L 11 KR 269/25 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
S 9 KR 43/25 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 11 KR 269/25 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Münster vom 4. April 2025 abgeändert. Die Antragsgegnerin wird vorläufig verpflichtet, den Antragsteller für die Zeit ab Zustellung des vorliegenden Beschlusses bis zum Abschluss des Klageverfahrens, spätestens bis zum 31. Oktober 2025 mit regelmäßigen extrakorporalen Lipid-Apherese-Behandlungen zu versorgen. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin trägt die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Antragstellers in beiden Rechtszügen.

 

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten über die (vorläufige) Versorgung des Antragstellers mit regelmäßigen extrakorporalen Lipid-Apherese-Behandlungen.

Der am 00.00.0000 geborene, bei der Antragsgegnerin krankenversicherte Antragsteller leidet u.a. an einer Hyperlipidämie bei Statinunverträglichkeit, Zustand nach linkshirnigem Mediainfarkt II bei M1-Verschluss mit Hemiparese rechts mit Lysetherapie und Thrombektomie am 1. April 2021, Karotissklerose beidseits, arterieller Hypertonie und chronischer Niereninsuffizienz Stadium II.

 

Unter dem 16. September 2024 stellte er über die Praxis für Nieren- und Hochdruckkrank­heiten (nephrologisches Zentrum S., Lipid-Ambulanz DGFF) durch Y. bei der Sachverständigen-Kommission Apherese der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe (KVWL) einen Erstantrag zur Beratung der Indikationsstellung zur Apherese-Behandlung. Die Kommission befürwortete den Einsatz der LDL-Apherese/Lp(a)-Apherese bei dem Antragsteller „im Moment“ nicht (Beratungser­gebnis vom 5. November 2024). Sie sehe einen LDL-C-Fall mit einem Ereignis eines thrombembolischen Mediainfarktes. Die LDL-C-Werte seien unter der maximal verträglichen konservativen Therapie nicht eindeutig in den Zielbereich zu senken. Die Kommission sehe allerdings keine direkte Arteriosklerose und bat um Nachweis einer bildgebenden Diagnostik hinsichtlich der cerebralen arteriellen Verschlusskrankheit (CAVK) respektive fraglichen peripheren arteriellen Verschlusskrankheit (PAVK). Auch das Kriterium der Sekundärprophylaxe sei nach den Unterlagen nicht erfüllt. Eine Bildgebung mit Nachweis einer Arteriosklerose "beg. Plaquebildung" reiche nicht.

 

Die Antragsgegnerin lehnte daraufhin den Antrag des Antragstellers unter Bezugnahme auf die Ausführungen der Kommission mit Bescheid vom 29. November 2024 (ohne Rechtsmittelbelehrung) ab.

 

Am 28. Januar 2025 hat der Antragsteller bei dem Sozialgericht (SG) Münster einstweiligen Rechtsschutz beantragt. Zur Begründung hat er unter Vorlage u.a. eines lipidologisch-nephrologischen Gutachtens des Y. des nephrologischen Zentrums S. vom 16. Januar 2025 sowie eines lipidologischen Gutachtens zur Notwendigkeit einer regelmäßigen extrakorporalen Lipid-Apherese vom 7. Juli 2024 von A. und eines Berichts der X. vom 11. September 2024 im Wesentlichen vorgetragen, er sei ohne die Apherese als ultima-ratio-Behandlung dem großen Risiko einer lebensbedrohlichen Situation wie beispielsweise einem Schlaganfall und/oder Herzinfarkt ausgesetzt. Allein bei dem Infarkt handele es sich um eine Folgeerkrankung der Arteriosklerose, die bei ihm weit fortgeschritten sei und wegen Unverträglichkeit nicht mit Statinen versorgt werden könne. Daneben leide er an einem weiteren zusätzlichen und eigenständigen Risikofaktor der Hyperlipoproteinämie (a). Das Votum der Apherese-Kommission entfalte nach aktueller Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) keine Bindungswirkung und sei zudem unzutreffend. Die Behandlung sei nach § 3 Abs. 1 Anlage I Nr. 1 der Richtlinie zur Untersuchungs- und Behandlungsmethoden der vertragsärztlichen Versorgung (MVV-RL) indiziert. Ersichtlich prüfe die Apherese-Kommission der KVWL nicht diese Indikation, sondern jene des § 3 Abs. 2 Anlage I Nr. 1 MVV-RL. Ausweislich der ärztlichen Stellungnahme vom 16. Januar 2025 habe der Wert des LDL-Cholesterins im März 2023 bei 228 mg/dl, nach Einsatz von Inclisiran im März 2024 bei 108 mg/dl, und im August 2024 bei 114 mg/dl und somit weit entfernt von dem anzustrebenden Wert für Hochrisikopatienten unter 55 mg/dl gelegen. Er, der Antragsteller, befinde sich in altersentsprechendem Allgemeinzustand und wiege bei einer Größe von 165 cm 60 kg, so dass eine maximale diätetische Therapie nach Maßgabe von § 3 Abs. 1 Anlage I Nr. 1 MVV-RL an der Cholesterinerhöhung nichts ändere. Eine medikamentöse Therapie sei mangels Unverträglichkeit nicht durchzuführen.

 

Der Antragsteller hat sinngemäß beantragt,

 

die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Kosten für eine regelmäßige extrakorporale Lipid-Apherese-Therapie des Antragstellers zu übernehmen.

 

Die Antragsgegnerin hat beantragt,

 

den Antrag abzulehnen.

 

Zur Begründung hat sie im Wesentlichen vorgetragen, der Antragsteller habe weder einen Anordnungsanspruch noch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Bei antragsgemäßer Entscheidung werde die Hauptsache vorweggenommen und seien öffentliche Interessen gefährdet, da nicht auszuschließen sei, dass im Falle des Obsiegens der Antragsgegnerin in der Hauptsache die Kosten nicht zurückerlangt werden könnten. Zudem seien die von der Apherese-Kommission angeforderten Unterlagen nicht vorgelegt worden. Bei der Lp(a)-Erhöhung des LDL-Cholesterin handele es sich um eine Fettstoffwechselstörung, die einen wesentlichen Risikofaktor für das Auftreten von atherosklerotischen Gefäßerkrankungen, jedoch nicht als solche eine lebensbedrohliche Erkrankung darstelle. Ausweislich des kardiologischen Berichts vom 11. September 2024 ergäben sich in der Zusammenschau aus Anamnese, EKG und Echokardiographie keine Hinweise für eine interventionsbedürftige koronare Herzerkrankung. Es zeige sich eine diskrete Aortenklappensklerose mit minimaler Insuffizienz, weshalb eine Kontrolle in spätestens 2 Jahren empfohlen werde. Im Übrigen sei nach der Rechtsprechung für die Überprüfung der Richtigkeit der Entscheidung der Apherese-Kommission im summarischen Verfahren kein Raum.

 

Am 3. Februar 2025 hat der Antragsteller Widerspruch gegen den Ablehnungsbescheid erhoben.

 

Das SG hat einen Befundbericht von Y. eingeholt. Auf dessen Inhalt wird Bezug genommen.

 

Der von der Antragsgegnerin hinzugezogene Medizinische Dienst Westfalen-Lippe (MD) hat in seinem Gutachten vom 6. März 2025 zusammenfassend festgestellt, aus der Dokumentation gehe nicht nachvollziehbar eine Befundkonstellation ohne Therapiealternativen hervor. Es bestehe eine heterozygote Hypercholesterinämie bei kombinierter Fettstoffwechselstörung und angeborener Lipoprotein (a) Erhöhung. Eine familiäre Hypercholesterinämie in homozygoter Ausprägung bestehe bei dem Antragsteller nicht. Eine nach Maßgabe von § 3 Abs. 1 Anlage I Nr. 1 MVV-RL schwere Hypercholesterinämie, bei der grundsätzlich mit einer über zwölf Monate dokumentierten maximalen diätetischen und medikamentösen Therapie das LDL-Cholesterin nicht ausreichend gesenkt werden könne, liege befundgestützt nicht vor. Ferner bestehe mit Blick auf das ebenfalls erhöhte Gesamtcholesterin, LDL-Cholesterin und Triglyceride keine isolierte Lp(a)-Erhöhung über 60 mg/dl im Sinne von § 3 Abs. 2 Anlage I Nr. 1 MVV-RL. Eine durch bildgebende Verfahren dokumentierte Progredienz kardiovaskulärer Erkrankungen liege bei dem Versicherten befundgestützt nicht vor.

 

Der Antragsteller hat unter Vorlage einer ärztlichen Stellungnahme vom 26. März 2025 von Y. an seiner Auffassung festgehalten.

 

Das SG hat den Antrag mit Beschluss vom 4. April 2025 abgelehnt. Auf die Gründe wird Bezug genommen. Der Beschluss ist dem Antragsteller am 8. April zugestellt worden.

 

Die Antragsgegnerin hat den Widerspruch des Antragstellers mit Widerspruchsbescheid vom 8. April 2025 zurückgewiesen. Der Antragsteller hat hiergegen am 5. Mai 2025 vor dem SG Münster Klage erhoben.

 

Mit der am 10. April eingelegten Beschwerde gegen den Beschluss des SG wederholt der Antragsteller sein bisheriges Vorbringen und trägt ergänzend im Wesentlichen vor, streitgegenständlich sei die Indikation nach § 3 Abs. 1 Anlage I Nr. 1 MVV-RL. Der danach erforderliche Abwägungsprozess sei weder durch den MD noch die die Apherese-Kommission erfolgt. Auch das SG sei von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen.

 

Der Antragsteller beantragt schriftsätzlich sinngemäß,

 

die Antragsgegnerin unter Abänderung des Beschlusses des Sozialgerichts Münster vom 4. April 2025 im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig zu verpflichten, ihn mit extrakorporalen Lipid-Apherese-Behandlungen zu versorgen.

 

Die Antragsgegnerin beantragt schriftsätzlich,

 

die Beschwerde zurückzuweisen.

 

Sie nimmt Bezug auf die Entscheidung des SG und ihren Widerspruchsbescheid, mit welchem sie den Widerspruch unter Wiederholung der bisherigen Ausführungen und Bezugnahme auf die Erhebungen des MD als unbegründet zurückgewiesen hat.

 

Der Senat hat einen Befundbericht von Y. eingeholt. Auf den Inhalt wird Bezug genommen.

 

Die Antragsgegnerin sieht in dessen Angaben ihre Auffassung bestätigt. Eine Dokumentation einer Ernährungsberatung und eine über zwölf Monate dokumentierte maximale diätetische Behandlung sei weiterhin nicht nachgewiesen. Eine Stellungnahme zu den möglichen Therapiealternativen bleibe aus.

 

Der Antragsteller verweist bezüglich der Dokumentation auf die Antragsunterlagen bei der KVWL und trägt ergänzend im Wesentlichen vor, einerseits werde nicht definiert, was unter einer maximalen diätetischen Therapie zu verstehen sei, andererseits gehe auch die Apherese-Kommission davon aus, dass unter der maximal verträglichen konservativen Therapie die LDL-C-Werte nicht eindeutig in den Zielbereich zu senken seien. Im Übrigen erhalte der Antragsteller seit 2024 den PCSK9-Inhibitor Inclisiran, jedoch sei nur die Kombination mit – für ihn unverträglichen – Statinen zielführend. Eine Bewertung des Gesamtrisikoprofils wie durch die Richtlinie vorgegeben sei vorliegend nicht erfolgt.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Antragsgegnerin Bezug genommen.

 

II.

 

Die Beschwerde des Antragstellers hat im tenorierten Umfang Erfolg.

 

1. Sie ist zulässig, insbesondere statthaft (§ 172 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz <SGG>) sowie form- und fristgerecht (§ 173 Satz 1, § 64 Abs. 1, Abs. 2, § 63 SGG) am 10. April 2025 durch den Antragsteller gegen den ihm am 8. April 2025 zugestellten Beschluss des SG Münster vom 4. April 2025 eingelegt worden.

 

2. Die Beschwerde ist auch teilweise begründet. Die begehrte einstweilige Anordnung ist im tenorierten Umfang zu erlassen.

 

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund voraus. Ein Anordnungsanspruch liegt vor, wenn der Antragsteller das Bestehen eines Rechtsverhältnisses glaubhaft macht, aus dem er eigene Ansprüche ableitet. Maßgeblich sind in erster Linie die Erfolgsaussichten der Hauptsache. Ein Anordnungsgrund ist nur dann gegeben, wenn der Antragsteller glaubhaft macht, dass ihm unter Berücksichtigung der widerstreitenden öffentlichen Belange ein Abwarten bis zur Entscheidung der Hauptsache nicht zuzumuten ist (vgl. Senat, Beschluss vom 30. Januar 2019 - L 11 KR 442/18 B ER - KrV 2019, 126 m.w.N.). Der geltend gemachte (Anordnungs-) Anspruch und der Anordnungsgrund, mithin die Eilbedürftigkeit, sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 Zivilprozessordnung <ZPO>).

 

Die an die Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruchs zu stellenden Anforderungen korrespondieren dabei mit den glaubhaft zu machenden wesentlichen Nachteilen. Droht dem Antragsteller bei Versagung des einstweiligen Rechtsschutzes eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Rechten, die durch eine Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, so ist - erforderlichenfalls unter eingehender tatsächlicher und rechtlicher Prüfung des im Hauptsacheverfahren verfolgten Anspruchs - einstweiliger Rechtsschutz zu gewähren (vgl. Bundesverfassungsgericht <BVerfG>, Beschluss vom 14. September 2016 - 1 BvR 1335/13 - juris, Rn. 20; Senat, Beschluss vom 26. Juli 2016 - L 11 KR 465/16 B ER - juris, Rn. 19), es sei denn, dass ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe entgegenstehen (BVerfG, a.a.O.). Die Notwendigkeit einer umfassenden Prüfung der Sach- und Rechtslage besteht eingedenk der aus Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) folgenden Anforderungen an den Eilrechtsschutz dennoch nur ausnahmsweise (hierzu BVerfG, Beschluss vom 6. Februar 2013 - 1 BvR 2366/12 - juris). So müssen die Gerichte unter Umständen wegen der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit Rechtsfragen nicht vertiefend behandeln und ihre Entscheidung maßgeblich auf der Grundlage einer Interessenabwägung treffen (Senat, Beschluss vom 26. Juli 2016 - L 11 KR 465/16 B ER - juris, Rn. 19). Die grundrechtlichen Belange der Antragstellerin sind hierzu umfassend in die Abwägung einzustellen, da sich die Gerichte schützend und fördernd vor die Grundrechte zu stellen haben (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. Juni 2018 - 1 BvR 733/18 - juris, Rn. 3; hierzu auch Senat, Beschluss vom 28. Juni 2013 - L 11 SF 74/13 ER - juris; Beschluss vom 19. November 2012 - L 11 KR 473/12 B ER - juris, Rn. 10).

 

Grundsätzlich ist die Sach- und Rechtslage desto eingehender zu prüfen, je gewichtiger die drohende Grundrechtsverletzung und je höher ihre Eintrittswahrscheinlichkeit ist. Findet eine - gemessen am Gewicht der geltend gemachten Grundrechtsverletzungen - genügend intensive Durchdringung der Sach- und Rechtslage statt, kann es unschädlich sein, wenn das Gericht den Ausgang des Hauptsacheverfahrens gleichwohl als offen einschätzt und die von ihm vorgenommene Prüfung selbst als summarisch bezeichnet, ohne deswegen allein auf eine Folgenabwägung abzustellen, sofern nur deutlich wird, dass das Gericht den Ausgang des Hauptsacheverfahrens für weitgehend zuverlässig prognostizierbar hält (so BVerfG, Beschluss vom 26. Juni 2018 - 1 BvR 733/18 - juris, Rn. 4). Ist hiernach eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. In diesem Rahmen ist zu berücksichtigen, zu welchen Konsequenzen die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes bei späterem Misserfolg des Antragstellers im Hauptsacheverfahren einerseits gegenüber der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes bei nachfolgendem Obsiegen in der Hauptsache andererseits führen würde (Senat, Beschluss vom 26. Juli 2016 - L 11 KR 465/16 B ER - juris; Beschluss vom 14. Januar 2015 - L 11 KA 44/14 B ER - juris, Rn. 19). Die einstweilige Anordnung darf allerdings grundsätzlich die endgültige Entscheidung in der Hauptsache nicht vorwegnehmen.

 

Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist ein Anordnungsanspruch - mithin das Bestehen eines materiell-rechtlichen Anspruchs auf eine wöchentliche extrakorporale Lipid-Apherese-Therapie - zwar gegenwärtig nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht [dazu unter a)]; angesichts des Gesundheitszustandes des Antragstellers ist ihm die begehrte Leistung nach einer Abwägung der widerstreitenden Interessen jedoch im Rahmen einer Folgenabwägung zuzusprechen [dazu unter b)].

 

a) Das Begehren kann im Grundsatz auf § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und Nr. 5 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V), § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5, § 135 Abs. 1 SGB V i.V.m. § 3 Abs. 2 der Anlage I Nr. 1 MVV-RL [dazu unter aa)] bzw. auf § 2 Abs. 1a SGB V [dazu unter bb)] gestützt werden.

 

aa) Nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und Nr. 5 SGB V wird Krankenbehandlung in Form ärztlicher Behandlung durch einen Vertragsarzt oder Krankenhausbehandlung erbracht. Dieser Anspruch unterliegt jedoch den sich aus § 2 Abs. 1 und § 12 Abs. 1 SGB V ergebenden Einschränkungen. Er umfasst nur solche Leistungen, die zweckmäßig und wirtschaftlich sind und deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen. Eine Krankenbehandlung ist in diesem Sinne notwendig, wenn durch sie ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand behoben, gebessert, vor einer Verschlimmerung bewahrt wird oder Schmerzen und Beschwerden gelindert werden können (Senat, Beschluss vom 29. Januar 2021 -  L 11 KR 865/20 B ER - juris, Rn. 32 ff.). Dabei sind Krankenkassen (und damit hier die Antragsgegnerin) nicht bereits dann leistungspflichtig, wenn die streitige Therapie im konkreten Fall nach Einschätzung des Versicherten oder seiner behandelnden Ärzte positiv verläuft bzw. wenn einzelne Ärzte die Therapie befürworten (vgl. BSG, Urteil vom 4. April 2006 - B 1 KR 12/05 R - juris, Rn. 15). Die betreffende Therapie ist, wenn es - wie hier unstreitig - um eine sog. neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode (vgl. § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V) geht, nur dann von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung umfasst, wenn der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 SGB V Empfehlungen abgegeben hat über 1. die Anerkennung des diagnostischen und therapeutischen Nutzens der neuen Methode sowie deren medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit - auch im Vergleich zu bereits zu Lasten der Krankenkassen erbrachten Methoden - nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse in der jeweiligen Therapierichtung, 2. die notwendige Qualifikation der Ärzte, die apparativen Anforderungen sowie Anforderungen an Maßnahmen der Qualitätssicherung, um eine sachgerechte Anwendung der neuen Methode zu sichern, und 3. die erforderlichen Aufzeichnungen über die ärztliche Behandlung. Durch Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 i.V.m. § 135 Abs. 1 SGB V wird nicht nur geregelt, unter welchen Voraussetzungen die zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassenen Leistungserbringer neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden zu Lasten der Krankenkassen erbringen und abrechnen dürfen. Vielmehr legen diese Richtlinien auch den Umfang der den Versicherten von den Krankenkassen geschuldeten ambulanten Leistungen verbindlich fest (vgl. BSG a.a.O.).

 

Vorliegend hat der G-BA in der MVV-RL die ambulante Durchführung der Lipid-Apherese als anerkannte Behandlungsmethode aufgenommen. Hiernach sollen Apheresen nach § 1 Abs. 2 der Anlage I Nr. 1 MVV-RL nur in Ausnahmefällen als "ultima ratio" bei therapierefraktären Verläufen eingesetzt werden. Nach § 3 Abs. 1 der Anlage I Nr. 1 MVV-RL können LDL-Apheresen bei Hypercholesterinämie nur durchgeführt werden bei Patienten mit familiärer Hypercholesterinämie in homozygoter Ausprägung oder mit schwerer Hypercholesterinämie, bei denen grundsätzlich mit einer über zwölf Monate dokumentierten maximalen diätetischen und medikamentösen Therapie das LDL-Cholesterin nicht ausreichend gesenkt werden kann. Nach § 3 Abs. 2 der Anlage I Nr. 1 MVV-RL können LDL-Apheresen bei isolierter Lp(a)-Erhöhung nur durchgeführt werden bei Patienten mit isolierter Lp(a)-Erhöhung über 60 mg/dl und LDL-Cholesterin im Normbereich sowie gleichzeitig klinisch und durch bildgebende Verfahren dokumentierter progredienter kardiovaskulärer Erkrankung (koronare Herzerkrankung, periphere arterielle Verschlusskrankheit oder zerebrovaskuläre Erkrankungen).

 

(1) Die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen (dazu BSG, Urteil vom 16. Mai 2024 - B 1 KR 40/22 R - juris, Rn. 29) für den Anspruch des Antragstellers sind glaubhaft gemacht. Der behandelnde Arzt des Antragstellers hat das Beratungsverfahren bei der Apherese-Kommission nach § 6 Abs. 1 der Anlage I Nr. 1 MVV-RL durchgeführt. Mit dem Antrag des behandelnden Facharztes vom 16. September 2024 an die KV WL ist die erste Stufe des Verfahrens eingeleitet worden (BSG, a.a.O.). Die Mitteilung des negativen Kommissionsvotums an die Antragsgegnerin vom 6. November 2024 hat diese Stufe abgeschlossen. Auf der zweiten Verfahrensstufe hat die Antragsgegnerin über den Leistungsanspruch des Antragstellers durch Leistungsbescheid (§ 7 der Anlage I Nr. 1 MVV-RL) entschieden. Die ablehnende Entscheidung der Antragsgegnerin unterliegt der vollen gerichtlichen Überprüfung (BSG, a.a.O.).

 

(2) Ob die medizinischen Voraussetzungen nach § 3 Anlage I Nr. 1 MVV-RL bei dem Antragsteller vorliegen, ist derzeit offen.

 

(a) Für das Vorliegen einer familiären Hypercholesterinämie in homozygoter Ausprägung im Sinne von Abs. 1 Variante 1 oder einer isolierten Lp(a)-Erhöhung im Sinne von Abs. 2 bestehen keine Anhaltspunkte.

 

(b) Offen ist demgegenüber, ob die Voraussetzungen des Abs. 1 Variante 2 vorliegen, nämlich eine schwere Hypercholesterinämie [dazu unter (aa)] sowie die weitere Bedingung, dass bei dem Antragsteller grundsätzlich mit einer über zwölf Monate dokumentierten maximalen diätetischen und medikamentösen Therapie das LDL-Cholesterin nicht ausreichend hat gesenkt werden können [dazu unter (bb)]. Offen ist auch das abschließende Ergebnis der Abwägung der Indikationsstellung unter maßgeblicher Berücksichtigung des Gesamt-Risikoprofils des Antragstellers [dazu unter (cc)].

 

(aa) Bei dieser allgemein gefassten Indikation nach § 3 Abs. 1 der Anlage I Nr. 1 MVV-RL geht es um bestimmte schwere, therapierefraktäre Krankheitsverläufe, für die derzeit keine therapeutischen Alternativen gesichert sind. Zielgruppe sind insoweit konventionell "austherapierte" Patienten, für die sich die Apherese-Behandlung als ultima ratio darstellt. Hierbei müssen ein unzureichender Behandlungserfolg nach Statintherapie oder Therapie mit Cholesterin-Absorptionshemmern, gegebenenfalls auch in Kombination mit Statinen, oder eine Unverträglichkeit nachgewiesen sein (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 6. Februar 2007 - 1 BvR 3101/06 - juris, Rn. 6 m.V.a. den zusammenfassenden Bericht des Arbeitsausschusses „Ärztliche Behandlung“ des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Beratungen gemäß § 135 Abs. 1 SGB V vom 25. Juli 2003 über therapeutische Hämapheresen, S. 174).

 

Nach den vorliegenden medizinischen Unterlagen in Übereinstimmung mit der Bewertung durch den MD besteht bei dem Antragsteller eine heterozygote Hypercholesterinämie und Hyperlipoproteinämie (angeborene Lipoprotein (a)-Erhöhung), zudem eine arterielle Hypertonie und der Nachweis von Karotisplaques beidseits, Zustand nach linkshirnigem Mediainfarkt bei M1-Verschluss im April 2021. Das ergibt sich einerseits aus dem lipidologischen Gutachten vom 7. Juli 2024, andererseits aus dem Befundbericht von Y. sowie auch aus der Bewertung durch den MD. Der Fall des kombinierten Vorliegens einer Hypercholesterinämie und einer Lipoprotein(a)-Erhöhung (Hyper-Lp(a)ämie) ist nach dem Abschlussbericht ausdrücklich von der anerkannten Indikationsform einer schweren Hypercholesterinämie erfasst (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 6. Februar 2007 - 1 BvR 3101/06 - juris, Rn. 27 m.V.a. S. 175 des Abschlussberichtes).

 

Nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung ergeben sich zudem Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller wegen der Unverträglichkeiten von Statinen einerseits und des unzureichenden Behandlungserfolgs mit Inclisiran (PCSK9-Hemmer) und Bempedoinsäure andererseits austherapiert in diesem Sinne ist. Das LDL-Cholesterin liegt nach dem lipidologischen Gutachten unbehandelt bei über 220 mg/dl. Trotz des Einsatzes von Inclisiran (PCSK9-Hemmer) hat trotz Befundverbesserung und zwischenzeitlich erhobenen LDL-C-Werten von 87 mg/dl am 15. August 2024 eine LDL-Erhöhung im dreistelligen Bereich mit 114 mg/dl vorgelegen. Ungeachtet der unterschiedlichen Angaben zu den Zielwerten ist jedenfalls selbst der (höhere) Zielwert von 55 mg/dl nach den Angaben von Y. bzw. der X. (Bericht vom 11. September 2024) – 40 mg/dl nach dem lipidologischen Gutachten – (trotz zu verzeichnender Befundverbesserung) auch mit Inclisiran nicht erreicht worden. Auch nach der Einschätzung der Apherese-Kommission sind die LDL-C-Werte unter der maximal verträglichen konservativen Therapie nicht eindeutig in den Zielbereich zu senken. Die anderen Behandlungen haben zu immobilisierenden Myalgien geführt, die Unverträglichkeiten sind der Bundesärztekammer gemeldet worden. Der derzeit nicht medikamentös therapierbare Lipoprotein (a)-Gerinnungs- und Verkalkungsfaktor ist nach den Angaben von Y. um den Faktor 6-7 zur Normalbevölkerung erhöht. Auch nach den Feststellungen im lipidologischen Gutachten von A. ist das Lipoprotein (a) unter der Therapie mit Inclisiran unter Berücksichtigung des am 29. März 2023 erhobenen Wertes von 196 mg/dl deutlich außerhalb des Zielbereiches von maximal 75 mg/dl. Eine abweichende Bewertung dürfte sich auch nicht durch den Wert von 153,6 mg/dl am 15. August 2024 ergeben. Das Gesamt-Cholesterin hat ausweislich des Gutachtens am 6. Juni 2024 bei 193 mg/dl bei einem anzustrebenden Wert von unter 175 mg/dl gelegen.

 

Sowohl A. als auch Y. sehen als einzige Behandlungsmöglichkeit zur deutlichen Senkung des Lipoproteins (a) und des LDL-Cholesterins die Durchführung der begehrten Lipid-Apherese in wöchentlichen Abständen. Y. hat hierzu im Wesentlichen mitgeteilt, es bestehe eine zwingende Indikation zur kurzfristigen Aufnahme der Lipid-Apherese. Ein Unterbleiben dieser Behandlung bedeute für den Antragsteller Lebensgefahr durch einen erneuten Schlaganfall oder ein erneut auftretendes Krankheitsbild der koronaren Herzerkrankung. Die Fortführung einer oralen Statintherapie verbiete sich. Bleibe das LDL-Cholesterin weiter im hohen pathologischen Bereich und werde keine Lipid-Apherese zur Senkung des LDL-Cholesterins deutlich unter 55 mg/dl durchgeführt, so sei bei einem neuen Ereignis zerebral neben einer weiteren Verschlechterung der Hirnfunktion auch ein tödliches Ereignis und nicht nur eine deutliche Behinderung zu erwarten. Auch ausweislich des Befundberichtes der X. vom 11. September 2024 besteht bezüglich der atherosklerotischen Erkrankung bestehe aktuell medikamentös keine weitere Option, so dass eine Lipid-Apherese aktuell zu befürworten sei.

 

Entgegen dem Vorbringen der Antragsgegnerin haben sowohl die X. (Bericht vom 11. September 2024) also auch Y. (Stellungnahme vom 26. März 2025) den erfolglosen Einsatz von PSCK9-Hemmern dargelegt. Die Applikation von Inclisiran hat zwar zur Senkung des LDL-Cholesterins geführt, der Zielwert ist jedoch weiterhin nicht erreicht. Ausweislich des lipidologisch-nephrologischen Gutachtens von Y. vom 16. Januar 2025 hat das LDL-Cholesterin im März 2023 bei 228 mg/dl und nach dem Einsatz von Inclisiran beginnend im März 2024 bei 108 mg/dl, im August 2024 bei 114mg/dl und damit weiterhin weit entfernt von dem empfohlenen Wert unter 55 mg/dl (bzw. 40 mg/dl) gelegen. Nach den Angaben von Y. ist ein Erfolg der LDL-Senkung unter 55 mg/dl nur in Kombination mit Statinen zu erwarten, für welche im Fall des Antragstellers aber eine Unverträglichkeit besteht. Des Weiteren hat sich Y. auch zum Einsatz von Ezetimib und Nilemdo (Bempedoinsäure) geäußert und insoweit ausgeführt, dass der Antragsteller diese nicht vertragen habe. Für Nilemdo ergibt sich dies zudem aus dem Bericht über unerwünschte Arzneimittelwirkungen an die Bundesärztekammer. Für Ezetimib und generell die Unverträglichkeit von Bempedoinsäure ergibt sich Entsprechendes aus dem lipidologischen Gutachten vom 7. Juli 2025 sowie aus den Angaben im Erstantrag.

 

(bb) Im Rahmen der im Eilverfahren gebotenen Prüfung bestehen allerdings Bedenken, dass das Erfordernis nach § 3 Abs. 1 der Anlage I Nr. 1 der MVV-RL, dass das LDL-Cholesterin grundsätzlich mit einer über zwölf Monate dokumentierten maximalen diätetischen und medikamentösen Therapie nicht ausreichend hat gesenkt werden können, nach derzeitiger Aktenlage glaubhaft gemacht ist. Ungeachtet der Frage der Auslegung dieses Erfordernisses in Bezug auf den Wortlaut „grundsätzlich“ (vgl. dazu SG Hannover, Urteil vom 23. Februar 2020 - S 19 KR 969/18 - juris, Rn. 56) fehlt es vorliegend gänzlich an einer Dokumentation der diätetischen Therapie oder an einem plausiblen Vortrag, weshalb dies im Fall des Antragstellers ausnahmsweise nicht erforderlich ist. Der Hinweis auf die Körpergröße von 165 cm bei einem Körpergewicht von 60 kg ist dazu jedenfalls nicht geeignet, weil sich zum einen auf dem Erstantrag und etwa dem Befundbericht von Y. vom 18. Juni 2025 davon abweichende Angaben mit einem Körpergewicht von ca. 93 kg bei einer Körpergröße von 186 cm finden bzw. ausweislich des lipidologischen Gutachten vom 7. Juli 2024 Übergewicht und ein BMI von 27,2 kg/m2 vorliegt, zum anderen der Ernährungszustand nicht zwingend auf die Ernährungsgewohnheiten schließen lässt. Der bloße Hinweis auf die Aushändigung eines Diätplans und die Umstellung der Ernährung vermag jedoch die geforderte Dokumentation nicht zu ersetzen. 

 

(cc) Nach § 3 Abs. 1 Satz 2 der Anlage I Nr. 1 MVV-RL soll im Vordergrund der Abwägung der Indikationsstellung das Gesamt-Risikoprofil des Patienten stehen. Auch insoweit ist das Ergebnis derzeit offen:

 

Nach der Abwägung der Y. und A. ist aufgrund des Gesamt-Risikoprofils des Antragstellers insbesondere unter Berücksichtigung der nicht erreichbaren Zielwerte der LDL-C-Werte einerseits und des Lipoprotein(a)-Wertes andererseits die Durchführung der begehrten Lipid-Apherese angezeigt. Ausweislich des Befundberichts von Y. vom 18. Juni 2025 ist in der Kombination der arteriellen Hypertonie und Hypercholesterinämie ein deletärer Ausgang möglich. Hinzu komme der weitere Risikofaktor des derzeit nicht medikamentös therapierbaren stark erhöhte Lipoprotein (a)-Gerinnungsfaktor. Ein weiterer Hirninfarkt oder ein koronares Erstereignis/Herzinfarkt sei zu erwarten, weshalb eine Gefahr für Leib und Leben des Antragstellers bestehe.

 

Nach der Bewertung des MD liegen die Voraussetzungen von § 3 Abs. 1 der Anlage I Nr. 1 MVV-RL dagegen nicht vor. Insbesondere stünden außer Inclisiran mit Repatha und Praluent weitere PCSK9-Antikörper zur LDL-Cholesterin-Senkung zur Verfügung. Aus der Dokumentation gehe nicht nachvollziehbar eine Befundkonstellation hervor, für die es keine Therapiealternativen gebe und daher die Lp(a)-Apherese eine ultima-ratio-Behandlung darstelle.

 

(3) Die eingedenk dessen noch erforderlichen Ermittlungen verbleiben aber im Hinblick auf die besondere Eilbedürftigkeit dem Hauptsacheverfahren überlassen. Besteht die Gefahr, dass die dem vorläufigen Rechtsschutzverfahren zu Grunde liegende Beeinträchtigung des Lebens, der Gesundheit oder der körperlichen Unversehrtheit des Versicherten sich jederzeit verwirklichen kann, verbieten sich zeitraubende Ermittlungen im vorläufigen Rechtsschutzverfahren; in diesem Fall, der in der Regel vorliegen wird, hat sich die Entscheidung an einer Abwägung der widerstreitenden Interessen zu orientieren (dazu sogleich; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16. Juni 2015 - L 9 KR 99/15 B ER - juris; BVerfG, Beschluss vom 22. November 2002 - 1 BvR 1586/02 - NJW 2003, 1236 f.).

 

bb) Gleichfalls noch offen ist, ob der Antragsteller aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Beschluss vom 6. Dezember 2005 - 1 BvR 347/98 - SozR 4-2500 § 27 Nr. 5) zum Vorliegen einer notstandsähnlichen Krankheitssituation, die der Gesetzgeber inzwischen in § 2 Abs. 1a SGB V normiert hat, einen Anordnungsanspruch herleiten kann.

 

Nach § 2 Abs. 1a SGB V können Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, auch eine vom Qualitätsgebot (§ 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V) abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.

 

(1) Eine Erkrankung ist lebensbedrohlich, wenn sie in überschaubarer Zeit das Leben beenden kann, und dies eine notstandsähnliche Situation herbeiführt, in der Versicherte nach allen verfügbaren medizinischen Hilfen greifen müssen. Die Erkrankung muss trotz des Behandlungsangebots mit vom Leistungskatalog der GKV regulär umfassten Mitteln lebensbedrohlich sein. Ein nur allgemeines mit einer Erkrankung verbundenes Risiko eines lebensgefährlichen Verlaufs genügt hierfür nicht (BSG, Urteil vom 20. März 2018 - B 1 KR 4/17 R - SozR 4-2500 § 2 Nr. 12 - IVIG-Therapie). Die notstandsähnliche Situation muss im Sinne einer in einem gewissen Zeitdruck zum Ausdruck kommenden Problematik vorliegen, wie sie für einen zur Lebenserhaltung bestehenden akuten Behandlungsbedarf typisch ist. Das bedeutet, dass nach den konkreten Umständen des Falles bereits drohen muss, dass sich der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen wird (BSG, Urteil vom 20. März 2018 - a.a.O. m.w.N). Eine "nur" schwerwiegende Erkrankung zählt auch dann nicht dazu, wenn sie die körperliche Unversehrtheit und die Lebensqualität schwerwiegend beeinträchtigt (vgl. BSG a.a.O.). Nicht mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung auf einer Stufe steht dabei selbst ein Krankheitsbild, das ("nur") zu allgemeiner Leistungsminderung und eingeschränkter Lebenserwartung führt (BSG, Urteil vom 14. Dezember 2006 - B 1 KR 12/06 R - juris, Rn. 21: Kardiomyopathie; Senat, Beschluss vom 3. Juli 2020 - L 11 KR 181/20 B ER - juris, Rn. 41).

 

Es ist offen, ob von einer derzeit lebensbedrohlichen Erkrankung bei dem Antragsteller auszugehen ist. Der Y. hat in seinem Befundbericht vom 18. Juni 2025 mitgeteilt, in der Kombination der arteriellen Hypertonie und Hypercholesterinämie sei ein deletärer Ausgang möglich. Hinzu komme der weitere Risikofaktor des derzeit nicht medikamentös therapierbaren stark erhöhte Lipoprotein (a)- Gerinnungsfaktor. Ein weiterer Hirninfarkt oder ein koronares Erstereignis/Herzinfarkt sei zu erwarten, weshalb eine Gefahr für Leib und Leben des Antragstellers bestehe. Andererseits erfolgen die Vorstellungen nur halbjährlich, so dass offensichtlich auch aus Sicht des behandelnden Arztes eine engmaschige Kontrolle nicht angezeigt ist. Ausweislich des beiliegenden Befundberichtes der X. vom 11. September 2024 haben sich bei der an diesem Tag durchgeführten ergänzenden kardiologischen Diagnostik aus Anamnese, EKG und Echokardiographie zudem keine Hinweise für eine interventionsbedürftige koronare Herzerkrankung ergeben. Es zeige sich eine diskrete Aortenklappensklerose mit minimaler Insuffizienz, weshalb eine Kontrolle in spätestens 2 Jahren empfohlen werde.

 

Der MD nimmt keine Stellung zur Frage einer lebensbedrohlichen Situation.

 

(2) Nach derzeitiger Aktenlage nicht abschließend zu bewerten ist ferner, ob eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Nach den Angaben der Y. und A. dürfte dies der Fall sein. Zur abschließenden Beurteilung bedarf es allerdings weiterer Ermittlungen, die aus den o.g. Gründen dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben müssen.

 

b) Indes ist vorliegend der Anordnungsanspruch (bei unterstelltem offenem Verfahrensausgang) aus den Grundsätzen der Folgenabwägung herzuleiten.

 

Dazu sind vor allem die Folgen zu berücksichtigen, die die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes für den Antragsteller hätte. Je schwerer die Belastungen hieraus wiegen und je geringer die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie im Falle des Obsiegens in der Hauptsache rückgängig gemacht werden können, desto weniger kann das Interesse an einer vorläufigen Regelung zurückgestellt werden. Angesichts der überragend hohen Bedeutung, die dem Leben als Rechtsgut in der grundgesetzlichen Ordnung zukommt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 6. Dezember 2005 - 1 BvR 347/98 - juris), sind in Verfahren wie dem vorliegenden an die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes hohe Anforderungen zu stellen (Senat, Beschluss vom 6. Februar 2017 - a.a.O., m.w.N.).

 

Besteht die Gefahr, dass der Versicherte ohne die Gewährung der umstrittenen Leistung vor Beendigung des Verwaltungs- bzw. Hauptsacheverfahrens stirbt oder er schwere oder irreversible gesundheitliche Beeinträchtigungen erleidet, ist ihm die begehrte Leistung regelmäßig zu gewähren, wenn das Gericht nicht aufgrund eindeutiger Erkenntnisse davon überzeugt ist, dass die begehrte Leistung unwirksam oder medizinisch nicht indiziert oder der Einsatz mit dem Risiko behaftet ist, die abzuwendende Gefahr durch die Nebenwirkungen der Behandlung auf andere Weise zu verwirklichen (Senat, Beschluss vom 29. Januar 2021 - L 11 KR 865/20 B ER - juris, Rn. 58; so auch Bayerisches LSG, Beschluss vom 24. Januar 2008 - L 5 B 1074/07 KR ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 10. Februar 2014 - L 9 KR 293/13 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16. Juni 2015 - a.a.O. - jeweils juris).

 

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze steht dem Antragsteller bei einer Folgenabwägung der Anspruch auf Bewilligung der von ihm begehrten Lipid-Apherese-Behandlungen im tenorierten Umfang zu. Danach kann ihm nicht zugemutet werden, bis zu einer Entscheidung im Verwaltungs- bzw. ggf. Hauptsacheverfahren auf die Behandlungen zu verzichten. Ohne diese Behandlungen kann nach der Prognose von Y. nicht ausgeschlossen werden, dass es erneut zu einem weiteren Hirn- oder Herzinfarkt kommen. In der Kombination der arteriellen Hypertonie und Hypercholesterinämie sei ein deletärer Ausgang möglich. Es bestehe eine Gefahr für Leib und Leben des Antragstellers. Das unbehandelt zu erwartende nächste Ereignis könne zur Invalidisierung und/ oder vorzeitigem Tod des Antragstellers führen, so dass das im Vordergrund der Abwägung der Indikationsstellung zu berücksichtigende Gesamtrisiko-Profil den Einsatz der streitgegenständlichen Behandlung unabdingbar und zeitnah erforderlich mache, um das Leben und die körperliche Unversehrtheit des Patienten zu schützen. Dieser Zustand ist im Rahmen der summarischen Prüfung in einem gerichtlichen Eilverfahren als lebensbedrohlich zu qualifizieren, auch wenn er noch nicht das Stadium einer akuten Lebensgefahr erreicht hat (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 6. Februar 2007 - 1 BvR 3101/06 -  juris, Rn. 22 m.w.N.)

 

Das gegenläufige finanzielle Risiko für die Antragsgegnerin erachtet der Senat derzeit als hinnehmbar (Senat, Beschluss vom 30. Mai 2016 - L 11 KR 152/16 B ER - juris, m.w.N.).

 

c) Der Antragsteller hat einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Aufgrund der bereits festgestellten Erkrankungen und der dadurch bestehenden Gefährdung für Leib und Leben ist es ihm nicht zuzumuten, das Hauptsacheverfahren abzuwarten. Zudem kann der Antragsteller auch nach seiner vorgetragenen finanziellen Lage nicht auf ausreichende eigene Mittel für die wöchentlichen Kosten in Höhe von 963,00 Euro zurückgreifen, was ihm ein Abwarten der Hauptsacheentscheidung als zumutbar erscheinen ließe und daher einem Anordnungsgrund entgegenstehen würde (Senat, Beschluss vom 20. Mai 2020, L 11 KR 166/20 B ER - juris; zu den anzunehmenden Kosten einer Apherese-Behandlung siehe neben den Angaben der Ärzte LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 6. Mai 2019 - L 16 KR 121/19 B ER - juris).

 

d) Der Senat hat die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Leistungsgewährung im tenorierten Umfang befristet. Eine solche Befristung ist deshalb geboten, weil die begehrte Leistung nach § 8 Abs. 1 Satz 1 Anlage I Nr. 1 zur MVV-RL im Hauptsacheverfahren grundsätzlich zunächst nur für einen Zeitraum von einem Jahr gewährt werden könnte. Im vorläufigen Rechtsschutzverfahren ist die Leistungspflicht deshalb zu beschränken, um dem vorläufigen Charakter der Entscheidung Rechnung zu tragen. Die Befristung ist aber auch deshalb geboten, um es der Antragsgegnerin zu ermöglichen, die Feststellung der Fortdauer der Indikation sowie die Ergebnisse der Behandlung der Erkrankung unter Kontrolle zu halten und dadurch den Vorbehalt einer Überprüfung des Anspruchs im Hauptsacheverfahren nicht leerlaufen zu lassen (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16. Juni 2015 - a.a.O. - juris).

 

Für den Zeitraum der Leistungsgewährung obliegt dem Antragsteller und seinen behandelnden Ärzten die genaue Dokumentation des Behandlungsverlaufs einschließlich regelmäßiger Blutkontrollen einschließlich des LDL-C-Wertes und Lp(a)-Wertes sowie das Führen eines Ernährungstagebuches.

 

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG. Der Senat hat im Rahmen seiner Kostenentscheidung berücksichtigt, dass der Antragsteller eine unbefristete Versorgung im Eilverfahren beantragt hat.

 

Der Beschluss ist nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).

Rechtskraft
Aus
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