L 4 KR 703/09

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 12 KR 4659/08
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 KR 703/09
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 15. Januar 2009 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten auch des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Bewilligung einer akutstationären Behandlung nach traditioneller chinesischer Medizin (TCM) in der Klinik am S. in G ...

Der am 1920 geborene Kläger leidet seit Mitte der 1990-Jahre an einer therapieresistenten Polyneuropathie (PNP) der Beine mit Gangstörung und Gangunsicherheit sowie Fallneigung und Sturzgefährdung. Er beantragte am 22. April 2008 bei der Beklagten, deren Mitglied er in der Krankenversicherung der Rentner ist, die Bewilligung der Therapie in der Klinik am S ... Er fügte eine Abhandlung aus dem Jahr 2002 des dortigen ärztlichen Leiters Dr. Sc. über das typische Krankheitsbild der PNP, die dortigen Behandlungsmöglichkeiten aus chinesischer Sicht und den möglichen Therapieerfolg bei. Ferner legte er vor einen Arztbrief des Neurologen und Psychiaters Dr. Si. vom 11. Januar 2007 (Hypersensibilität an beiden Beinen völlig aufgehoben) und das ärztliche Attest des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. K. vom 08. April 2008 (nur noch mit Assistenz und Gehhilfen kleinste Strecken zu absolvieren, außerhalb des Hauses bis max. 20 bis 30 Meter; die Krankheit sei eher allmählich progredient ohne reale schulmedizinische Behandlungsmöglichkeit). Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) Baden-Württemberg in Stuttgart (Dr. M.-J.) erstattete das sozialmedizinische Gutachten nach Aktenlage vom 30. April 2008. Der Gutachter legte dar, eine differentialdiagnostische Abklärung, die aus den Unterlagen nicht ersichtlich sei, und auch Therapie sei, falls die ambulanten Möglichkeiten nicht ausreichen sollten, in einer zugelassenen neurologischen Fachklinik zweifelsfrei möglich; die Notwendigkeit, in den außervertraglichen Bereich zur Diagnostik und Therapie überzuwechseln, bestehe somit nicht. Durch Bescheid vom 09. Mai 2008 lehnte die Beklagte eine Kostenübernahme ab. Die vertragsärztliche Versorgung sei sichergestellt. Die Klinik am S. sei eine Privatklinik und habe keine Zulassung mit den gesetzlichen Krankenkassen abzurechnen. Es gelte das Sachleistungsprinzip.

Mit seinem Widerspruch machte der Kläger geltend, er sehe, nachdem ihm die Schulmedizin nicht mehr helfen könne, in der Klinik am S. die einzige Möglichkeit, ihm wesentliche Hilfe bis hin vielleicht zu einer ganzen Heilung zukommen zu lassen. Noch lägen aufgrund der Erkrankung nur Störungen vor, noch keine Zerstörung. Immerhin könne er noch ohne Stock auf einer Wiese barfuß laufen. Die Widerspruchsstelle der Beklagten erließ den zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 10. Juni 2008. Es sei dabei zu verbleiben, dass die vertragsärztliche Versorgung sichergestellt sei. Mithin könne eine Kostenübernahme der geplanten Behandlung in der nicht zugelassenen Klinik am S. nicht erfolgen.

Mit der am 07. Juli 2008 zum Sozialgericht Stuttgart (SG) erhobenen Klage verfolgte der Kläger sein Begehren weiter. Die Zusammenarbeit zwischen chinesischer Heilkunst und hiesiger Schulmedizin könne durchaus erfolgreich sein. Die Beklagte arbeite mit Ärzten zusammen, die mit Akupunktur linderten und heilten. Er sei zunehmend von Stürzen mit Frakturen bedroht. Sein Allgemeinarzt Dr. K. setze sich deshalb sehr für die begehrte Behandlung ein. Es bestehe ein Notfall mit dringender Behandlungsbedürftigkeit, da die Krankheit bis zum Rollstuhl führen könne. Inzwischen habe sich die Krankheit auf die Hände ausgedehnt. Er sehe in der von der Klinik angebotenen TCM eine Rettung. Die chinesische Medizin arbeite nicht wie die Schulmedizin nur mit Allopathie, sondern z.B. mit Energiefluss. Der Kläger legte neben den bereits der Beklagten übersandten Unterlagen noch das Attest des Neurologen Dr. Si. vom 09. Oktober 2008, den Arztbrief des Krankenhauses B. C. vom 08. Juni 2007 über eine stationäre Behandlung vom 04. bis 08. Juni 2007 (Harnwegsinfektion, Divertikulose des Dickdarms mit Polypen), die ärztliche gutachterliche Äußerung der Aufnahmeärztin Dr. M. von der Klinik am S. vom 20. November 2008, die Tarife für die vollstationäre Krankenhausbehandlung der Klinik am S. sowie das Schreiben des Verwaltungsleiters Kling von der Klinik am S. vom 09. Dezember 2008 (mit Abhandlung des ärztlichen Leiters Dr. Sc., Apothekenkurier vom Februar 2008) vor.

Die Beklagte trat der Klage entgegen und wies wiederum darauf hin, es handle sich um ein nicht zugelassenes Krankenhaus. Die Behandlung könne jedoch von einem zugelassenen durchgeführt werden. Mithin liege ein Systemmangel nicht vor. Die vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) aufgestellten Grundsätze für eine ausnahmsweise zu übernehmende außervertragliche Behandlung seien hier nicht erfüllt.

Neurologe Dr. Si. teilte in einem Schreiben an das SG vom 12. Dezember 2008 mit, die Krankheit schreite fort und es solle keine Zeit bis zu einem Klinikaufenthalt in der Klinik am S. verloren gehen. Die Prüfung eines Notfalls oder Härtefalls werde angeregt.

Durch Gerichtsbescheid vom 15. Januar 2009 wies das SG die Klage ab. Zur Begründung legte es dar, bei der Klinik am S. handle es sich nicht um ein zugelassenes Krankenhaus, insbesondere bestehe kein Versorgungsvertrag. Ein Notfall könne schon in zeitlicher Hinsicht nicht vorliegen. Ein solcher könne auch nicht aus der Stellungnahme Dr. Si. abgeleitet werden.

Gegen den am 16. Januar 2009 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 13. Februar 2009 beim Landessozialgericht Berufung eingelegt. Er verbleibt dabei, die vorgelegten Atteste und Abhandlungen wiesen nach, die Schulmedizin könne ihm nicht mehr weiterhelfen. Das Gutachten des MDK sei ohne Untersuchung erstellt worden. Die Progredienz der Erkrankung lasse befürchten, dass die TCM-Therapie nicht mehr greife. Ein Notfall liege vor.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 15. Januar 2009 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 09. Mai 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Juni 2008 zu verurteilen, eine akutstationäre Behandlung in der Klinik am S. zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie wendet nochmals ein, bei der Klinik am S. handle sich um ein nicht zugelassenes Krankenhaus.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Zur weiteren Darstellung wird auf den Inhalt der Berufungsakten, der Klageakten und der von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten gemäß § 153 Abs. 1 i. V. mit § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ist zulässig. Die Kosten der begehrten akutstationären Behandlung der Polyneuropathie (PNP) nach traditioneller chinesischer Medizin (TCM) in der Klinik am S. in G. übersteigen den Beschwerdewert von EUR 750,00 (vgl. § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG in der seit 01. April 2008 geltenden Fassung). Der Tagessatz der Behandlung in der Klinik am S. beträgt seit 01. Februar 2009 EUR 296,00. Es ist davon auszugehen, dass die vom Kläger gewünschte stationäre Behandlung in dieser Klinik mehr als zwei Tage dauert und somit Kosten in Höhe von deutlich mehr als EUR 750,00 anfallen würden.

Die Berufung kann jedoch in der Sache keinen Erfolg haben. Das SG hat im angefochtenen Gerichtsbescheid vom 15. Januar 2009 zutreffend entschieden, dass die Beklagte im streitgegenständlichen Bescheid vom 09. Mai 2008 (Widerspruchsbescheid vom 10. Juni 2008) die Leistung einer stationären Behandlung in der Klinik am S. zu Recht abgelehnt hat.

Nach § 11 Abs. 1 Nr. 4 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Leistungen zur Behandlung einer Krankheit gemäß §§ 27 bis 52 SGB V. Versicherte haben Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern (§ 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Die Krankenbehandlung umfasst u.a. Krankenhausbehandlung (Satz 2 Nr. 5 der Vorschrift). Gemäß § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB V haben Versicherte Anspruch auf vollstationäre Behandlung in einem zugelassenen Krankenhaus (§ 108), wenn die Aufnahme nach Prüfung durch das Krankenhaus erforderlich ist, weil das Behandlungsziel nicht durch teilstationäre, vor- und nachstationäre oder ambulante Behandlung einschließlich häuslicher Krankenpflege erreicht werden kann. Nach § 108 SGB V dürfen die Krankenkassen Krankenhausbehandlung nur durch folgende Krankenhäuser (zugelassene Krankenhäuser) erbringen lassen: 1. Krankenhäuser, die nach den landesrechtlichen Vorschriften als Hochschulkliniken anerkannt sind, 2. Krankenhäuser, die in den Krankenhausplan eines Landes aufgenommen sind (Plankrankenhäuser), oder 3. Krankenhäuser, die einen Versorgungsvertrag mit den Landesverbänden der Krankenkassen und den Verbänden der Ersatzkassen abgeschlossen haben.

Die Klinik am S. in G. ist keines der aufgezählten zugelassenen Krankenhäuser. Dies ist unter den Beteiligten unstreitig. Bemüht sich eine Klinik - aus welchen Gründen auch immer - nicht um eine Aufnahme unter die zugelassenen Krankenhäuser, dürfen die Krankenkassen dort Krankenhausbehandlung nicht erbringen lassen. Erst recht käme die Kostenerstattung (vgl. im Einzelnen § 13 SGB V) für eine privat in Anspruch genommene und bezahlte Behandlung nicht in Betracht.

Für die Prüfung eines allgemeinen "Härtefalls" aus gesundheitlichen oder finanziellen Gründen, ausnahmsweise die Behandlung in einem nicht zugelassenen Krankenhaus zu ermöglichen, gibt es keine gesetzliche Grundlage.

Ein Notfall im Sinne von § 76 Abs. 1 Satz 2 SGB V besteht nicht. Ein solcher Notfall, bei dem ausnahmsweise nicht zugelassene Ärzte oder Krankenhäuser in Anspruch genommen werden können, liegt nur dann vor, wenn ein unvermittelt auftretender Behandlungsbedarf sofort befriedigt werden muss und ein fachlich zuständiger Vertragsarzt oder ein Vertragskrankenhaus nicht in der gebotenen Eile herbeigerufen bzw. aufgesucht werden kann (Bundessozialgericht - BSG - BSGE 97, 6 = SozR 4-2500 § 13 Nr. 9; BSGE 98, 26 =SozR 4-2500 § 13 Nr. 2). Eine solche medizinische Unaufschiebbarkeit oder Dringlichkeit ist hier zu verneinen. Es handelt sich bei der PNP um eine chronisch fortschreitende Krankheit, die keine Notfallbehandlung erfordert. Zwar kann auch eine Notfallbehandlung eines Versicherten in einem nicht zugelassenen Krankenhaus vergütungsfähig sein, eine Vergütung ist aber allein für die Notfallbehandlung als solche - also bis zur umgehenden Verlegung des Patienten zu einem zugelassenen Leistungserbringer - zulässig (vgl. BSG SozR 4-2500 § 109 Nr. 6).

Der Kläger kann sich schließlich auch nicht auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung für neue Behandlungsmethoden in Fällen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung berufen. Im Beschluss vom 06. Dezember 2005 (BVerfGE 115, 25) hat es das BVerfG für mit dem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und dem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht für vereinbar erklärt, einen gesetzlich Krankenversicherten, für dessen lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, von der Leistung einer von ihm gewählten ärztlich angewandten Behandlungsmethode auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Die zu einem solchen Ergebnis führende Auslegung der leistungsrechtlichen Vorschriften des Krankenversicherungsrechts sei in der extremen Situation krankheitsbedingter Lebensgefahr - oder der Gefahr des Verlusts eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion - verfassungswidrig. Das BSG hat diese verfassungsgerichtlichen Vorgaben näher konkretisiert (z.B. BSG SozR 4-2500 § 27 Nrn. 8 und 12; SozR 4-2500 § 31 Nr. 8). Gerechtfertigt ist hiernach eine verfassungskonforme Auslegung der einschlägigen gesetzlichen Regelungen nur, wenn eine notstandsähnliche Situation im Sinne einer in einem gewissen Zeitdruck zum Ausdruck kommenden Problematik vorliegt, wie sie für einen zur Lebenserhaltung bestehenden akuten Behandlungsbedarf typisch ist. Das bedeutet, dass nach den konkreten Umständen des Falles bereits drohen muss, dass sich der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen wird. Ähnliches kann für den gleichzustellenden, nicht kompensierbaren Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion gelten. Nicht zu diesen Situationen zählt, dass die PNP des Klägers fortzuschreiten droht und von der hier begehrten Behandlung Stillstand oder gar Remission des Leidens erhofft wird. Der Kläger gibt an, immerhin könne er noch ohne Stock auf einer Wiese laufen. Allein die trotz Behandlung mit schulmedizinischen Methoden drohende Verschlimmerung der Erkrankung, welcher gegenüber ein Erfolg der hier begehrten Methode durchaus nicht gesichert ist, mit der Befürchtung, in fernerer Zeit einen Rollstuhl zu benötigen, kann den dargelegten eng begrenzten Ausnahmefällen nicht zugerechnet werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Zur Zulassung der Revision bestand kein Anlass.
Rechtskraft
Aus
Saved