L 6 SB 5405/08

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 6 SB 4176/07
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 SB 5405/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 16. September 2009 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob bei der Klägerin der Grad der Behinderung (GdB) bereits vor dem 1. Januar 1995, und zwar seit dem Zeitpunkt ihrer Geburt 1986 bis 31. Dezember 1994, mit 60 festzustellen ist.

Am 26. September 2003 beantragte die Klägerin erstmals die Feststellung des GdB und gab als Gesundheitsstörungen eine generalisierte Lernbehinderung mit psychischen Problemen an. Aufgrund der Behinderung sei sie außer Stande, sich selbst zu unterhalten. Im Hinblick auf steuerliche Auswirkungen begehre sie einen Schwerbehindertenausweis für die Zeit ab 1. Januar 2002. Sie legte den Bericht zum "Antrag auf Langzeittherapie" der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Dipl.-Psych. D. vom 12. Juli 2001, das psychologische Gutachten des Dipl.-Psych. M. vom 13. Februar 2003 sowie den Therapiebericht des Ergotherapeuten M. (ohne Datum) vor, der über die Behandlung der Klägerin seit Juni 2002 berichtete. Das frühere Versorgungsamt K. (VA) holte den Befundbericht des Kinderarztes Dr. Sch. vom 28. Oktober 2003 ein, der im Hinblick auf die Entwicklung der Klägerin auf die beigefügten, an deren Mutter gerichteten Befundberichte vom 1. August 1995 und 3. Juni 2002 verwies. In seinem Schreiben vom 1. August 2005 berichtete er über seine Untersuchungsergebnisse vom 10. und 25. Februar 1995. Als Diagnosen führte er eine minimale cerebrale Dysfunktion mit Perzeptionsschwächen, intermodale Wahrnehmungsschwächen und eine latente Epilepsie sowie eine Lese-Rechtschreib-Schwäche auf. In der sodann eingeholten versorgungsärztlichen (v.ä.) Stellungnahme vom 14. November 2003 bewertete Dr. Sch. eine psychomotorische Entwicklungsstörung, eine Lernbehinderung und Verhaltensauffälligkeiten mit einem GdB von 60. Gestützt auf diese Stellungnahme stellte das VA den GdB der Klägerin mit Bescheid vom 25. November 2003 mit 60 seit 1. Januar 2002 fest.

Am 18. Januar 2006 beantragte die Klägerin die Bewertung des GdB mit 100 und machte geltend, die bisher berücksichtigten Funktionsbeeinträchtigungen könnten so nicht aufrecht erhalten werden. Zwischenzeitlich liege die Krankenakte ihre Geburt betreffend vor und es erscheine hoch wahrscheinlich, dass sie unter der Geburt eine hochgradige MCD aufgrund eines Sauerstoffmangels erworben habe. Sie bat, im Bescheid als weitere Funktionsbeeinträchtigung "MCD aufgrund von Sauerstoffmangel während der Geburt und Intubation nach der Geburt" aufzunehmen. Sie legte den Entlassungsbericht der Frauenklinik der St.-V.-Krankenhäuser K. vom 22. September 1986 über die stationäre Behandlung ihrer Mutter vom 11. bis 19. September 1986 sowie Kopien der entsprechenden Krankenakte vor. Am 10. Februar 2006 beantragte sie ferner, die Schwerbehinderteneigenschaft rückwirkend zumindest ab dem Jahr 1995 festzustellen. Mit Bescheid vom 14. Februar 2006 stellte das zwischenzeitlich zuständig gewordene Landratsamt K. (LRA) den GdB von 60 bereits ab 1. Januar 1995 fest und berücksichtigte als weitere Funktionsbeeinträchtigung "Minimale cerebrale Dysfunktion".

Am 18. Oktober 2006 beantragte die Klägerin, den GdB zu erhöhen und diesen rückwirkend seit ihrer Geburt festzustellen. Sie legte die Schulbescheinigungen der E.-S.-Schule K. vom 14. Oktober 2004 und 21. September 2005, das Zeugnis der dortigen Hauswirtschaftlichen Berufsschule vom 24. Juli 2006, die "Bescheinigung über die Teilnahme und Mitteilung über die Ergebnisse der Zwischenprüfung im Ausbildungsberuf Hauswirtschaftshelfer/Hauswirtschaftshelferin" vom 9. März 2006, die Ausbildungsbescheinigung des Evangelischen Vereins für S. in K. e.V. vom 13. Oktober 2004, das Schreiben der K. Krankenkasse vom 19. April 2006, in dem zahlreiche Behandlungen seit 29. Dezember 2000 bestätigt wurden, den "Konsiliarbericht vor Aufnahme einer Psychotherapie" des Dr. Sch. (Datum unleserlich) sowie weitere bereits aktenkundige Unterlagen vor. Nach Einholung der v.ä. Stellungnahme des Dr. C. vom 20. Oktober 2006 lehnte das LRA den Antrag der Klägerin auf Neufeststellung des GdB gemäß § 48 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB X) mit Bescheid vom 24. Oktober 2006 ab. Mit dem dagegen eingelegten Widerspruch machte die Klägerin die rückwirkende Feststellung des GdB seit ihrer Geburt geltend und verwies darauf, dass bei ihr seit dem dritten Lebensjahr logopädische Behandlungen durchgeführt worden seien, die um Ergo-, Psycho-, Turn- und Arbeitstherapien erweitert worden seien. Ein Nachweis liege seit dem Jahr 2000 vor. Sie legte nochmals das Schreiben der K. Krankenkasse vom 19. April 2006 sowie Gedächtnisprotokolle ihrer Eltern hinsichtlich der "Geschehnisse bis zur Geburt, den Geburtsverlauf und die Vorgänge nach der Geburt" vor. Auf den Hinweis des LRA, eine rückwirkende Feststellung des GdB ab dem Zeitpunkt der Geburt erfordere einen medizinischen Nachweis der Erkrankung oder Behinderung, entsprechende Unterlagen für den Zeitraum vor dem 1. Januar 1995 lägen jedoch nicht vor, führte die Klägerin aus, es stehe fest, dass die bei ihr vorliegende MCD durch einen Geburtsfehler aufgrund Sauerstoffmangels, während oder nach der Geburt entstanden sei. Das Ausmaß dieses Geburtsfehlers könne nicht nur durch medizinische Gutachten geklärt werden, vielmehr kämen auch Zeugenvernehmungen als Beweismittel in Betracht. Entsprechend seien die vorgelegten Gedächtnisprotokolle zu würdigen. In der sodann vom LRA veranlassten v.ä. Stellungnahme vom 13. April 2007 führte Dr. C. aus, dem ärztlichen Befundbericht aus dem Jahre 1986 die Geburt der Klägerin betreffend sei eine wesentliche Pathologie bei dem Neugeborenen nicht zu entnehmen. Es werde lediglich ein linksseitiger Klumpfuß beschrieben, wobei man über diesen Befund in späteren Befundberichten keine zuverlässigen Informationen finde. Ein anderer Zeitpunkt für die Feststellung des GdB könne nicht vorgeschlagen werden.

Mit Bescheid vom 14. Mai 2007 lehnte es das LRA ab, den GdB der Klägerin bereits ab der Geburt festzustellen. Im Widerspruchsverfahren verwies die Klägerin auf die vorgelegten Gedächtnisprotokolle sowie ärztlichen Unterlagen und machte geltend, bei der MCD könne es sich nur um einen Geburtsfehler durch Sauerstoffmangel handeln; dieser sei nicht erst 1995 eingetreten. Die neuropädiatrischen Funktionsbeeinträchtigungen seien im Säuglings- und Kleinkindalter nicht sofort festgestellt worden, sondern seien schleichend mit der Entwicklung einher gegangen. Ihre Entwicklung sei sehr langsam voran gegangen (Krabbeln sehr selten, Sitzen erst mit acht Monaten, Laufen mit 16 Monaten, Sprechen mit 18 Monaten, Sauberkeit mit drei Jahren), wobei nach dem dritten Lebensjahr wegen fehlender Konsonantenaussprache die Behandlung beim Logopäden begonnen habe. Hiernach sei sie fast zwölf Jahre lang therapiert worden. Dies mache deutlich, dass Funktionsbeeinträchtigungen vorhanden gewesen seien. In der weiteren v.ä. Stellungnahme vom 1. Juni 2007 hielt Dr. C. an der bisherigen Auffassung fest, wonach eine Behinderung erst ab 1. Januar 1995 als nachgewiesen angesehen werden könne. Die angegebenen logopädischen Behandlungen seien durch entsprechende Berichte nicht belegt; auch ärztliche Befundberichte aus der maßgeblichen Zeit lägen nicht vor. Mit Widerspruchsbescheid vom 20. Juli 2007 wurde der Widerspruch zurückgewiesen.

Dagegen erhob die Klägerin am 21. August 2007 beim Sozialgericht Karlsruhe (SG) Klage, mit der sie im Wesentlichen ihr bisheriges Vorbringen wiederholte und ihre Schul- und Berufsausbildung darlegte. Sie verwies darauf, dass über die Therapien von 1989 bis 1995 keine Unterlagen mehr vorhanden seien. Ab März 1995 bis zum Jahr 2000 sei sie bei Dr. Sch. in Behandlung gewesen. Sie legte neben bereits aktenkundigen Unterlagen in Kopie ihren Schwerbehindertenausweis sowie das Schreiben der K. Krankenkasse vom 9. März 2006 vor, mit dem die Inanspruchnahme von Ergo-, Beschäftigungs- und Arbeitstherapien seit 6. Dezember 1999 bestätigt wurde, ferner das an ihren Vater gerichtete Schreiben des Kinder- und Jugendarztes Dr. R. vom 5. November 2007, in dem dieser bestätigte, dass Unterlagen über die Klägerin wegen Ablauf der Aufbewahrungsfrist nicht mehr vorhanden seien. Seiner Erinnerung nach hätten bei der Klägerin jedoch nur leichte Entwicklungsdefizite vorgelegen, keinesfalls jedoch eine schwere Behinderung. Der Beklagte trat der Klage unter Vorlage seiner Verwaltungsakten entgegen. Das SG holte die Auskunft des Finanzamts Karlsruhe-Stadt vom 19. Oktober 2007 über die Möglichkeit einer steuerlichen Ermäßigung bei rückwirkender Feststellung des GdB ein und hörte den Vater der Klägerin, P. K., am 26. Oktober 2007 persönlich an. Sodann hörte es Dr. R. unter dem 26. Februar 2008 und die Logopädin von K. unter dem 27. Februar 2008 schriftlich als sachverständige Zeugen. Beide verwiesen darauf, dass für den Zeitraum bis 1995 keine Patientenakten mehr vorlägen. Der unter dem 21. März 2008 ebenfalls als sachverständiger Zeuge angehörte Ergotherapeut M. äußerte sich inhaltsgleich wie zuvor schon in seinem von der Klägerin vorgelegten Therapiebericht ohne Datum. Am 16. September 2008 vernahm das SG Dr. R. als Zeugen. Mit Urteil vom selben Tag wies es die Klage im Wesentlichen mit der Begründung ab, mangels Dokumentation des Gesundheitszustands bzw. der Entwicklungsverzögerung der Klägerin lasse sich für den Zeitraum vor dem 1. Januar 1995 kein GdB feststellen.

Gegen das der Klägerin am 9. Oktober 2008 zugestellte Urteil hat diese am 6. November 2008 beim SG Berufung eingelegt, ohne diese zu begründen.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 16. September 2008 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 14. Mai 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. Juli 2007 zu verurteilen, den GdB von 60 bereits ab 12. September 1986 festzustellen.

Der Beklagte hat sich im Berufungsverfahren nicht geäußert.

Die Beteiligten sind darauf hingewiesen worden, dass der Senat erwäge, über die Berufung gemäß § 153 Abs. 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) durch Beschluss zu entscheiden.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten des Beklagten sowie der Akten beider Rechtszüge Bezug genommen.

II.

Die gemäß § 151 Abs. 1 und 2 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin, über die der Senat im Rahmen des ihm zustehenden Ermessens nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 153 Abs. 4 SGG entschieden hat, ist statthaft und zulässig; sie ist jedoch nicht begründet.

Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Denn der Bescheid des Beklagten vom 14. Mai 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. Juli 2007 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Es ist nicht zu beanstanden, dass es der Beklagte abgelehnt hat, bei der Klägerin den GdB bereits vor dem 1. Januar 1995, und zwar ab dem Zeitpunkt ihrer Geburt bis zum 31. Dezember 1994 mit 60 festzustellen. Denn ob und in welchem Ausmaß bei der Klägerin auch seinerzeit schon Funktionsbeeinträchtigungen vorgelegen haben, die mit einem GdB bemessen werden können, ist nicht feststellbar. Medizinische Unterlagen, die Aufschluss über den seinerzeitigen Gesundheits- bzw. Entwicklungsstand der Klägerin geben könnten, sind nicht mehr vorhanden. Auch durch die vom SG durchgeführten umfangreichen Ermittlungen war nicht aufzuklären, welche konkreten Gesundheitsstörungen bzw. Behinderungen bei der Klägerin vom Zeitpunkt ihrer Geburt an bis zum 31. Dezember 1994 vorgelegen und welche konkreten Funktionsbeeinträchtigungen hieraus resultiert haben. Damit war nicht feststellbar, ob und ggf. inwieweit die Klägerin während des hier maßgeblichen Zeitraums im Vergleich zu einem gesunden Kind beeinträchtigt war und inwieweit daraus behinderungsbedingte Funktionsstörungen resultiert haben, die es erlauben, mit einem GdB bewertet zu werden. Dies hat das SG zutreffend entschieden, weshalb der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen gemäß § 153 Abs. 2 SGG auf die entsprechenden Ausführungen des SG in der angefochtenen Entscheidung verweist. Ob es bei der Klägerin entsprechend der Vermutung ihres Vater bei der Geburt zu einem Sauerstoffmangel kam, kann vorliegend dahingestellt bleiben. Denn auch wenn man unterstellt, dies sei tatsächlich der Fall gewesen, rechtfertigt sich keine andere Beurteilung. Denn mit der Feststellung eines GdB werden konkrete aus einer Erkrankung oder Behinderung resultierende Funktionsbeeinträchtigungen bewertet, nicht jedoch eine Erkrankung oder Schädigung als solche.

Da die Berufung nach alledem keinen Erfolg haben konnte, war diese zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Für eine Zulassung der Revision bestand keine Veranlassung.
Rechtskraft
Aus
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