S 2 KA 47/08

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
2
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 2 KA 47/08
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Streitig sind Regresse wegen der Verordnung des Arzneimittels Concerta zur Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Erwachsenenalter.

Der Kläger ist als Facharzt für Neurologie und Psychiatrie in N niedergelassen und zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen. In den Quartalen 1/2006 bis 3/2006 verordnete er für den bei der Beigeladenen zu 1) Versicherten D C, geb. 00.00.1987, Concerta 54 mg Retard-Tabletten No. 30 N2 (Wirkstoff: Methylphenidat).

Auf Prüfanträge der Beigeladenen zu 1) verfügte der Prüfungsausschuss der Ärzte und Krankenkassen Nordrhein mit Bescheiden vom 08.05.2007 (1/2006), 19.07.2007 (2/2006) und 10.12.2007 (3/2006) Regresse in Höhe von 211,- EUR (1/2006), 105,50 EUR (2/2006) und 317,02 EUR (3/2006), da die Voraussetzungen einer Verordnungsfähigkeit im Off-Label-Use nicht erfüllt seien.

Diesen Bescheiden widersprach der Kläger. Bei dem Patienten bestehe seit der Kindheit ein schweres, Methylphenidat-behandlungspflichtiges hyperkinetisches Syndrom, das unter der genannten Pharmakotherapie deutlich gebessert sei, so dass der Patient eine reguläre Schulbildung und eine Lehre zum Bankkaufmann habe absolvieren können. Die Symptomatik bestehe fort und sei nur durch Concerta weiter kompensierbar. Zugelassene alternative gleich- bzw. spezifisch wirksame medikamentöse Behandlungsmethoden existierten nicht. Wegen des ohne Methylphenidat hohen Maßes an kognitiver und handlungsmäßiger Desorganisation reiche eine Psychotherapie in keiner Weise aus, sei sogar nicht durchführbar.

Mit Bescheiden vom 06.03.2008 (1/2006), 18.03.2008 (2/2006) und 17.04.2008 (3/2006) wies der Beklagte die Widersprüche zurück: Fertigarzneimittel dürften grundsätzlich nur zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung in einem Anwendungsgebiet verordnet werden, auf das sich die Zulassung erstrecke. Concerta sei nur zur Behandlung von Kindern (über 6 Jahre) und Jugendlichen mit ADHS als Teil eines umfassenden Behandlungsprogramms zugelassen. Bei der vorliegenden Indikation sei auch eine Verordnung im Off-Label-Use nicht möglich gewesen. Für die Behandlung dieses Krankheitsbildes stünden auch noch andere Therapiemöglichkeiten zur Verfügung.

Hiergegen richten sich die am 25.03.2008 zum Aktenzeichen S 2 KA 47/08 (1/2006), 02.04.2008 zum Aktenzeichen S 2 KA 51/08 (2/2006) und 24.04.2008 zum Aktenzeichen S 2 KA 67/08 (3/2006) erhobenen Klagen, die das Gericht zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden hat.

Der Kläger ist der Ansicht, alle Voraussetzungen, die das Bundessozialgericht (BSG) an die Zulässigkeit des Off-Label-Use gestellt habe, seien im Behandlungsfall des Versicherten D C erfüllt gewesen. Was die Schwere der Erkrankung angehe, seien u.a. sozialmedizinische Gutachten mit ausführlichen Darstellungen von Anamnese pp. vorhanden. Es gebe auch hinreichend positive Studien zur Nutzung von Methylphenidat. Ansonsten hätte die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) keine Leitlinien erstellt, die den Einsatz von Methylphenidat befürworteten (Der Nervenarzt 10, 2003, 939-946). Krause et al (psychoneuro 2005; 31 (11); 569-575) hätten die Wirksamkeit sogar biochemisch nachgewiesen. Schließlich sei Methylphenidat bei der ADHS-Behandlung von Erwachsenen in den USA und Canada zugelassen.

Der Kläger beantragt,

die Bescheide des Beklagten vom 06.03.2008 (Sitzung vom 10.10.2007 (1/2006)), 18.03.2008 (Sitzung vom 31.10.2007 (2/2006)) und 17.04.2008 (Sitzung vom 11.03.2008 (3/2006)) aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut über die Widersprüche des Klägers zu entscheiden.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er hält die angefochtenen Bescheide für rechtmäßig.

Die Voraussetzungen für eine berechtigte Off-Label-Verordnung lägen insgesamt nicht vor. Sozialmedizinische Gutachten mit ausführlichen Darstellungen von Anamnesen wären dem Beklagten vorzulegen gewesen, wenn sie den konkreten Patienten betroffen und zur Erhellung des Krankheitsgrades hätten beitragen können. Dem Kläger sei es unbenommen gewesen, Privatrezepte auszustellen oder mit der Krankenkasse vorab die Weiterbehandlung abzusprechen.

Die Beigeladenen stellen keine Prozessanträge.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte, namentlich die von dem Kläger vorgelegten wissenschaftlichen Abhandlungen, Leitlinien pp., sowie den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Kammer konnte ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, da alle Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erteilt hatten (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG)).

Die zulässige Klage ist unbegründet.

Der Kläger ist durch die Bescheide des Beklagten nicht beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 SGG, da die verfügten Regresse rechtmäßig sind.

Die Gremien der Wirtschaftlichkeitsprüfung und damit auch der Beklagte sind befugt, Regresse wegen unzulässiger Verordnung von Arzneimitteln festzusetzen. Dies ergibt sich aus § 15 Abs. 1 Nr. 3 der Gemeinsamen Prüfvereinbarung. Die Ermächtigungsgrundlage hierfür findet sich in § 106 Abs. 2 Satz 4 Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V), nach dem die Landesverbände der Krankenkassen und die Verbände der Ersatzkassen gemeinsam und einheitlich mit den Kassenärztlichen Vereinigungen über die in § 106 Abs. 2 Satz 1 SGB V vorgesehenen Prüfungen hinaus andere arztbezogene Prüfungsarten vorsehen können. Demgemäß ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass den Prüfgremien die Zuständigkeit für Regresse wegen unzulässiger Arzneimittelverordnung durch gesamtvertragliche Vereinbarung übertragen werden darf (BSG SozR 3-2500 § 106 Nr. 52; LSG NRW, Urteile vom 10.12.2003 - L 10 KA 79/02 - und vom 14.11.2007 - L 11 KA 112/06 -).

Die von dem Beklagten ausgesprochenen Regresse sind auch materiell-rechtlich begründet. Unstreitig hat der Kläger das Arzneimittel Concerta, das arzneimittelrechtlich für die Behandlung der ADHS bei Kindern ab sechs Jahren und Jugendlichen zugelassen sind, außerhalb des Zulassungsrahmens verordnet. Die Zulassung von Methylphenidat in den USA und Canada zur ADHS-Therapie von Erwachsenen begründet die Kostentragungspflicht der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung grundsätzlich nicht (vgl. BSG, Urteil vom 04.04.2006 - B 1 KR 7/05 R - m.w.N.). Die Voraussetzungen für einen zulässigen Off-Label-Use liegen nicht vor.

Nach der Rechtsprechung des BSG (grundlegend: Urteil vom 19.03.2002 - B 1 KR 37/00 R -; vgl. zuletzt Urteil vom 05.05.2009 - B 1 KR 15/08 R -) kommt die Verordnung eines Medikaments in einem von der Zulassung nicht umfassten Anwendungsgebiet nur in Betracht, wenn - kumulativ - es (1) um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn (2) keine andere

Therapie verfügbar ist und wenn (3) aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann.

Es ist bereits fraglich, ob bei dem Versicherten D C eine schwerwiegende Erkrankung in diesem Sinne vorlag. Dabei ist nicht die strengere Voraussetzung erforderlich, dass es sich um eine Krankheit handeln muss, die mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung in der Bewertung vergleichbar ist, wie es für die Verordnung von Arzneimitteln zu fordern ist, denen die arzneimittelrechtliche Zulassung gänzlich fehlt (BSG, Beschluss vom 14.05.2007 - B 1 KR 16/07 B - m.w.N.). Nach den Diagnosekriterien von DSM-IV (American Psychiatric Association 1994) und ICD-10 (WHO 1992) beginnt ADHS definitionsgemäß im frühen Kindesalter. Beim Übergang in das Erwachsenenalter bleiben die Symptome unter einem Symptomwandel in jeweils altersspezifischer Ausprägung bestehen. Die Störung kann leicht ausgeprägt sein und erscheint dann evtl. nur als Variante "normaler" Persönlichkeitsmerkmale, sie kann aber auch den Schweregrad einer Krankheit mit erheblicher Beeinträchtigung der Lebensführung erreichen. Erwachsene mit ADHS zeichnen sich einerseits durch Kreativität, Lebendigkeit und Spontaneität aus. Andererseits gelten sie als unberechenbar und unzuverlässig und leiden oft selbst erheblich unter ihrer Ablenkbarkeit, der inneren Unruhe und Impulsivität, den ausgeprägten Stimmungsschwankungen und den entsprechenden Auswirkungen auf ihr Selbstbild und ihre sozialen Beziehungen. Das Ausmaß der Beeinträchtigung ist erheblich durch den Schweregrad, die Komorbidität und die jeweiligen sozialen Bedingungen geprägt. Häufige klinische Symptome bei ADHS im Erwachsenenalter sind

- Motorische Unruhe wird weniger, innere Unruhe bleibt - Vergesslichkeit - Desorganisiertes Verhalten - Impulsivität - Stimmungsschwankungen - Bleibt hinter den Möglichkeiten zurück - Probleme mit Routine und Disziplin - Arbeitslosigkeit/häufige Arbeitsplatzwechsel - Beziehungsabbrüche - Komorbiditäten, z.B. Sucht, Depression, Angst, Persönlichkeitsstörungen, Essstörungen (nach A. Philipsen/B. Hesslinger, Freiburg i. Br., "ADHS, Erwachsene ‚zappeln’ anders", Info Neurologie & Psychiatrie, Ausgabe 06/2006, 38 ff. (www.info-neurologie-psychiatrie.de/2006/06/38.php)).

Der Kläger hat zwar im Verwaltungsverfahren das Krankheitsbild des Patienten D C beschrieben und mit wissenschaftlich-medizinischen Erkenntnissen genereller Art untermauert. Damit hat er aber den Weg verlassen, der für einen - wie hier - medizinisch umstrittenen Off-Label-Use vorgezeichnet ist. Er hätte vielmehr im Wege einer Vorab-Prüfung der zu 1) beigeladenen Krankenkasse die Prüfung ermöglichen müssen, ob tatsächlich medizinisch belegbar eine nachhaltige Beeinträchtigung der Lebensqualität auf Dauer bei den Versicherten bestanden hatte. In diesem Zusammenhang wären die von ihm im Klageverfahren angesprochenen sozialmedizinischen Gutachten, konkret auf diesen Patienten bezogen, vorzulegen gewesen. Dabei hätte die Beigeladene zu 1) ggf. detaillierte Angaben zu folgenden Punkten angefordert: Anamnestische Angaben zu Beginn und Dauer der Erkrankung; aktueller psychopathologischer Befund, aus dem sich die Schwere der Erkrankung im Einzelfall ableiten lässt; Angaben zur Dauer der Symptomatik und Ausprägungsgrad in den letzten zwei bis drei Jahren; konkrete einzelfall-bezogene Angaben zu den Auswirkungen der Erkrankung auf Befinden, Partnerbeziehung, Beruf und soziales Umfeld als Gradmesser der Auswirkung der Störung und zur Abschätzung der Beeinträchtigung der Lebensqualität; Prognose hinsichtlich des weiteren Krankheitsverlaufes und seiner körperlichen und/oder psychosozialen Auswirkungen; Darlegung der bisherigen medikamentösen Therapien nach Dosis, Applikationsdauer, therapeutischen und unerwünschten Wirkungen; Darlegung der bisherigen Psychotherapien nach Art, Dauer, therapeutischen und unerwünschten Wirkungen; Mitteilung, ob die medikamentöse Behandlung mit der beantragten Wirksubstanz in ein multimodales Konzept eingebunden werden soll und worin dieses ggf. besteht (vgl. J. Fritze & M. Schmauß, a.a.O.).

Auch die Anwendungsgebiete des Arzneimittels Concerta nach der Roten Liste zeigen in der gebotenen Kürze die zu berücksichtigenden Parameter auf:

Anw.: Kdr. ()6 J.) u. Jugendl. m. Aufmerksamk.-defizit-/Hyperaktivitätsstör. (ADHS) als Teil e. umfass. Behandl.-progr., wenn and. Maßn. allein nicht ausreichen. E. Behandl. ist nicht b. allen Kdrn. m. dieses Stör. notwendig. Deshalb ist e. Behandl. m. CONCERTA nicht b. allen Kdrn. m. ADHS angezeigt, u. d. Entscheid. ü. d. Anw. des AM muss auf e. sehr sorgfält. Beurteil. d. Schw. u. Chronizität d. Symptomatik im Verhältnis zum Alter des Kd. basieren. Anw. auf Pat. begrenzen, d. e. AM benötigen, d. b. morgendl. Einn. ü. den Tag bis zum Abend wirkt. E. umfassendes Behandl.-programm f. d. Behandl. v. Pat. m. ADHS sollte and. Maßn. (psychotherapeut., pädagog., soziale) einschließen.

Indem der Kläger diese Vorab-Prüfung durch die Beigeladene zu 1) verhindert und damit das Risiko übernommen hat, dass später die Leistungspflicht der Krankenkasse verneint wird, kann ein entsprechender Regress nicht beanstandet werden (BSG, Beschluss vom 31.05.2006 - B 6 KA 53/05 B -).

Die Leistungspflicht der Beigeladenen zu 1) scheidet unbeschadet der Frage nach dem nicht zu ihrer fachlich-medizinischen Überprüfung gestellten Schweregrad der Erkrankung des Versicherten insbesondere auch deshalb aus, weil es bis heute keine gesicherte Datenlage für eine hinreichend begründete Aussicht auf einen Behandlungserfolg mit Methylphenidat zur Therapie der adulten ADHS gibt.

Von gesicherten Erfolgsaussichten kann dann ausgegangen werden, wenn Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Dies kann angenommen werden, wenn entweder (a) die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt worden ist und Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht worden sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder (b) außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht worden sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht (BSG, Urteile vom 19.03.2002 - B 1 KR 37/00 R -; vom 26.09.2006 - B 1 KR 1/06 R -).

Eine Zulassung für Concerta ist - soweit ersichtlich - bisher nicht beantragt worden. Außerhalb des Zulassungsverfahrens sind bisher keine Erkenntnisse veröffentlicht worden, die über Qualität und Wirksamkeit von Concerta im Anwendungsgebiet der Therapie der adulten ADHS zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen; insbesondere kann nach bisheriger Datenlage nicht davon ausgegangen werden, dass in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen besteht. Die Abhandlung von J. Fritze & M. Schmauß ("Off-Label-Use: Der Fall Methylphenidat"), psycho 28

(2002) Nr. III/12 Sonderausgabe, kann insoweit nicht als Beleg herangezogen werden, auch wenn die Verfasser die Vergabe von Methylphenidat enthaltenden Medikamenten an Erwachsene empfehlen. Darin verweisen die Autoren nämlich darauf, dass nur wenige Studien zur Anwendung des Wirkstoffes Methylphenidat bei Erwachsenen vorliegen und diese an methodischen Mängeln leiden (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 13.12.2005 - L 11 KR 3018/05 -).

Daran hat sich in der Folgezeit nichts entscheidend geändert. Im vorgenannten Urteil zitiert das LSG Baden-Württemberg zwei im dortigen Verfahren eingeholte Auskünfte des BfArM: Im Juli 2003 habe das BfArM deutlich gemacht, dass zwar eine Reihe von veröffentlichten klinischen Berichten über den Einsatz von Methylphenidat bei ADHS im Erwachsenenalter existiere, seitens eines pharmazeutischen Unternehmers aber im Rahmen eines nach § 31 Abs. 3 AMG durchgeführten Verfahrens zur Verlängerung der Zulassung eines Methylphenidat-haltigen Innovatorpräparates keine ausreichenden klinischen Unterlagen und Studien zur therapeutischen Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des Wirkstoffes hätten vorgelegt werden können. Eine Veränderung des Sachstandes sei ausweislich der Auskunft des BfArM vom Oktober 2005 seither nicht eingetreten. Inzwischen dürfte nach der Mitteilung von Krause et al, "Medikamentöse Therapie der ADHS im Erwachsenenalter", psychoneuro 2005, 31 (11), S. 571 unten rechts, der Validierung der Datenlage weiterer Fortgang gegeben worden sein, denn von der deutschen Zulassungsbehörde (BfArM) sei eine Studie zum Einsatz von Methylphenidat bei ADHS im Erwachsenenalter genehmigt worden. Diese Studie werde derzeit in verschiedenen Zentren der Bundesrepublik Deutschland durchgeführt.

Damit existieren auch für den vorliegend streitbefangenen Zeitraum der Quartale 1/2006 bis 3/2006 jedenfalls keine gesicherten konsentierten medizinischen Erkenntnisse über einen voraussichtlichen Behandlungserfolg der ADHS bei Erwachsenen mit Methylphenidat-haltigen Arzneimitteln. Selbst wenn dies gegen- wärtig (anno 2009) inzwischen der Fall sein sollte, würde dies Rechtsfolgen aber nur für die Zukunft eröffnen, nicht jedoch für die Vergangenheit (dazu näher LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 31.01.2007 - L 5 KR 45/06 -; vgl. auch Bayer. LSG, Urteil vom 13.06.2006 - L 5 KR 93/06 -, das die Voraussetzungen für einen zulassungsübergreifenden Einsatz von Methylphenidat ab 27.12.2005 annimmt).

Bei aktueller Durchsicht veröffentlichter Publikationen erweist sich aber auch für die Gegenwart, dass nach wie vor nicht von einer gesicherten Datenlage über den Behandlungserfolg von Methylphenidat bei Erwachsenen ausgegangen werden kann.

Soweit es die vom Unternehmen N2 unterstützte EMMA-Studie (klinische Studie Phase III zu Medikinet retard - Wirkstoff ebenfalls: Methylphenidat) betrifft, waren deren Ergebnisse zunächst auf einem Kongress der DGPPN am 24.11.2006 in Berlin vorgestellt worden (Ärzte-Zeitung vom 13.12.2006). Zum Stand der anschließend im März 2007 beantragten Zulassungserweiterung von Medikinet retard zur Behandlung der ADHS im Erwachsenenalter räumte die Fa. N2 in einem Schreiben vom 21.11.2007 selbst ein, Fazit eines persönlichen Gespräches zwischen N2 und der Zulassungsbehörde am 08.11.2007 sei gewesen, dass auf Grundlage der Studienergebnisse noch einige zusätzliche Daten zu erheben seien. Dabei gehe es um Fragen der Dosierung und geschlechtsspezifischer Unterschiede beim Ansprechen auf Methylphenidat. Nun werde das Unternehmen eine Replikations-Studie durchführen, um zwei vom BfArM generierte Hypothesen zu überprüfen. Momentan erarbeite das Unternehmen auf der Basis des geführten Gesprächs einen Vorschlag, wie diese Studie aussehen könnte. Der Zeitpunkt für eine Zulassungserweiterung sei damit nach wie vor nicht kalkulierbar.

Inzwischen ist die EMMA-Studie unter Leitung von Univ.-S am 22. Januar 2009 im Fachjournal Eur Arch Psychiatry Clin Neuroscience publiziert worden. Hierzu teilt der Hersteller auf seiner Website (http://www.medice.de/unternehmen/aktuelles/neues-zu-adhs-im-erwachsenenalter) mit:

"Die EMMA-Studie

- ist die bislang größte Studie zu ADHD im Erwachsenenalter (mit 359 Studien- teilnehmern) - ist die bislang längste kontrollierte Studie zu ADHD im Erwachsenenalter (mit 6 Monaten doppelblinder Verlauf) - konnte einen signifikanten Unterschied zu Gunsten von modifiziert freisetzenden Methylphenidat im Vergleich zu Placebo zeigen.

Die angestrebte Zulassung zum Einsatz von Methylphenidat im Erwachsenenalter konnte jedoch mit EMMA noch nicht erzielt werden, weil eine Subgruppen-Analyse offen ließ, ob ein Unterschied im Ansprechen auf Methylphenidat aufgrund der Dosis oder aufgrund des Geschlechts zu erklären sei.

N2 arbeitet weiter, die angestrebte Zulassung für Methylphenidat zum Einsatz im Erwachsenenalter zu erlangen und die derzeit immer noch unbefriedigende Situation des off-label use von Methylphenidat bei der Behandlung Erwachsener zu verbessern."

Der Hersteller von Medikinet retard selbst geht somit davon aus, dass eine Zulassungsreife derzeit nicht besteht. Auch hinsichtlich der gegenwärtig laufenden Studien des Herstellers von Concerta (K-D), einem ebenfalls retardierten Methylphenidat, kann nicht von einer gesicherten Datenlage im Sinne der Rechtsprechung ausgegangen werden, weil die Studien zur Wirksamkeit noch nicht abgeschlossen bzw. deren Ergebnisse noch nicht veröffentlicht sind

(LSG Hamburg, Beschlüsse vom 14.08.2008 - L 1 B 258/08 ER KR -; vom 21.12.2007 - L 1 B 415/07 -; vom 07.08.2008 - L 1 B 394/07 PKH KR -).

In einer im Internet zugänglichen Dissertation von Miriam Alexandra Maier, Tübingen, aus dem Jahre 2007 zum Thema: "Die Behandlung der adulten ADHS mit Methylphenidat versus Atomoxetin: systematische Review" (http://tobias-lib.ub.uni-tuebingen.de/volltexte/2007/3053/pdf/Doktorarbeit ENDVERSION 27032007.pdf) hat die Verfasserin anhand vorliegender Evidenz hoher Qualität die Effektivität beider Medikamente zur Behandlung der adulten ADHS im Vergleich untersucht. Hierbei konnten zehn Studien zu Methylphenidat und drei zu Atomoxetin in den Suchmaschinen medline, Pubmed, Web of Science und PsycINFO identifiziert werden. Die Studien zu Methylphenidat waren großteils im Crossover-Design angelegt und wiesen Mängel wie kurze Dauer, kleine Stichproben, fehlende Intention-To-Treat-Analyse, uneinheitliche Ausschlusskriterien und ebensolche Messung der Response auf. Die Ergebnisse der Studien waren weit gestreut und teilweise konträr; Responseraten von 25-78 % sowie nicht signifikante Ergebnisse waren vertreten. Die Widersprüchlichkeit der Ergebnisse der Methylphenidatstudien hätten auch andere Reviewer vor Probleme gestellt. Abschließend ließen sich für beide Medikamente Hinweise auf die Effektivität bei der Behandlung der adulten ADHS finden, wobei die Effektivität von Atomoxetin besser untersucht sei, wenn man die methodischen Mängel der Studien zu Methylphenidat in Rechnung stelle. Bevor eine Ablösung des Methylphenidates als Standardmedikation in Erwägung gezogen werden könne, sei eine Verbesserung der Methodik, vor allem auch eine Vereinheitlichung der Evaluation der Response, nötig mit dem Ziel, große, methodisch-qualitativ hochwertige Vergleichsstudien durchzuführen. Diese seien unabdingbar, eine definitive Aussage treffen zu können (vgl. die Zusammenfassung auf S. 55-58 der Arbeit).

Damit steht nach alledem zur Überzeugung der Kammer fest, dass bis in die jüngste Gegenwart keine Erkenntnisse veröffentlicht worden sind, die über Qualität und Wirksamkeit von Concerta im Anwendungsgebiet der Therapie der adulten ADHS zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und von den einschlägigen Fachkreisen in Bezug auf einen voraussichtlichen Nutzen konsentiert sind.

Die ausgesprochenen Regresse sind daher nicht zu beanstanden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs. 1 SGG in Verbindung mit §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache hat die Kammer die Berufung zugelassen (§ 144 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved