L 8 SO 180/19

Sozialgericht
SG Hildesheim (NSB)
1. Instanz
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Aktenzeichen
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Datum
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2. Instanz
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Datum
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3. Instanz
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Kategorie
 

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hildesheim vom 11. Juni 2019 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Im Streit ist die Anerkennung eines Mehrbedarfs für kostenaufwändige Ernährung von April 2016 bis Dezember 2017, insbesondere aufgrund einer Glutenunverträglichkeit.

Der 1953 geborene Kläger ist Eigentümer eines selbstbewohnten Hausgrundstücks (und weiterer Grundstücke) in der seit November 2016 im Kreisgebiet des Beklagten liegenden Stadt G. im Harz (im Folgenden Stadt); zuvor lag sie im Landkreis Osterode, dem Rechtsvorgänger des Beklagten. Für die Zeit ab Juli 2009 ist bei dem Kläger das Vorliegen einer vollen Erwerbsminderung bescheinigt (s. Mitteilung der Deutschen Rentenversicherung Braunschweig-Hannover - DRV - vom 3.11.2015). Er ist seit 2010 als schwerbehinderter Mensch anerkannt, zunächst mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 100 und seit April 2014 mit einem GdB von 80 sowie den Merkzeichen G, ab November 2014 zudem Merkzeichen B und aG. Seit Februar 2019 erhält er von der DRV eine Regelaltersrente (Bescheid vom 12.11.2018, damals bewilligt in monatlicher Höhe von 112,50 €).

Der Kläger bezog von Ende 2009 bis März 2016 mit einer Unterbrechung (von Januar 2012 bis September 2014) Leistungen nach dem SGB II (Grundsicherung für Arbeitssuchende), wobei ihm bis 2011 ein Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung aufgrund der Folgen einer Krebserkrankung zuerkannt worden war (erstmalig mit Bescheid der Stadt vom 20.10.2010). Seit Oktober 2014 begehrte er weiterhin die Anerkennung eines diesbezüglichen Mehrbedarfs nach dem SGB II, allerdings ohne Erfolg (vgl. zuletzt Bescheide der Stadt vom 2.10. und 3.11.2015 sowie vom 17.3.2016 mit einer Bewilligung bis März 2016).

Mit Bescheid vom 22.3.2016 bewilligte die im Auftrag des Landkreises Osterode handelnde Stadt dem Kläger Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII (Grundsicherungsleistungen) von April bis Juni 2016 in monatlicher Höhe von 384,16 € unter Anerkennung des Regelsatzes (364,00 €), eines Mehrbedarfs wegen Gehbehinderung (61,88 €) sowie für die Warmwassererzeugung (8,28 €), des Beitrags zur freiwilligen Kranken- und Pflegeversicherung (169,95 €), der anteiligen Kosten der Unterkunft und Heizung (insgesamt 54,85 € je Monat) und unter Absetzung eines bereinigten Einkommens aus selbstständiger Tätigkeit von 274,80 €.

Mit Bescheiden der Stadt vom 21.6., 21.9. und 21.10.2016 sowie Änderungsbescheiden des Beklagten (wegen der Zusammenlegung der Landkreise ab November 2016) vom 20.12.2016, 4.4., 5.4. und 24.4.2017 wurden u.a. aufgrund der Berücksichtigung eines geringeren Einkommens und eines erhöhten Regelsatzes dem Kläger Grundsicherungsleistungen für den Zeitraum Juli 2016 bis Juni 2017 wie folgt bewilligt: 612,89 € monatlich für Juli bis September 2016, 544,36 € für Oktober 2016, 518,66 € für November 2016, 543,16 € für Dezember 2016, 554,00 € für Januar 2017, 662,00 € für Februar 2017, 553,40 € für März 2017, 1.125,88 € für April 2017 (unter Berücksichtigung von Nachzahlungen für Heizöl, Wasser und Abwasser) sowie für Mai und Juni 2017 je 556,38 € bewilligt. Die Höhe dieser lebensunterhaltssichernden Leistungen ist nicht im Streit.

Nachdem sein Anliegen bereits Gegenstand eines Gesprächs bei dem Beklagten am 22.3.2016 gewesen war, begehrte der Kläger am 29.8.2016 unter Hinweis auf seinen Vortrag im Verwaltungsverfahren von Oktober 2014 ausdrücklich die Bewilligung eines Mehrbedarfs für kostenaufwändige Ernährung. Er legte eine Bescheinigung des Facharztes für Allgemeinmedizin H. vom 2.6.2016 vor, nach der er wegen einer Krebserkrankung der Vollkost bedürfe. Darin wurde eine Körpergröße von 170 cm und ein Körpergewicht von 81 kg bescheinigt. In einer weiteren Bescheinigung vom 18.10.2016 bestätigte Herr H. zudem die Erforderlichkeit glutenfreier Kost wegen Zöliakie und ein Körpergewicht des Klägers von 79 kg.

Der Beklagte holte eine amtsärztliche Stellungnahme der Dipl.-Med. I. vom 22.11.2016 ein, die eine durch Befunde belegte ausgeprägte Gonarthrose links und eine fortgeschrittene Krebserkrankung (multiples Myelom bzw. Plasmozytom) diagnostizierte. Eine Zöliakie sei nur bescheinigt, aber nicht nachgewiesen. Sie hielt einen ernährungsbedingten Mehrbedarf - unter Berufung auf die Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge (4. Aufl. 2014) - für nicht angezeigt, weil ein Nachweis der Zöliakie vom Kläger trotz Aufforderung nicht erbracht worden sei und weder der Body-Mass-Index (BMI) unter 18,5 (kg/m²) liege, noch ein schneller krankheitsbedingter Gewichtsverlust innerhalb der letzten drei Monate beschrieben werde. Der Beklagte lehnte die Anerkennung eines Mehrbedarfs für kostenaufwändige Ernährung mit gesondertem Bescheid vom 4.4.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4.10.2017 ab.

Mit Bescheid vom 19.6.2017 in Gestalt weiterer Änderungsbescheide vom 27.10. und 14.11.2017 bewilligte der Beklagte folgende Grundsicherungsleistungen für den Zeitraum von Juli bis Dezember 2017: für die Monate Juli bis September je 558,60 €, für Oktober 1.288,43 € (unter Berücksichtigung einer Nachzahlung für Heizöl), für November 534,10 € und für Dezember 531,88 €. Die Bewilligung erfolgte vorläufig. Eine abschließende Entscheidung traf der Beklagte nicht. Die Höhe dieser Leistungen ist nicht im Streit.

Gegen die gesonderte Ablehnung von Mehrbedarfsleistungen (Bescheid des Beklagten vom 4.4.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4.10.2017) hat der Kläger am 7.11.2017 Klage beim Sozialgericht (SG) Hildesheim erhoben. Das SG hat einen Befundbericht des den Kläger behandelnden Facharztes H. vom 6.2.2018 einholt, wonach dieser auf Grund des Verdachts einer Sprue (Zöliakie) getreidefreie Ernährung wahrnehmen müsse, und die Klage abgewiesen, weil der Nachweis einer bestehenden Zöliakie fehle und nach Aussage des Klägers auch nicht mehr geführt werden könne. Eine verzehrende Erkrankung liege beim Kläger nicht vor (Gerichtsbescheid vom 11.6.2019, dem Kläger zugestellt am 18.6.2019).

Gegen diese Entscheidung wendet sich der Kläger mit seiner am 12.7.2019 eingelegten Berufung, mit der er einen Mehrbedarf für glutenfreie Ernährung geltend macht, weil seine Ernährung einen erheblich höheren Kostenaufwand erfordere, als dieser im Regelsatz berücksichtigt sei. Er habe seit einer Chemotherapie unter erheblichen Magen-/Darmproblemen gelitten. Durch eine glutenfreie Ernährung gehe es ihm deutlich besser, jedoch sei ein erhöhtes Aufkommen von Antikörpern aufgrund der Umstellung der Ernährung nicht mehr nachweisbar. Im Übrigen sei es unerheblich, ob bei ihm eine Zöliakie oder eine Glutensensivität vorliege, weil beide Erkrankungen eine glutenfreie Ernährung mit enorm hohen Zusatzkosten erfordern würden.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des SG Hildesheim vom 11.6.2019 und den Bescheid des Beklagten vom 4.4.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4.10.2017 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger Grundsicherungsleistungen zur Deckung eines Mehrbedarfs für kostenaufwändige Ernährung für die Zeit April 2016 bis Dezember 2017 zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

              die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die Entscheidung des SG für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- sowie der Verwaltungsakten des Beklagten verwiesen. Diese Akten haben dem Senat vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.

EnTscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht (§ 151) eingelegte und auch im Übrigen zulässige, insbesondere ohne Zulassung statthafte (§§ 143, 144 Abs. 1 Satz 2 SGG) Berufung ist unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen.

Gegenstand der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4, § 56 SGG) sind zum einen die Leistungsbescheide der Stadt vom 22.3. und 21.6.2016 in Gestalt der Änderungsbescheide der Stadt vom 21.9. und 21.10.2016 und dem Änderungsbescheid des Beklagten vom 20.12.2016 sowie der Ablehnungsbescheid vom 4.4.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4.10.2017 (§ 95 SGG). Nach der Rechtsprechung des für Streitigkeiten nach dem SGB XII zuständigen 8. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) ist zwar der Streit um höhere Leistungen aufgrund eines Mehrbedarfs i.S. des § 30 SGB XII ein abtrennbarer Gegenstand einer Klage (BSG, Urteil vom 10.11.2011 - B 8 SO 12/10 R - juris Rn. 11; vgl. auch BSG, Urteil vom 9.6.2011 - B 8 SO 11/10 R - juris Rn. 11; anders im Leistungsrecht nach dem SGB II: vgl. BSG, Urteil vom 24.2.2011 - B 14 AS 49/10 R - juris Rn. 13 und Urteil vom 10.5.2011 - B 4 AS 100/10 R - Rn. 15). Bei der Entscheidung, ob dem Betroffenen höhere Leistungen (z.B. aufgrund eines Mehrbedarfs nach § 30 SGB XII) zustehen, sind aber grundsätzlich alle Anspruchsvoraussetzungen über Grund und Höhe der Leistungen gemäß § 19 Abs. 2 SGB XII i.V.m. § 41 Abs. 1 SGB XII zu prüfen (sog. Höhenstreit, vgl. statt vieler BSG vom 9.6.2011 - B 8 SO 11/10 R - juris Rn. 13). Eine behördliche Ablehnung (nur) eines Teils der vom Anspruch möglicherweise umfassten Leistungen, z.B. eines Mehrbedarfs (vgl. § 42 Nr. 2 SGB XII i.V.m. § 30 SGB XII), ist ohne Aussage über die Höhe des Gesamtanspruchs rechtlich nicht möglich. Demzufolge legt der Senat - (in Fortführung seiner bisherigen Rechtsprechung, seit Beschluss vom 11.12.2014 - L 8 SO 106/14 B - juris Rn. 7) - den mit der Übersendung der ärztlichen Bescheinigungen vom 2.6. und 18.10.2016 gestellten Antrag des Klägers auf Gewährung eines Mehrbedarfs für kostenaufwändige Ernährung vom 29.8.2016 als einen (in Bezug auf die ihm bewilligten Grundsicherungsleistungen erstmaligen) Antrag auf (höhere) Leistungen aus, über den die Verwaltung nicht isoliert, also unabhängig von der Prüfung, ob laufende lebensunterhaltssichernde Sozialhilfeleistungen zu bewilligen sind, abschlägig entscheiden kann. Verfahrensrechtlich handelt es sich hierbei um ein sogenanntes Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht (…) worden sind, auch nachdem der Verwaltungsakt unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen (§ 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X). Die Erbringung von rechtswidrig nicht gewährten Sozialleistungen beurteilt sich nach § 44 Abs. 4 SGB X.

Zum anderen sind auch die Änderungsbescheide des Beklagten vom 4., 5. und 24.4.2017 sowie sein Bescheid vom 19.6.2017 (für den Folgezeitraum von Juli bis Dezember 2017) in Gestalt des Widerspruchsbescheids des Beklagten vom 4.10.2017 Gegenstand der Klage. Der Senat geht insoweit zugunsten des Klägers (unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsgrundsatzes, s. hierzu BSG, Beschluss vom 26.7.2018 - B 8 SO 46/18 B - juris Rn. 2) davon aus, dass sich sein Widerspruch vom 27.4.2017 nicht nur gegen den Ablehnungsbescheid vom 4.4.2017, sondern auch gegen die Änderungsbescheide vom 4.4., 5.4. und 24.4.2017 richtet, weil dem Anliegen des Klägers, höhere Grundsicherungsleistungen zu erhalten, im Zweifel möglichst umfassend Rechnung getragen werden muss. Der Kläger hat hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht, dass er für den bis dahin beschiedenen Zeitraum von April 2016 bis Juni 2017 eine Bewilligung (auch) eines Mehrbedarfs begehrt. Der Bescheid vom 19.6.2017 betreffend den Folgezeitraum von Juli bis Dezember 2017 ist nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 17.6.2008 - B 8 AY 11/07 R - juris Rn. 10), nach der u.a. im Leistungsrecht nach dem Vierten Kapitel des SGB XII alle bis zum Erlass des Widerspruchsbescheids ergangenen Bewilligungen in analoger Anwendung des § 86 SGG in das Vorverfahren einzubeziehen sind (vgl. jüngst BSG, Beschluss vom 29.2.2024 - B 8 SO 8/23 B - juris Rn. 7 m.w.N.), ebenfalls Verfahrensgegenstand. Der Beklagte hat im Widerspruchsbescheid vom 4.10.2017 deutlich gemacht, dass er die Bewilligung eines Mehrbedarfs für kostenaufwändige Ernährung für den gesamten Zeitraum ablehnt. Die Änderungsbescheide vom 27.10. und 14.11.2017 (für Dezember und Oktober 2017) sind nach § 96 SGG Gegenstand des Klageverfahrens geworden. Nicht Gegenstand des Verfahrens sind die Bescheide die Zeiträume vor April 2016 bzw. ab Januar 2018 betreffend. Diesbezüglich hat der Kläger den Gegenstand der Klage in der mündlichen Verhandlung zeitlich begrenzt.

Der Streitgegenstand ist auch wirksam beschränkt auf die Anerkennung eines pauschalierten Mehrbedarfs nach § 30 Abs. 5 SGB XII (zur Abtrennbarkeit als eigener Streitgegenstand im Sozialhilferecht vgl. BSG, Urteil vom 25.4.2018 - B 8 SO 25/16 R - juris Rn. 12 m.w.N.; anders - s.o. - bei einer behördlichen Ablehnung dieses Teilbedarfs, vgl. Senatsbeschluss vom 11.12.2014 - L 8 SO 106/14 B - juris Rn. 7 sowie Senatsurteil vom 26.1.2021 - L 8 SO 286/17 - juris Rn. 25). Der Kläger hat in seiner Berufungsschrift vom 11.7.2019 deutlich zum Ausdruck gebracht und in der mündlichen Verhandlung beim LSG ausdrücklich bestätigt, dass er ausschließlich die Gewährung von Grundsicherungsleistungen zur Deckung eines Mehrbedarfs für kostenaufwändige Ernährung begehrt. Ein Anspruch auf höhere Grundsicherungsleistungen unter jedem denkbaren Gesichtspunkt ist daher nicht im Streit.

Der Beklagte ist als örtlicher Träger der Sozialhilfe (§ 1 Abs. 2 Satz 1 und 2 des Niedersächsischen Gesetzes zur Ausführung des SGB XII - Nds AG SGB XII i.d.F.v. 11.12.2013, Nds. GVBl. S. 284; außer Kraft getreten zum 1.1.2020) für die Entscheidung über die Grundsicherungsleistungen sachlich (§ 46b Abs. 1 SGB XII i.V.m. § 6 Abs. 1 und 2 Nds. AG SGB XII) und örtlich (§ 46b Abs. 1 SGB XII i.V.m. § 6a Satz 1 Nds. AG SGB XII) zuständig für den im Kreisgebiet des Beklagten lebenden Kläger (gewöhnlicher Aufenthalt). Der Beklagte ist insoweit für den gesamten streitigen Zeitraum (von April 2016 bis Dezember 2017) im gerichtlichen Verfahren als zuständiger Rechtsträger passivlegitimiert, weil er gemäß § 2 Abs. 1 des Gesetzes über die kommunale Neuordnung der Landkreise Göttingen und Osterode am Harz - Niedersachsen - vom 12.11.2015 (Nds. GVBl. Nr. 19 vom 19.11.2015, S. 307) umfassend Rechtsnachfolger des Landkreises Osterode (geworden) ist.

Der Kläger hat im streitgegenständlichen Zeitraum vom Beklagten aufgrund seiner gesundheitlichen Beeinträchtigungen Grundsicherungsleistungen erhalten; die Altersgrenze i.S. des § 41 Abs. 1 und 2 SGB XII hatte der Kläger (noch) nicht erreicht. Grundlage für die Annahme der Leistungsberechtigung dem Grunde nach (§ 19 Abs. 2 i.V.m. § 41 Abs. 1 und 3 SGB XII i.V.m. § 43 Abs. 2 SGB VI) ist die auf Ersuchen der Stadt nach § 45 SGB XII erfolgte und den Beklagten bindende (§ 45 Satz 2 SGB XII) Entscheidung der DRV vom 3.11.2015, nach der die volle Erwerbsminderung des Klägers seit (zumindest) 7.7.2009 bestehe. Der Senat kann aufgrund der nach Aktenlage vorliegenden medizinischen Unterlagen nicht abschließend beurteilen, ob der Kläger im streitgegenständlichen Zeitraum tatsächlich dauerhaft voll erwerbsgemindert gewesen ist. Diese Frage kann aber im Ergebnis ebenso unbeantwortet bleiben wie die Frage, ob der Kläger nach Maßgabe der §§ 82 ff., 90 SGB XII hilfebedürftig gewesen ist bzw. vor dem Einsetzen der Sozialhilfe (Grund-)Vermögen hätte verwerten müssen. Dem Kläger steht der geltend gemachte Anspruch auf Mehrbedarfsleistungen für kostenaufwändige Ernährung gemäß § 42 Satz 1 Nr. 2 SGB XII i.V.m. § 30 Abs. 5 SGB XII bereits aus anderen Gründen nicht zu.

Gemäß §§ 42 Nr. 2, 30 Abs. 5 SGB XII (hier in der vom 1.1.2011 bis 31.12.2019 geltenden Fassung vom 24.3.2011, BGBl. I 453) wird für Kranke, Genesende, behinderte Menschen oder von einer Krankheit oder von einer Behinderung bedrohte Menschen, die einer kostenaufwändigen Ernährung bedürfen, ein Mehrbedarf in angemessener Höhe anerkannt. Nach der Rechtsprechung des BSG ist Voraussetzung für die Anerkennung eines solchen Mehrbedarfs eine bestehende oder eine drohende Erkrankung oder Behinderung, die eine besondere Ernährung ("Krankenkost") bedingt, mit der gegenüber der in der Bevölkerung üblichen, im Regelbedarf zum Ausdruck kommenden Ernährung höhere Kosten einhergehen (vgl. etwa BSG, Urteil vom 14.2.2013 - B 14 AS 48/12 R - juris Rn. 12 ff.; Senatsurteil vom 7.7.2022 - L 8 SO 277/18 - juris Rn. 20).

Es ist nicht mit der notwendigen Überzeugungsgewissheit feststellbar, dass der Kläger aus medizinischen Gründen einer kostenaufwändigen Ernährung bedarf. Dies geht zu seinen Lasten. Nach allgemeinen Grundsätzen trägt jeder die (objektive) Beweislast für die Tatsachen, die den von ihm geltend gemachten Anspruch begründen (sog. Feststellungslast; vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl. 2023, § 103 Rn. 19a), und damit auch die Folgen der Nichtfeststellbarkeit einer Tatsache, aus der ein Recht oder ein Vorteil hergeleitet werden soll (BSG, Urteil vom 24.10.1957 - 10 RV 945/55 - juris Rn. 18 f.).

 Eine Zöliakie, also eine genetisch-determinierte autoimmunologisch vermittelte chronisch-entzündliche Darmerkrankung, die durch den Verzehr von Gluten indiziert wird, allein durch eine lebenslange streng glutenfreie Ernährung therapiert werden kann und mit der nach den Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Gewährung des Mehrbedarfs bei kostenaufwändiger Ernährung (DV Stand 10.11.2023, abrufbar unter https://www.deutscher-verein.de, im Weiteren Empfehlungen) gegenüber einer normalen Vollkost Mehrkosten entsprechend 20 % der Regelbedarfsstufe 1 einhergehen (vgl. Empfehlungen, S. 14), ist nicht nachgewiesen. Die Empfehlungen erfüllen zwar weder nach ihrer Konzeption noch nach ihrer Entstehungsgeschichte die Anforderungen an antizipierte Sachverständigengutachten, die von den Gerichten in normähnlicher Weise angewandt werden könnten (vgl. BSG, Urteil vom 14.2.2013 - B 14 AS 48/12 R - juris Rn. 16 m.w.N.); sie sind aber eine in der Verwaltungspraxis etablierte generelle Orientierungshilfe, die im Normalfall eine gleichmäßige und schnelle Bearbeitung geltend gemachter Mehrbedarfe im Bereich der Krankenkost erlauben (BSG, Urteil vom 27.2.2008 - B 14/7b AS 32/06 R - juris Rn. 39) und „den Umfang der Ermittlungen im Einzelfall“ steuern (BSG, Urteil vom 14.2.2013 - B 14 AS 48/12 R - juris Rn. 16; zum Ganzen auch Harich in jurisPR-SozR 25/2013 Anm. 2; zur Bedeutung der Empfehlungen als Orientierungshilfe im Rahmen der freien Beweiswürdigung vgl. auch Senatsurteile vom 7.7.2022 - L 8 SO 277/18 - juris Rn. 20 und vom 24.6.2021 - L 8 SO 131/19 -; LSG Hamburg, Urteil vom 6.12.2018 - L 4 AS 168/16 - juris Rn. 58, 63 m.w.N.; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 10.1.2019 - L 15 AS 262/16 - juris Rn. 30). Es fehlt hier an objektiven Befunden, die die gesicherte Diagnose des Vorliegens einer Zöliakie begründen. Gemäß dem hausärztlichen Befundbericht von Herrn H. vom 6.2.2018 besteht nur der Verdacht auf eine Sprue/Zöliakie. Nach der amtsärztlichen Stellungnahme von Frau Dipl. Med. J. vom 22.11.2016 kann die vom Hausarzt bescheinigte Zöliakie durch entsprechende Befunde nicht belegt werden. Die Amtsärztin hat ferner darauf hingewiesen, dass trotz nochmaliger Aufforderung des Klägers zur Vorlage von Befunden, die die Zöliakie belegen, solche nicht eingereicht worden seien. Entgegen der im gesamten Verfahren geäußerten Ansicht des Klägers (zuletzt in der mündlichen Verhandlung), wonach unerheblich sei, ob bei ihm eine Zöliakie oder eine sog. Glutensensivität bestehe, sind objektive Befunde, die die gesicherte Diagnose des Vorliegens einer Zöliakie begründen, erforderlich, weil bei einer sog. „Nicht-Zöliakie-Glutensensitivität“ (kurz „NCGS“) grundsätzlich kein erhöhter Kostenaufwand entsteht und keine Anerkennung eines Mehrbedarfs erfolgt.

Bei der NCGS, für die eine allgemeingültige Definition bisher nicht existiert, werden - trotz des sicheren Ausschlusses einer Zöliakie - chronische (Bauch-)Beschwerden mit der Aufnahme glutenhaltiger Lebensmittel in Verbindung gebracht mit einer deutlichen Linderung der Symptome bei Einhalten einer glutenfreien Diät (dazu allg. Andresen, Menge, Layer, Die „Nicht-Zöliakie-Glutensensitivität“ (NCGS), AVP 2018, 78 ff.). Der Senat hat sich bereits eingehend mit den Voraussetzungen der Anerkennung eines Mehrbedarfs für kostenaufwändige Ernährung bei der Erkrankung an Zöliakie einerseits und bei Vorliegen einer sog. Glutensensivität andererseits auseinandergesetzt hat. In dem mit Senatsurteil vom 7.7.2022 beendeten Verfahren L 8 SO 277/18 (veröffentlicht in juris) hat er Beweis erhoben durch die Einholung einer die Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Gewährung des Mehrbedarfs bei kostenaufwändiger Ernährung (DV 12/20) ergänzenden Stellungnahme des Vereins, nach der es unter Verweis auf das von diesem übersandte Gutachten „Krankenkostzulage“ der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin e.V. (DGEM) vom 18.12.2019 keine gesicherten Kriterien zur Diagnose der sog. „Nicht-Zöliakie-Glutensensitivität“ gebe. Der Senat hat dort entschieden, dass eine Gluten- und Glutamatunverträglichkeit bzw. Glutensensivität die Anerkennung eines Mehrbedarfs nicht rechtfertigt. Nach derzeitigen medizinischen Erkenntnissen ist in diesen Fällen eine strenge glutenfreie Diät nicht generell empfohlen bzw. erforderlich und auch nicht zielführend, weil bei diesem Beschwerdebild eine sorgfältige Differentialdiagnostik erfolgen sollte. Für Betroffene, die eine eingeschränkte Kostform praktizieren, steht daneben im Vordergrund, eine professionelle Ernährungsberatung in Anspruch zu nehmen, um Mangel- und Fehlernährung vorzubeugen. Bei Vorliegen einer NCGS reicht eine sich an der Vollkost orientierende, (bloß) glutenreduzierte Ernährung aus. Dies unterscheidet die NCGS wesentlich von der Erkrankung Zöliakie, bei der eine lebenslange streng glutenfreie Ernährung erforderlich ist. Ein kostenaufwändiger Mehrbedarf bedingt die NCGS auch entsprechend den aktuellen Empfehlungen des Deutschen Vereins (S. 11 f.) in der Regel - wie auch hier - nicht.

Nicht ersichtlich und (vom Kläger auch nicht vorgetragen) ist ein noch bestehender ursächlicher Zusammenhang zwischen der mehrere Jahre zurückliegenden, therapierten Krebserkrankung und der Notwendigkeit einer besonderen Ernährung. Aus der amtsärztlichen Stellungnahme von Frau Dipl. Med. J. vom 16.8.2010 ergibt sich, dass der Kläger damals seit einer Chemotherapie Darmprobleme gehabt und durch die Erkrankung und Therapien 20 kg an Gewicht verloren hatte. Der in der Folge für einen Zeitraum von Juni 2010 bis Dezember 2011 bewilligte Mehrbedarf ist entsprechend ihrer Empfehlung nur befristet gewährt worden. Bei starkem Untergewicht (mit einem BMI von weniger als 18,5) oder einem schnellen krankheitsbedingten Gewichtsverlust (von über 5 % des Ausgangsgewichts in den vorausgegangenen drei Monaten; vgl. zu verzehrenden Erkrankungen Scheider, in Schellhorn/Hohm/Scheider/Legros, SGB XII, 20. Aufl. 2020, § 30 Rn. 30.4 bzw. 21. Aufl. 2023 § 30 Rn. 57 ff.) kann zwar regelmäßig von einem erhöhten Ernährungsbedarf ausgegangen werden, allerdings haben diese Voraussetzungen im streitgegenständlichen Zeitraum nicht mehr vorgelegen. Aus der ärztlichen Bescheinigung von Herrn H. vom 2.6.2016 ergeben sich eine Körpergröße von 170 cm und ein Körpergewicht von 81 kg, aus derjenigen vom 18.10.2016 und der amtsärztlichen Stellungnahme der Dipl. Med. J. vom 22.11.2016 ein Körpergewicht von 79 kg, so dass keine Untergewichtigkeit des Klägers (mehr) vorgelegen hat.

Eine weitergehende Sachverhaltsaufklärung ist ohne Mitwirkung des Klägers nicht möglich. Der Kläger hat wiederholt - zuletzt in der mündlichen Verhandlung beim LSG auf gerichtlichen Hinweis (s. Sitzungsprotokoll) - erklärt, dass eine weitere Ausforschung des Sachverhalts nicht erforderlich sei, um den Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung anzuerkennen. Anlass zu weiteren Ermittlungen von Amts wegen besteht bei dieser Sachlage nicht. Auch wenn amtliche Sachaufklärung nicht vom Beteiligtenvorbringen (Tatsachenbehauptungen, Beweisanregungen, Beweisanträgen) abhängig ist, begründet der Amtsermittlungsgrundsatz keine Pflicht von Behörden und Gerichten, Tatsachen zu ermitteln, für deren Bestehen weder das Beteiligtenvorbringen noch sonstige konkrete Umstände des Einzelfalls Anhaltspunkte liefern. In diesem Sinne findet die amtliche Sachaufklärungspflicht ihre Grenze an der Mitwirkungslast der Verfahrensbeteiligten (BSG, Urteil vom 17.12.2019 - B 1 KR 19/19 R - juris Rn. 22).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG) zugelassen, weil über die verfahrensrechtliche Beurteilung einer isolierten Ablehnung eines Antrages auf Mehrbedarfsleistungen nach dem Dritten oder Vierten Kapitel des SGB XII noch nicht höchstrichterlich entschieden ist.

Rechtskraft
Aus
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