkeit handeln müsse, bietet auch der Wortlaut der Regelung nicht. Für den Beginn der Rahmenfrist wird ganz allgemein an eine „Erwerbstätigkeit“ angeknüpft. Mit der erstmaligen Aufnahme der Erwerbstätigkeit beginnt die Rahmenfrist, eine Dauerhaftigkeit dieser Aufnahme erfordert der Wortlaut nicht, ebenso wenig wie eine zur Bestreitung des Lebensunterhalts ausreichende Höhe der Vergütung. Diejenigen, die wie der Kläger vor dem Studium nur vorübergehend eine Erwerbstätigkeit aufgenommen haben, sind dadurch geschützt, dass es zur Erfüllung der 9/10-Belegung als Voraussetzung für die KVdR lediglich auf die zweite Hälfte des Erwerbslebens ankommt (BSG, Urteil vom 22. Februar 1996 – 12 RK 33/94 – juris, Rn. 21; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 15.Oktober 2019 – L 11 KR 3621/18 – juris, Rn. 33).
(b) Die Rahmenfrist endet am 10. März 2020. Den - den maßgeblichen Zeitraum beendenden - Rentenantrag stellte der Kläger am 11. März 2020. Dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig. Nach dem Wortlaut des § 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB V kommt es nicht auf den Beginn der Rente oder der Rentenzahlung an, sondern allein auf den Rentenantrag („bis zur Stellung des Rentenantrags“). Die Rahmenfrist endet mit dem Tag vor dem Tag der Rentenantragstellung (Vossen, a.a.O., § 5 SGB V Rn. 69, 71).
(c) Ausgehend von der ersten Aufnahme einer Erwerbstätigkeit am 13. Juli 1976 und dem Rentenantrag am 11. März 2020 beginnt die zweite Hälfte der Rahmenfrist am 13. Mai 1998. Die erforderlichen 9/10 der zweiten Hälfte der Rahmenfrist umfasst damit 19 Jahre, 7 Monate und 28 Tage. Die Berechnung der Beklagten, der eine erstmalige Aufnahme der Erwerbstätigkeit bereits am 12. Juli 1976 zugrunde lag, ist daher um einen Tag zu korrigieren.
Der Kläger war in der Zeit vom 1. Oktober 2010 bis 29. August 2015 und vom 31. August 2015 bis zur Rentenantragstellung am 11. März 2020 und damit 9 Jahre, 5 Monate und 10 Tage Mitglied einer gesetzlichen Krankenkasse oder nach § 10 SGB V versichert. Im Zeitraum davor war der Kläger privat krankenversichert. Auch dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig. Die erforderliche Vorversicherungszeit von 19 Jahre, 7 Monate und 28 Tagen hat der Kläger damit nicht erreicht.
Die erforderliche Vorversicherungszeit ist auch nicht unter Berücksichtigung des § 5 Abs. 2 Satz 3 SGB V (in der ab 1. August 2017 geltenden Fassung des HHVG) erfüllt. Danach wird auf die nach § 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB V erforderliche Mitgliedszeit für jedes Kind, Stiefkind oder Pflegekind (§ 56 Abs. 2 Nr. 2 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch) eine Zeit von drei Jahren angerechnet. Denn auch unter Anrechnung weiterer neun Jahre (jeweils drei Jahre für die drei Kinder des Klägers) werden im maßgeblichen Zeitraum lediglich 18 Jahre, 5 Monate und 10 Tage Vorversicherungszeiten erreicht. Soweit die Beklagte mit dem den Bescheid vom 17. August 2020 ergänzenden Bescheid vom 22. Februar 2021 entschied, dass Abweichendes auch nicht im Hinblick auf die Stiefkinder des Klägers gilt, hat der Kläger sein diesbezügliches Begehren bereits im Verwaltungsverfahren nicht mehr weiterverfolgt. Seinerzeit teilte er auf die erbetenen substantiierten Angaben zum Alter der Stiefkinder und dem Zeitraum ihrer Aufnahme in seinen Haushalt lediglich mit, dass zwei der Stiefkinder zu keinem Zeitpunkt in seinen Haushalt aufgenommen gewesen seien und das weitere Stiefkind sich lediglich kurzzeitig im gemeinsamen Haushalt aufgehalten habe, er jedoch weder zu dem entsprechenden Zeitraum noch dem Alter dieses Stiefkindes Angaben machen könne. Die Anrechnungsfähigkeit zumindest dieses Stiefkindes ist damit nicht festzustellen. Denn im Hinblick auf die Ausschlusstatbestände nach § 5 Abs. 2 Satz 4 SGB V ist offen, ob das Kind überhaupt nach dem Zeitpunkt der Eheschließung in den Haushalt des Klägers aufgenommen wurde und ob die vorgesehen Altersgrenze noch nicht überschritten war.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG.
5. Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (vgl. § 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.
Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
4.
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 12 KR 1134/21
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 KR 2479/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Rechtskraft
Aus
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