L 11 R 723/09

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 8 R 1191/07
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 R 723/09
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 18. Dezember 2008 aufgehoben und die Klage in vollem Umfang abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten beider Instanzen sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung streitig.

Die 1956 geborene Klägerin türkischer Staatsangehörigkeit hat keinen Beruf erlernt und war zuletzt als Montagearbeiterin versicherungspflichtig beschäftigt. In der Zeit vom 26. Juli 2001 bis 25. Juni 2006 wurden mehr als drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder aufgrund des Bezugs von Lohnersatzleistungen im Sinne des § 3 Satz 1 Nr. 3 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) entrichtet, insgesamt sind Beitragszeiten von mehr als fünf Jahren vorhanden (Versicherungsverlauf vom 04. Juli 2006).

Ein erster am 18. Oktober 2004 bei der Beklagten gestellter Antrag auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung nach einem Thalamusinfarkt rechts 2/04 bei cerebraler Mikroangiopathie mit Resthemisymptomatik links blieb erfolglos (Bescheid vom 22. November 2004, Widerspruchsbescheid vom 19. Mai 2005). In Auswertung des Rehabilitations-Entlassungsberichts der S.klinik B. B. (Maßnahme vom 01. März 2004 bis 06. April 2004) bestehe nur noch eine geringgradige Sensibilitätsstörung der linken Körperseite ohne funktionelle Relevanz, so dass bei einer stufenweisen beruflichen Wiedereingliederung in längstens acht Wochen wieder eine vollschichtige Leistungsfähigkeit erreicht werden könne.

Vom 17. Januar bis 28. Februar 2006 führte die Klägerin erneut ein medizinisches Rehabilitationsverfahren in der Klinik A. S. M. in B. S. durch. Nunmehr wurde in den Vordergrund der Diagnosen "Angst und Depression gemischt" gestellt. Diese hätten sich vor dem Hintergrund des apoplektischen Insults mit peristierender Restsymptomatik entwickelt. Die Klägerin habe eine therapeutisch unkorrigierbare panische Angst zu sterben. Eine Mehrbelastung über drei Stunden sei daher nicht realistisch. Die arterielle Hypertonie sei medizinisch gut eingestellt, jedoch labil. Daneben liege noch ein Diabetes mellitus sowie eine Adipositas Grad I vor.

Am 26. Juni 2006 beantragte die Klägerin erneut Rente wegen Erwerbsminderung, die mit Bescheid vom 04. Juli 2006 abgelehnt wurde, nachdem der Beratungsarzt zu dem Ergebnis gekommen war, dass dem Reha-Bericht nicht gefolgt werden könne. Im Widerspruchsverfahren wurde die Klägerin nervenärztlich durch Dr. H. begutachtet. Dieser beschrieb eine undifferenzierte Somatisierungsstörung vor dem Hintergrund einer Dysthymia. Die in B. B. angenommene depressive Anpassungsstörung auf die körperliche Erkrankung sei rückblickend nachvollziehbar, jedoch keinesfalls als Dauerzustand zu werten. Der Beurteilung der Reha-Klinik B. S. könne nicht gefolgt werden. Die gestellte Diagnose von Angst und Depression gemischt komme nur in leichter oder allenfalls mittlerer Ausprägung vor. Laut ICD-10 gelte, dass Patienten dieser Kombination in der Primärversorgung mit verhältnismäßig milden Symptomen sehr häufig gesehen würden. Noch viel häufiger fänden sie sich in der Bevölkerung ohne je in medizinische oder psychiatrische Behandlung zu gelangen. Die Diagnose korreliere damit in keiner Weise mit der sozialmedizinischen Beurteilung. Seitens des Thalamusinfarktes lägen keinerlei Restsymptome vor, lediglich die subjektive Angabe einer Gefühlsminderung der linken Körperhälfte, die sich aber nicht objektivieren lasse. Der Bluthochdruck und der Diabetes mellitus ließen sich medikamentös einstellen. Ein aufgehobenes Leistungsvermögen sei somit in keiner Weise nachzuvollziehen. Bis heute werde weder von der Versicherten noch von ihrem Hausarzt eine fachärztliche psychiatrische Behandlung für erforderlich gehalten. Sie werde lediglich mit einer Minimaldosis eines Antidepressivums, nämlich 10 mg Citalopram, behandelt. Darüber hinausgehende Behandlungsmaßnahmen einer seelischen Störung würden offenbar nicht für erforderlich gehalten und auch nicht durchgeführt. Die Klägerin könne deswegen noch leichte Arbeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes unter Vermeidung von ständigem Heben und Tragen von Lasten ohne mechanische Hilfsmittel und besonderer Anforderungen an die psychische Belastbarkeit sechs Stunden und mehr ausüben.

Mit Widerspruchsbescheid vom 22. März 2007 wies die Beklagte daraufhin den Widerspruch mit der Begründung zurück, nach dem eingeholten Gutachten von Dr. H. könne die Klägerin noch sechs Stunden täglich leichte Tätigkeiten verrichten und sei damit nicht erwerbsgemindert. Sie sei auch nicht berufsunfähig, denn aufgrund ihrer zuletzt ausgeübten versicherungspflichtigen Beschäftigung als Montagearbeiterin, die dem Leitberuf des ungelernten Arbeiters zuzuordnen sei, müsse sie sich auf sämtliche ungelernte Tätigkeiten verweisen lassen.

Mit ihrer dagegen am 26. April 2007 beim Sozialgericht Konstanz (SG) erhobenen Klage hat die Klägerin geltend gemacht, der Widerspruchsbescheid, der ihr am 26. März 2007 zugestellt worden sei, sei rechtswidrig. Nach dem Thalamusinfarkt habe man vergeblich eine Wiedereingliederung versucht. Seit Juli 2004 sei sie ohne Beschäftigung. Auch die Bundesagentur für Arbeit erachte sie für soweit gemindert, dass sie allenfalls noch Beschäftigungen in einem Umfang von weniger als 15 Stunden wöchentlich ausüben könne.

Zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes hat das SG den behandelnden Hausarzt als sachverständigen Zeugen gehört und die Klägerin anschließend nervenärztlich begutachten lassen.

Dr. M., bei dem sich die Klägerin seit 1993 in ärztlicher Behandlung befindet, hat ebenfalls die Auffassung vertreten, dass die Klägerin nur noch drei bis sechs Stunden täglich leichte bis mittelschwere Arbeiten verrichten könne. Es handele sich um einen psychisch labilen Menschen infolge Multimorbidität (Bluthochdruck, Diabetes mellitus, Zustand nach Hirninfarkt), der kein pathologischer Befund zuzuordnen sei. Nach dem Hirninfarkt bestünden keinerlei Paresen oder sonstige neurologische Ausfälle. Die Behandlung mit Antidepressiva habe keine Stabilisierung der Stimmungslage erbracht. Die Klägerin fühle sich überfordert, sei absolut nicht belastbar und habe selbst Mühe ihren Haushalt ordnungsgemäß zu verrichten. Eine psychotherapeutische Behandlung sei aufgrund der mangelhaften Deutschkenntnisse nicht möglich gewesen.

Der gerichtliche Sachverständige, der Neurologe und Psychiater Dr. L., hat eine Depression sowie Angststörung bei Hirndurchblutungsstörung nach Schlaganfall 2007 und einen Verdacht auf eine beginnende vasculär demenzielle Störung sowie eine beginnende diabetische Neuropathie beschrieben. Die Klägerin zeige die klassischen Symptome einer Depression mit Schwunglosigkeit, Mattigkeit, Freudlosigkeit und Antriebsschwäche. Außerdem würden Angst- und Panikattacken in Form von Angst vor einem erneuten Schlaganfall und Angst davor zu sterben bestehen, die zunehmend zum Rückzug und zur Einengung führten. Die Persönlichkeit, die intellektuelle Ausstattung und die eingeschränkte Verfügbarkeit verbaler Konfliktlösungsstrategien limitierten zusätzlich und leisteten der depressiven Einengung Vorschub. Das Leistungsvermögen sei insgesamt erheblich eingeschränkt. In den letzten Jahren sei eine erhebliche Verschlechterung eingetreten mit einer zunehmenden Depression und einer progredienten hirnorganischen Beeinträchtigung. Die Klägerin solle über einen Zeitraum von ein bis zwei Jahren vor dem Hintergrund einer weiteren Abklärung und diagnostischen Einordnung berentet werden. Eine optimierte psychiatrische und psychopharmakologische Maßnahme könne das Beschwerdebild ändern. Sie sei gegenwärtig nicht in der Lage, leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt durchzuführen. Der festgestellte Zustand habe sich in den letzten zwei Jahren progredient entwickelt.

Die Klägerin hat noch den vorläufigen Entlassungsbericht der Klinik O., Abteilung für Neurologie und klinische Neurophysiologie, vorgelegt. Danach sei die Klägerin aufgrund eines akuten Taubheitsgefühls der rechten Körperhälfte aufgenommen worden, das als passagere sensible Störung der rechten Körperhälfte eingeordnet werden müsse und sich vollständig in der Behandlung zurückgebildet habe. Eine frische Ischämie als Ursache der Beschwerden habe ausgeschlossen werden können. Der psychische Befund sei unauffällig gewesen, sie habe sich in einer ausgeglichenen Stimmungslage ohne manifeste neurophysiologische Defizite befunden. Man habe die Klägerin beschwerdefrei in die ambulante Weiterbehandlung entlassen.

In einer weiteren ergänzenden Stellungnahme hat Dr. L. seine Auffassung bekräftigt und ausgeführt, dass die Denkstörungen, die Denkhemmung, die Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, das Umstellungs- und Auffassungserschwernis sowohl einer Pseudodemenz oder demenziell organischen Ursachen zugeordnet werden könnten, die Klägerin aber in ihrer Leistungsfähigkeit aktuell erheblich beeinträchtigt wäre, zumal es zu einem erneuten Ereignis einer ischämischen Attacke gekommen sei.

Mit Urteil vom 18. Dezember 2008, der Beklagten zugestellt am 28. Januar 2009, hat das SG die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, der Klägerin eine Rente wegen voller Erwerbsminderung vom 01. Juli 2008 bis 31. Dezember 2009 zu gewähren und im Übrigen die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat das SG ausgeführt, die Klage sei zulässig, nachdem die Beklagte den Nachweis eines früheren Zugangs des Widerspruchsbescheides durch Zugangsnachweis nicht hätte erbringen können. Die Klage sei auch teilweise begründet, denn der Klägerin stehe eine Zeitrente wegen voller Erwerbsminderung zu. Der Leistungsfall sei am 19. Dezember 2007 (Tag der Begutachtung durch Dr. L.) eingetreten. Sie leide vor allem unter einer Depression und Angststörung, die einer Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auch stundenweise entgegenstünden. Die Beurteilung von Dr. L. stehe auch in Übereinstimmung mit der Einschätzung von Dr. M. sowie den Ärzten der Rehaklinik in B. S ... Der Einschätzung des Arztes, der den Versicherten gesehen und untersucht habe, komme insoweit eine maßgebliche Bedeutung zu. Der in der O. Klinik erhobene unauffällige psychische Befund spreche nicht gegen die festgestellte beeinträchtigte Leistungsfähigkeit, da die Psyche nicht im Fokus der Aufmerksamkeit gestanden habe. Da mit einer Verbesserung der Leistungsfähigkeit gerechnet werden könne, sei die Rente als Zeitrente bis Ende 2009 zu gewähren.

Mit ihrer dagegen am 13. Februar 2009 eingelegten Berufung hat die Beklagte geltend gemacht, der Sachverständige habe seine Leistungsbeurteilung maßgeblich auf die eigenen Angaben der Klägerin und die Fremdanamnese einer Freundin gestützt, ohne selbst objektivierbare Feststellungen zu treffen. Die Beurteilung ließe auch eine eindeutige Diagnosestellung nach den ICD-10 Kriterien vermissen. Die Diagnose "Depression" habe keinerlei Aussagewert und lasse offen, ob lediglich eine leichte depressive Verstimmung oder vielleicht sogar eine schwere depressive Symptomatik vorgelegen habe. Eine entsprechende Quantifizierung sei jedoch unbedingt erforderlich. Auch müssten die konkreten psychopathologischen Symptome, aufgrund derer der Sachverständige zu seiner Einschätzung kommt, benannt und beschrieben werden. Das Gutachten sei damit alles andere als überzeugend und nicht geeignet, eine quantitative Leistungseinschränkung nachzuweisen. Dr. M. habe die Klägerin für in der Lage erachtet, drei bis (also einschließlich) sechs Stunden täglich zu verrichten. Eine fachärztliche Behandlung erfolge nach wie vor nicht und werde auch vom Hausarzt nicht für erforderlich erachtet. Die Klägerin werde nur mit einem niedrigdosierten Antidepressivum behandelt, welches ebenfalls gegen das Vorliegen einer schwereren Erkrankung und Einschränkung des quantitativen Leistungsvermögens spreche. Dies werde auch durch die Befundberichte der O. Klinik belegt, die nur einen psychisch unauffälligen Befund der Klägerin geschildert hätten. Gerade bei einer mehrtägigen Beobachtung vor dem Hintergrund der Behandlung einer transitorisch-ischämischen Attacke werde auch ein Augenmerk auf entsprechende Auffälligkeiten gerichtet.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 18. Dezember 2008 aufzuheben und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie erachtet die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend, nachdem der Sachverständige sowohl eine Simulation als auch eine Aggravation von Beschwerden habe ausschließen können. Der Gutachter habe sie auch umfassend neurologisch untersucht und eine umfangreiche Zusatzdiagnostik in Form von Elektromyographie, Elektroneurographie, akustisch evozierter Potentiale, Elektroencephalographie, Sonographie der extrakraniellen hirnzuführenden Gefäße und transcranieller Dopplersonographie durchgeführt sowie Erhebungen nach der Zung-Depressionsskala, der von Zerssen-Skala sowie der Schmerz-Simulations-Skala vorgenommen.

Zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes hat der Senat die Klägerin erneut nervenärztlich begutachten lassen. Die Sachverständige Dr. R. hat ausgeführt, dass nunmehr das psychiatrische Krankheitsbild im Vordergrund stünde. Neurologisch sei lediglich ein beidseits nicht auslösbarer ASR feststellbar, der allenfalls für den Verdacht auf eine beginnende diabetische Polyneuropathie derzeit ohne Beschwerden und ohne Leistungseinschränkungen spreche. Ein weiterer krankhafter Befund auf neurologischem Gebiet sei nicht feststellbar. Elektroencephalographisch sei die Klägerin unauffällig gewesen. Serologisch sei die Einnahme des verordneten Antidepressivums nachweisbar. Die Klägerin leide an einer mittelgradig depressiven Episode mit somatischem Syndrom bei Interesseverlust und Verlust der Freude an normalerweise angenehmen Aktivitäten und mangelnder Fähigkeit, auf eine freundliche Umgebung oder freudige Ereignisse emotional zu reagieren. Weiterhin bestehe eine undifferenzierte Somatisierungsstörung ohne organisch-neurologisches Korrelat für die angegebenen Missempfindungen (Pelzigkeit des linken Armes und Fußes und der linken Gesichtsseite) sowie ein Zustand nach Thalamusinfarkt rechts 2/04. Während der dreistündigen Begutachtung sei sie voll konzentriert dabei gewesen. Auffassungsstörungen wie mnestische Störungen seien nicht feststellbar gewesen. In ihrer Lebenssituation sei ein sekundärer Krankheitsgewinn deutlich zu verzeichnen. Ihr Ehemann, der seit einem Jahr arbeitslos zuhause sei, habe die Haushaltstätigkeit übernommen, die er auch all die Jahre, in denen die Klägerin ihrer Berufstätigkeit nachgegangen sei und keine krankheitsbedingte Problematik gehabt habe, durchgeführt habe. Die zweite Tochter, die direkt in der Wohnung neben der Klägerin wohne, habe die weiteren Tätigkeiten im Haushalt übernommen, so dass sie entsprechend ihren Angaben ihre gesamte Haushaltstätigkeit aufgegeben habe und im Garten ihren Kaffee trinken könne. Dadurch sei ihre Tochter gebunden, die eigentlich im nächsten Jahr zu ihrem Ehemann in die Türkei übersiedeln wolle. Mit diesem Umzug würde aber auch der Kontakt zum vierjährigen Enkel unterbrochen, wobei der sekundäre Krankheitsgewinn darin liege, diese Trennung zu verhindern. Ihre eigentliche Rolle, die sie in der Familie einnehme, nämlich das "heimliche Matriarchat" in der traditionellen Wertorientierung der Familien in der türkischen Gesellschaft, welches eine wichtige Funktion beinhalte und besonders bei innerfamiliären Angelegenheiten über verdeckte Macht verfüge, fülle sie problemlos aus. Ihr vorgebrachtes Leiden sei damit eine Art Steuerungsinstrument im Hinblick auf das Einhalten ihrer vorgegebenen Rolle in der türkischen Kultur bei der "Unberechenbarkeit" im Verhalten ihrer Töchter im "freizügigen Migrationsland Deutschland". Eine seelische Störung sei all die Jahre auf die stark belastenden Lebensereignisse, die im Rahmen von Krankheiten oder Schicksalsschlägen in der Familie entstanden seien, nicht aufgetreten, sondern erst im Rahmen der vorübergehenden körperlichen "Schwäche" in Form des Thalamusinfarktes verbunden mit dem Regelverstoß der ältesten Tochter in Form ihrer Scheidung. Dies spreche für die erhebliche Bedeutung, welches ihr Verhalten als Steuerung inne habe und somit nicht krankheitsbedingt sei. Weitere Kontakte mit der Primärfamilie ihrer Freundin pflege sie nach wie vor. Sie sei daher noch in der Lage, leichte und mittelschwere Tätigkeiten ohne Akkordarbeit, ohne Nachtschicht und ohne besondere Verantwortung sowie Heben und Tragen von Lasten über fünf Kilogramm ohne Hilfsmittel sechs Stunden und mehr an fünf Tagen in der Woche auszuüben. Eine nachhaltige Besserung sei bei einer adäquaten psychiatrischen Behandlung zu erwarten.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie die von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsakten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die nach den §§ 143, 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden hat (§ 124 Abs. 2 SGG), ist statthaft im Sinne des § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG, da die Klägerin laufende Leistungen für mehr als ein Jahr begehrt.

Die damit insgesamt zulässige Berufung der Beklagten ist auch begründet. Das SG hat der zulässigen Klage zu Unrecht teilweise stattgegeben, denn die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten. Sie hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

Der geltend gemachte Anspruch richtet sich für die Zeit bis 31. Dezember 2007 nach § 43 SGB VI in der ab 1. Januar 2001 geltenden Fassung und für die anschließende Zeit nach § 43 SGB VI in der ab 1. Januar 2008 geltenden Fassung des Art. 1 Nr. 12 RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 20. April 2007 (BGBl I S. 554). Dies folgt aus § 300 Abs. 1 SGB VI. Danach sind die Vorschriften des SGB VI von dem Zeitpunkt ihres Inkrafttretens an auf einen Sachverhalt oder Anspruch auch dann anzuwenden, wenn bereits vor diesem Zeitpunkt der Sachverhalt oder Anspruch bestanden hat. Die (aufgehobenen) Bestimmungen der §§ 43, 44 SGB VI in der bis zum 31. Dezember 2000 geltenden Fassung finden keine Anwendung, da im vorliegenden Fall ein Rentenbeginn vor dem 1. Januar 2001 nicht in Betracht kommt (§ 302b Abs. 1 SGB VI).

Nach § 43 Abs. 2 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie voll erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Erwerbsgemindert ist nach § 43 Abs. 3 SGB VI nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

Nach § 240 Abs. 1 SGB VI in der ab 1. Januar 2008 geltenden Fassung des Art. 1 Nr. 61 RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 20. April 2007 (BGBl I S. 554) haben darüber hinaus Versicherte, die vor dem 2. Januar 1961 geboren und berufsunfähig sind, bis zum Erreichen der Regelaltersrente Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie die sonstigen Voraussetzungen erfüllen. Berufsunfähig sind Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung im Vergleich zur Erwerbsfähigkeit von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten auf weniger als sechs Stunden gesunken ist (§ 240 Abs. 2 Satz 1 SGB VI). Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufes und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Berufsunfähig ist nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit mindestens sechs Stunden täglich ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 240 Abs. 2 Sätze 2 und 4 SGB VI).

Nach dem Ergebnis der vom Senat durchgeführten Beweiserhebung sowie unter Berücksichtigung der vom SG und der Beklagten vorgenommenen Ermittlungen steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die Klägerin unter Beachtung bestimmter qualitativer Einschränkungen noch in der Lage ist, mindestens leichte körperliche Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt täglich mehr als sechs Stunden zu verrichten.

Der Senat stützt sich insoweit auf das eingeholten Gutachten von Dr. R., welches sich in Übereinstimmung mit dem im Wege des Urkundsbeweises verwertbaren Gutachten von Dr. H. befindet. Der abweichenden Leistungseinschätzung des erstinstanzlich gehörten Sachverständigen Dr. L. hat sich der Senat indessen ebenso wenig wie der Beurteilung des behandelnden Hausarztes Dr. M. anschließen können.

Danach leidet die Klägerin nicht mehr an dem im Februar 2004 aufgetretenen Thalamusinfarkt. Dessen Folgen sind, wie dies auch die Sachverständige Dr. R. aufgrund der neurologischen Untersuchungen festgestellt hat, weitgehend folgenlos ausgeheilt. Die Ende 2007 im Klinikum O. behandelte passagere sensible Störung hat sich ebenfalls vollständig zurückgebildet, eine frische Ischämie konnte ausgeschlossen werden. Der beidseits nicht auslösbare ASR ist allenfalls auf eine beginnende diabetische Polyneuropathie, mithin auf ein anderes Krankheitsgeschehen zurückzuführen. Auch dieser neurologische Befund begründet für sich indessen keine quantitative Leistungsminderung, da derzeit insoweit keine Beschwerden oder Leistungseinschränkungen bestehen.

Im Vordergrund der leistungslimitierenden Diagnosen steht somit der nervenärztliche Befund einer mittelgradig depressiven Episode mit somatischem Syndrom. Die Hirndurchblutungsstörung konnte hingegen bei der ausführlichen Befunderhebung durch Dr. R. ebenso wenig wie die Angststörung, die Dr. L. diagnostiziert hat, bestätigt werden. Für die Richtigkeit dieser Diagnostik spricht auch zur Überzeugung des Senats, dass die Klägerin während der immerhin dreistündigen Begutachtung ein volles Konzentrationsvermögen zeigte und Auffassungsstörungen wie mnestische Störungen nicht feststellbar waren, die aber bei Hirndurchblutungsstörungen zu erwarten gewesen wären. Dies belegt, dass eine quantitative Leistungsminderung durch die lediglich vermutete vaskulär demenzielle Störung nicht eingetreten sein kann. Soweit bei der Klägerin eine Depression durch den Sachverständigen Dr. L. festgestellt wurde, so hat diese erst die Sachverständige Dr. R. diagnostisch eingeordnet und als mittelgradig depressive Episode gewertet. Diese führt zwar dazu, dass die Klägerin sich von sämtlichen Haushaltstätigkeiten zurückgezogen hat. Die Sachverständige hat aber eindrücklich und auch für den Senat überzeugend dargelegt, dass dies gerade nicht belegt, dass die Klägerin quantitativ beeinträchtigt ist. Der Rückzug ist vielmehr Ausdruck des sekundären Krankheitsgewinnes, nämlich die Kontrolle über die Familie zu erhalten, den Wegzug des Enkelsohnes zu verhindern und sich von allen unangenehmen Tätigkeiten wie Haushaltsführung zurückzuziehen und dem Angenehmen, nämlich dem Kaffeetrinken im Garten, nachzugehen. Der Umstand, dass die Klägerin in der Lage ist, eine solche Kontrolle über ihre Kleinfamilie auszuüben, belegt, dass keinerlei Kontrollverlust aufgrund der nervenärztlichen Erkrankung eingetreten ist. Dies spricht gegen den Schweregrad der Erkrankung und somit auch dagegen, dass das Leistungsvermögen der Klägerin zeitlich limitiert ist. Das wird weiter belegt durch den Umstand, dass sie eine entsprechende fachärztliche Behandlung nicht in Anspruch nimmt und die Depression lediglich niedrig dosiert medikamentös behandelt wird. Insofern ist der Leidensdruck der Klägerin nicht so weit entwickelt, dass überhaupt - auch seitens des behandelnden Hausarztes - eine Behandlungsnotwendigkeit gesehen wird. Die Einschätzung, sie könne keine Arbeiten mehr von wirtschaftlichem Wert erbringen, ist daher nicht nachvollziehbar.

Das Gutachten des Sachverständigen Dr. L. ist bereits deswegen für den Senat nicht schlüssig, weil es, wie die Beklagte zu Recht vorgetragen hat, an einer eindeutigen Diagnosestellung nach den ICD-10 Kriterien fehlt und die Diagnose "Depression" ohne deren Einordnung keinerlei Aussagewert hat.

Die Stoffwechselerkrankung, die hypertensitive Herzerkrankung und der Diabetes sind gut behandelbar und bedingen für sich ebenfalls keine Limitierung des Leistungsvermögens. Den bekannten degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule ohne Nachweis eines Bandscheibenvorfalls kann durch den Ausschluss des Hebens und Tragens schwerer Lasten Rechnung getragen werden.

Der Senat erachtet die Klägerin daher insgesamt für in der Lage, noch leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes sechs Stunden und mehr zu verrichten. Vermieden werden müssen lediglich Akkordarbeit, Nachtschicht, besondere Verantwortung sowie das Heben und Tragen von Lasten über 5 kg ohne Hilfsmittel. Mithin ist die Klägerin lediglich qualitativ und damit nicht in einem rentenberechtigenden Ausmaß leistungsgemindert.

Im Hinblick auf die qualitativen Leistungseinschränkungen braucht der Klägerin keine konkrete Berufstätigkeit genannt zu werden, weil sie ihrer Anzahl, Art und Schwere nach keine besondere Begründung zur Verneinung einer "Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen" oder einer "schweren spezifischen Leistungsminderung" erfordern (vgl. hierzu BSG SozR 2200 § 1246 Nr. 136). Sie erscheinen nämlich nicht geeignet, das Feld körperlich leichter Arbeiten zusätzlich wesentlich einzuengen. Das Restleistungsvermögen der Klägerin erlaubt ihr weiterhin noch körperliche Verrichtungen, die in leichten einfachen Tätigkeiten gefordert zu werden pflegen, wie z. B. Zureichen, Abnehmen, Bedienen von Maschinen, Montieren, Kleben, Sortieren, Verpacken oder Zusammensetzen von kleinen Teilen.

Die Klägerin ist auch nicht teilweise erwerbsgemindert bei Berufsunfähigkeit. Eine Berufsausbildung hat sie nicht absolviert und während ihres Versicherungslebens allenfalls angelernte Tätigkeiten verrichtet. Sie ist deswegen auch zur Überzeugung des Senats auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar, auf dem noch ein vollschichtiges Leistungsvermögen besteht.

Auf die Berufung der Beklagten ist deshalb das angefochtene Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen, wobei die Kostenentscheidung auf § 193 SGG beruht.
Rechtskraft
Aus
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