L 10 KR 49/06

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Halle (Saale) (SAN)
Aktenzeichen
S 1 KR 199/05
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 10 KR 49/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung wird zurückgewiesen. Die Beklagte hat dem Kläger seine notwendigen außergerichtlichen Kos-ten des Berufungsverfahrens zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Es handelt sich um eine Untätigkeitsklage.

Der 1967 geborene Kläger bezieht eine Rente in Höhe von 319,15 Euro. Am 8. November 2004 beantragte er die freiwillige Kranken- und die gesetzliche Pflegeversi-cherung bei der Beklagten ab dem 1. November 2004. Auf dem Antrag ist handschrift-lich vermerkt:

"KV = 45,96 Euro PV = 5,43 Euro = 51, 39 Euro".

Mit Bescheid vom 10. November 2004 setzte die Beklagte Beiträge aus Kranken- und Pflegeversicherung in Höhe von insgesamt 126,69 Euro fest. Hiergegen legte der Kläger am 10. Dezember 2004 Widerspruch ein und verwies auf die ihm gegebene "Zusicherung". Er sei auch nicht in der Lage, einen so hohen Beitrag zu zahlen.

Mit Bescheid vom 18. Februar 2005 wurden die gesamten Beiträge ab dem 1. Januar 2005 mit 128,69 Euro festgelegt. Auch hiergegen legte der Kläger am 1. März 2005 Widerspruch ein.

Am 22. Juni 2005 erhob der Kläger eine (nicht mehr rechtshängige) Untätigkeitsklage bezüglich seines Widerspruchs vom 10. Dezember 2004. Mit Bescheid vom 30. August 2005 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers als unbegründet zurück. Die dagegen erhobene Klage wurde mit Urteil vom 28. April 2006 weitgehend abgewiesen.

Am 29. Juli 2005 hat der Kläger die hier streitgegenständliche Untätigkeitsklage bezüglich des Widerspruchs vom 1. März 2005 erhoben. Hierzu hat die Beklagte vorgetragen, eine weitere Untätigkeitsklage sei nicht zulässig. Der Änderungsbescheid vom 18. Februar 2005 sei gem. § 86 SGG zwingend Gegenstand des bereits anhängi-gen Widerspruchsverfahrens; ein erneuter Widerspruch sei insoweit nicht notwendig gewesen. Eine Entscheidung könne notwendigerweise über beide Verfahren auch nur einheitlich ergehen. Daher fehle es an einem Rechtschutzbedürfnis.

Mit Urteil vom 29. Mai 2006 hat das Sozialgericht Halle die Beklagte verurteilt, "über den Widerspruch des Klägers vom 1. März 2005 gegen den Bescheid der Beklagten vom 18. Februar 2005 zu entscheiden in der Sitzung des Widerspruchsausschusses, die zeitig der Zustellung des heutigen Urteils nachfolgt."

Zur Begründung hat es ausgeführt, es komme nicht darauf an, ob der Kläger einen materiell-rechtlichen Anspruch habe oder der zu erteilende Widerspruchsbescheid materiell-rechtliche Auswirkungen für ihn habe. Es bestehe ein genereller Anspruch auf Bescheidung.

Gegen das ihr am 23. Juni 2006 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 19. Juli 2006 Berufung eingelegt und zur Begründung ihren bisherigen Vortrag weiter vertieft. Der Kläger habe zur Begründung des zweiten Widerspruchs lediglich auf den Vortrag seines ersten Widerspruchs Bezug genommen. Ihm sei daher bewusst gewesen, dass keine unterschiedlichen Entscheidungen hätten getroffen werden können. Selbst nachdem das Sozialgericht zur Hauptsache entschieden habe, sei der Kläger nicht bereit gewesen, seinen diesbezüglichen Widerspruch zurückzunehmen. Auf die entsprechende Anfrage, wie der Widerspruch nach Erlass des nunmehr rechtskräftigen Urteils des Sozialgerichts Halle begründet werden könne, habe der Kläger nicht geantwortet. Es sei nicht ersichtlich, woraus sich ein Interesse des Klägers an einer weiteren Widerspruchsentscheidung zu diesem Problem ergeben könnte. Es komme dem Kläger offensichtlich vor allem darauf an, bei der Beklagten Verwaltungs- bzw. Widerspruchsverfahren und damit erhebliche Kosten zu provozieren, nur weil der Gesetzgeber ihm (d.h. dem Kläger) nach seiner Ansicht einen Anspruch auf Erteilung eines Widerspruchsbescheides eingeräumt habe. Zu dem vergleichbaren Anspruch auf Überprüfung einer früheren Entscheidung nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) gehe die herrschende Meinung davon aus, dass sich die Behörde nicht mit dem Hinweis auf die Bestandskraft eines Bescheides oder dessen rechtskräftiger Bestätigung in einem Urteil einer Überprüfung entziehen könne. Die Grenze des Anspruchs sei allerdings erreicht, wenn ein Antrag oder Vorbringen, welches bereits erledigt sei, querulatorisch wiederholt würde. In diesen Fällen könne sich die Behörde auf das Institut des Rechtsmissbrauchs berufen. Dieser Gedanke müsse auch analog auf den Anspruch auf Erteilung eines Widerspruchsbescheides angewandt werden. Ohne neue Tatsachen vorzutragen und ohne dass ersichtlich sei, warum die Entscheidung der Beklagten rechtswidrig sein könnte, würde wiederholt die Erteilung eines Widerspruchsbescheides gefordert.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 29. Mai 2006 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung und weist darauf hin, dass die Beklagte auch hätte versuchen können, dass Widerspruchsverfahren zum Ruhen zu bringen, wenn das erste Widerspruchsverfahren vorgreiflich sei.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten haben vorgelegen und waren Gegenstand der Entscheidungsfindung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte ergänzend verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Berufung hat keinen Erfolg; zutreffend hat das Sozialgericht die Beklagte verurteilt, über den Widerspruch des Klägers vom 1. März 2005 gegen den Bescheid der Beklagten vom 18. Februar 2005 zu entscheiden; dabei ist klarzustellen, dass dies in der Sitzung des Widerspruchsauschusses zu erfolgen hat, die zeitlich dem rechtskräftigen Abschluss dieses Rechtstreits folgt.

Zur Begründung der Entscheidung verweist der Senat gemäß § 153 Abs. 2 SGG auf die zutreffenden Gründe des angefochtenen Urteils und ergänzend auf Folgendes:

Eine Untätigkeitsklage ist nach § 88 Abs. 2 SGG zulässig, wenn seit der Einlegung des Widerspruchs drei Monate vergangen sind; sie ist begründet, wenn der Antrag ohne zureichenden Grund in angemessener Frist sachlich nicht beschieden worden ist. Dies ist hier der Fall. Ein zureichender Grund für diese Nicht-Bescheidung in angemessener Frist liegt nicht vor; dies behauptet die Beklagte auch nicht.

Ein Rechtsmissbrauch des Klägers liegt nicht vor, soweit er auf einer Bescheidung besteht. Zwar ist das formelle Recht auf Bescheidung nicht Selbstzweck, sondern dient immer nur der Durchsetzung materieller Ansprüche. Wenn das von der Verwaltungs-behörde nicht beschiedene Sachbegehren offensichtlich unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt Erfolg haben kann, kann die Untätigkeitsklage nicht zur Verurteilung der Behörde führen (vgl. BSG, 11.11. 2003 - B 2 U 36/02 R, Juris; BVerwG, 28.3.1968 - VIII C 22.67, BVerwGE 29, 239, 243 f). Dies ist hier nicht der Fall, denn es ist nicht völlig ausgeschlossen, in dem Vermerk auf dem Antrag zur freiwilligen Versicherung eine Zusicherung im Sinne von § 34 SGB X mit entsprechenden Folgen zu sehen.

Der Anspruch des Klägers auf Bescheidung seines Widerspruchs wird durch den von der Beklagten erwähnten § 44 SGB X bestätigt. Denn diese Vorschrift setzt nach ihrem Wortlaut bereits voraus, dass ein entsprechender Bescheid vorliegt und sogar be-standskräftig geworden sein kann. Auch in diesem Fall hat der Betroffene einen Anspruch auf eine erneute Bescheidung nach § 44 SGB X, soweit er meint, dieser Bescheid sei rechtswidrig gewesen. Damit bestätigt diese Vorschrift gerade die Ansicht des Klägers, dass er Anspruch auf eine wiederholte Bescheidung haben kann. Es ist in dem Rahmen des § 44 SGB X auch nicht zwingend erforderlich, neue Argumente vorzutragen; dies kann allerdings dazu führen, dass die Behörde nicht erneut in eine Sachprüfung eintreten muss (BSG, 3.2.1988 - 9/9a RV 18/86, BSGE 63, 33-37). Parallel könnte die Beklagte auch in einem Widerspruchsbescheid die entscheidenden Gründe nur knapp darlegen und im Übrigen auf bestands- bzw. rechtskräftige Entscheidungen verweisen. Eine querulatorisch wiederholte Antragstellung ist im vorlie-genden Fall nicht ersichtlich; ob dies in anderen Verfahren so ist, kann und darf der Senat nicht berücksichtigen.

Der Senat hat in diesem Zusammenhang auch nicht darüber zu entscheiden, ob der Bescheid vom 18. Februar 2005 gemäß § 86 SGG Gegenstand des bereits anhängigen Widerspruchsverfahrens geworden war. Entscheidend ist, dass die Beklagte selbst diesem Bescheid eine Rechtsmittelbelehrung angefügt hat, wonach der Kläger das Recht des Widerspruchs hat. Damit war die Einlegung des Widerspruchs nicht rechtsmissbräuchlich. Die Beklagte hat dem Kläger auch im weiteren Widerspruchsverfahren nicht darauf hingewiesen, dass insoweit versehentlich eine falsche Rechtsmittelbelehrung verwandt worden sei. Sie hat konsequent in dem Widerspruchsbescheid vom 26. August 2005 auch lediglich über den Widerspruch vom 10. November 2004 entschie-den; genauso hat es das Sozialgericht in dem anschließenden Urteil vom 28. April 2006 gehandhabt. Angesichts dieses Verhaltens der Beklagten und der Probleme hinsichtlich der Frage, ob ein Bescheid gemäß § 86 SGG Gegenstand eines anhängigen Verfahrens geworden ist, war und ist das Festhalten des Klägers an einer Wider-spruchsentscheidung zumindestens nicht rechtsmissbräuchlich. Es steht der Beklagten frei, den Widerspruch als unzulässig abzuweisen, sofern sie an ihrer nunmehrigen Rechtsauffassung bezüglich § 86 SGG festhält. Allerdings wird sie dann auch berücksichtigen müssen, dass § 86 SGG im ersten Verfahren nicht angewandt wurde und möglicherweise trotz § 86 SGG daher das Widerspruchsverfahren nunmehr (nach rechtskräftigem Abschluss des ersten Verfahrens) wieder offen ist (dazu BSG, 12.12.1985 - 7 RAr 23/84, SozR 4100 § 136 Nr. 4; vgl. auch Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Komm. zum SGG, 9. Auflage, § 96 SGG, Rz. 12a).

Insoweit stellt sich eher umgekehrt die Frage, ob der Bescheid vom 10. November 2004 nicht durch den später erlassenen Bescheid vom 18. Februar 2005 ersetzt worden ist und damit nicht mehr isoliert hätte angegriffen werden können (dazu Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Komm. zum SGG, 9. Auflage, § 86 SGG, Rz. 5). Allein schon wegen solcher verfahrensrechtlicher Probleme - die die Beklagte verursacht hat - kann man dem Kläger nicht vorhalten, dass er gegen das Urteil des SG Halle in der Hauptsache vom 28. April 2006 keine Berufung eingelegt hat.

Es kann dahinstehen, ob ein zureichender Grund für die Untätigkeit darin gesehen werden könnte, dass die Beklagte den Ausgang des Parallelverfahrens zu dem Bescheid vom 10. November 2004 abwarten wollte; denn dieses Verfahren war mit Rechtskraft des Urteils vom 28. April 2006 beendet.

Die Entscheidung über die Kosten folgt entsprechend dem Prozessausgang aus § 193 SGG. Der Senat weist ergänzend darauf hin, dass die Beklagte angesichts der von ihr geschaffenen unklaren Rechtslage zumindest Anlass zur Erhebung der Untätigkeitsklage gegeben hat und auch unter diesem Gesichtspunkt verpflichtet wäre, die Kosten des Verfahrens zu tragen (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Komm. zum SGG, 9. Auflage, § 193 Rz. 12b).

Gründe, gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1, 2 SGG die Revision zuzulassen, liegen nicht vor, da es sich um eine Einzelfallentscheidung auf geklärter Rechtsgrundlage handelt.
Rechtskraft
Aus
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