S 14 KR 1056/07

Land
Schleswig-Holstein
Sozialgericht
SG Lübeck (SHS)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
14
1. Instanz
SG Lübeck (SHS)
Aktenzeichen
S 14 KR 1056/07
Datum
2. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
§ 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG beinhaltet auch die Voraussetzung, dass der Kläger seine Rechte nicht mit der
Gestaltungs- oder Leistungsklage verfolgen kann (Subsidiarität). Der Antrag auf Feststellung, dass die
Klägerin nicht sozialversicherungspflichtig ist, ist daher unzulässig, wenn dieses Ziel bereits durch
Aufhebung eines Rücknahmebescheides erreicht werden kann. Weil damit der ursprüngliche
Feststellungsbescheid endgültig wirksam wird.

Die Voraussetzungen für eine Rücknahme nach § 49 SGB X liegen nicht vor, wenn der Rücknahmebescheid nach Abschluss des sozialgerichtlichen Verfahrens erlassen wurde.
Der Bescheid der Beklagten vom 19. Juni 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. September 2007 wird aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin und des Beigeladenen zu 4.

Tatbestand:

Streitig ist, ob die Klägerin seit Mai 1999 bei der Beigeladenen zu 4. in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis steht.

Die am ... geborene Klägerin ist seit 1970 Mitglied der Beklagten. Sie nahm bei der Beigeladenen zu 4. am 1. Mai 1985 eine abhängige Beschäftigung auf. Alleiniger Geschäftsführer der Beigeladenen zu 4. ist der Ehemann der Klägerin. Gegenstand des Unternehmens ist der Verkauf, die Reparatur, Wartung und Montage von Kälte- und Klimaanlagen. Mit notariellem Vertrag vom 5. Mai 1999 trat der Ehemann der Klägerin an diese 25 % des Stammkapitals ab. Er selbst behielt 75 % des Stammkapitals von damals insgesamt DM 50.000. Gleichzeitig wurde am 1. Mai 1999 zwischen der Beigeladenen zu 4. und der Klägerin ein Arbeitsvertrag geschlossen. Darin wurde eine feste Vergütung in Höhe von EUR 2.450 vereinbart. Dieses Entgelt wurde auf das private Konto der Klägerin eingezahlt und als Betriebsausgabe verbucht. Es wurden Lohnsteuer und Sozialversichtungsbeiträge entrichtet.

Im November 2005 beantragte die Klägerin bei der Beklagte die Überprüfung ihres Versicherungsverhältnisses in der Sozialversicherung. In dem übersandten Fragebogen gab sie an, dass sie an Weisungen des Betriebsinhabers nicht gebunden sei und ihre Tätigkeit frei bestimmen und gestalten könne. Darauf hin stellte die Beklagte mit Bescheiden vom 21. und 30. November 2005 fest, dass die Klägerin seit dem 1. Mai 1999 eine selbständige Tätigkeit ausübe. Es liege kein abhängiges Beschäftigungsverhältnis und damit keine Versicherungspflicht zu den Zweigen der Sozialversicherung vor. Die Renten- und Arbeitslosenversicherungsbeiträge vom 1. Mai 1999 bis 31. November 2005 seien zu Unrecht entrichtet worden. Bezüglich der Erstattung solle sich die Klägerin an die jeweils zuständigen Träger wenden. Gleichzeitig stellte die Beklagte das Krankenversicherungs-verhältnis auf eine freiwillige Mitgliedschaft um. Von der Beigeladenen zu 2. erging ein entsprechender Bescheid hinsichtlich der Pflegeversicherung.

Diese Entscheidung der Beklagten ist der Beigeladenen zu 3. erst am 12. April 2006 bekannt geworden. Eine an den Rentenversicherungsträger gerichtete Rechtsmittelbelehrung enthielten die Bescheide nicht. Am 28. März 2007 erhob die Beigeladene zu 3. beim Sozialgericht Berlin (Az. S 84 KR 1039/07) Klage gegen die Beklagte mit dem Ziel, den Bescheid der Beklagten vom 30. November 2005 aufzuheben und festzustellen, dass die Klägerin ab Mai 1999 der Rentenversicherungspflicht unterliege. Mit Schriftsatz vom 3. Mai 2007 erkannte die Beklagte den Anspruch an. Mit Schriftsatz vom 16. Mai 2007, eingegangen beim Sozialgericht Berlin am 21. Mai 2007, nahm die Beigeladene zu 3. das Anerkenntnis der Beklagten an. Die Klägerin wurde an diesem Rechtsstreit nicht beteiligt. Sie schloss zu ihrer Absicherung eine private Rentenversicherung zum 1. Oktober 2005 mit einer Laufzeit von 10 Jahren und monatlichen Beiträgen in Höhe von EUR 1.250,17 ab.

Mit Bescheid vom 19. Juni 2007 nahm die Beklagte ihren Bescheid vom 30. November 2005 zurück. Aufgrund des Rechtsstreits mit der Beigeladenen zu 3. vor dem Sozialgericht Berlin habe die Beklagte den Bescheid unter versicherungsrechtlichen Gesichtspunkten überprüft. Dabei habe sich ergeben, dass der Bescheid rechtswidrig sei. Die Klägerin stehe bei der Beigeladenen zu 4. in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis. Nach der neueren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) seien mitarbeitende Minderheits-gesellschafter, die über keine Sperrminorität am Stammkapital der GmbH verfügen, grundsätzlich abhängig beschäftigt. Die Klägerin könne sich nicht auf Vertrauen in den Bestand des Bescheides berufen, da der Rentenversicherungsträger den Bescheid zulässigerweise mit der Klage angegriffen habe.

Dagegen erhob die Klägerin am 10. Juli 2007 Widerspruch. Der Bescheid vom 30. November 2005 sei rechtskräftig gewesen. Sie habe schon Vermögensverfügungen vorgenommen und berufe sich auf Vertrauensschutz. Darüber hinaus bestehe kein abhängiges Beschäftigungsverhältnis. Sie sei neben ihrem Ehemann einzige Gesellschafterin. Es bestehe ein gleichberechtigtes Miteinander. Sie könne Gesellschafterbeschlüsse herbeiführen oder verhindern. Außerdem erhalte sie eine Dividende.

Die Beklagte wies den Widerspruch der Klägerin unter Hinweis auf die neuere Rechtssprechung des BSG mit Widerspruchsbescheid vom 12. September 2007, zugestellt an die Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 17. September 2007, als unbegründet zurück.

Dagegen hat die Klägerin am 16. Oktober 2007 beim Sozialgericht Lübeck Klage erhoben. Zur Begründung wiederholt und vertieft sie ihr Vorbringen aus dem Vorverfahren.

Die Klägerin beantragt nach Aktenlage,

1. den Bescheid der Beklagten vom 19. Juni 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. September 2007 aufzuheben, 2. festzustellen, dass die Ausgangsbescheide der Beklagten vom 21. und 30. November 2005 wirksam sind und die Klägerin seit dem 1. Mai 1999 eine selbständige Tätigkeit ausübt.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beigeladene zu 4. hat sich dem Antrag der Klägerin angeschlossen.

Mit Beschluss vom 10. März 2008 hat das Gericht ... und mit Beschluss vom 20. Mai 2008 die ... GmbH beigeladen.

In der mündlichen Verhandlung am 28. August 2008 haben die Klägerin und ihr Ehemann als Vertreter der Beigeladenen zu 4. umfänglich zu Art und Umfang der Tätigkeit der Klägerin bei der Beigeladenen zu 4. Stellung genommen. Auf den Inhalt des Sitzungsprotokolls wird insoweit verwiesen. Das Gericht hat Beweis erhoben durch uneidliche Vernehmung des Zeugen H. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll vom 28. August 2008 Bezug genommen.

Mit notariellem Vertrag vom 18. September 2008 ist der Gesellschaftsvertrag der Beigeladenen zu 4. dahin geändert worden, dass nunmehr sowohl die Klägerin als auch ihr Ehemann jeweils 50 % des Stammkapitals halten.

Das Gericht hat die Verwaltungsakte der Beklagten und die Prozessakte des Sozialgerichts Berlin S 84 KR 1039/07 beigezogen und zusammen mit der Prozessakte des Sozialgerichts Lübeck zum Gegenstand der Entscheidungsfindung gemacht. Die Beteiligten haben Ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne weitere mündliche Verhandlung erklärt.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte gem. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne weitere mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, da die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben.

Die Klage ist hinsichtlich des Antrages zu 2. unzulässig (I.) und im übrigen zulässig und begründet (II.).

I. Der Antrag der Klägerin, festzustellen, dass die Ausgangsbescheide der Beklagten vom 21. und 30. November 2005 wirksam sind und die Klägerin seit dem 1. Mai 1999 eine selbständige Tätigkeit ausübt, ist unzulässig. Insoweit fehlt dem Begehren der Klägerin sowohl das notwendige Rechtschutzbedürfnis als auch das Feststellungsinteresse. Gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG kann mit der Klage die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses begehrt werden, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung hat. Dies beinhaltet auch die Voraussetzung, dass der Kläger seine Rechte nicht mit der Gestaltungs- oder Leistungsklage verfolgen kann (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer SGG Kommentar, 8. Aufl., § 55 Rdnr. 3). Das ist aber vorliegend der Fall. Die Klägerin kann ihr Begehren allein mit der zu 1. erhobenen Anfechtungsklage erreichen. Denn durch die Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 19. Juni 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. September 2007 bleiben die Bescheide vom 21. und 30. November 2005 wirksam und damit bleibt es auch bei der von der Klägerin begehrten und von der Beklagten ursprünglich getroffenen Feststellung, dass die Klägerin seit dem 1. Mai 1999 eine selbständige Tätigkeit ausübt. Es ist auch zukünftig keine andere Entscheidung der Beklagten zu erwarten, da eine Rücknahme der Bescheide weder nach § 45 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) noch nach § 49 SGB X in Betracht kommt (siehe II.). Da somit die Anfechtungsklage bereits vollumfänglich zu einer Sachentscheidung geführt hat, besteht kein weitergehender Rechtsschutz durch eine Feststellungsklage. Der Feststellungsantrag ist unzulässig, weil die begehrte Feststellung bereits mit der Anfechtungsklage erreicht wird. Ein weitergehendes Feststellungsinteresse ist nicht ersichtlich. Angesichts der seit Oktober 2008 bestehenden Verteilung der Gesellschaftsanteile von je 50 % haben zudem sowohl die Beklagte als auch die Beigeladene zu 3. erkennen lassen, dass sie für die Zukunft eine selbstständige Tätigkeit der Klägerin anerkennen. Abweichende Bescheide sind deshalb auch in naher Zukunft nicht zu erwarten.

II. Hinsichtlich des Antrages zu 1. ist die Klage zulässig und begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 19. Juni 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. September 2007 war aufzuheben. Er ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin daher in ihren Rechten. Zu Unrecht nahm die Beklagte mit diesem Bescheid den Bescheid vom 30. November 2005 und sinngemäß auch den Bescheid vom 21. November 2005 zurück. Eine Rücknahme der Bescheide war weder nach § 49 SGB X noch nach § 45 SGB X zulässig.

Nach § 49 SGB X gelten die §§ 45 Abs. 1 bis 4, 47 und 48 SGB X nicht, wenn ein begünstigender Verwaltungsakt, der von einem Dritten angefochten worden ist, während des Vorverfahrens oder während des sozial- oder verwaltungsgerichtlichen Verfahrens aufgehoben wird, soweit dadurch dem Widerspruch abgeholfen oder der Klage stattgegeben wird. Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Zwar wurde der für die Klägerin begünstigende Bescheid vom 30. November 2005 von der Beigeladenen zu 3. mit der Klage vor dem Sozialgericht Berlin angefochten. Sie war dazu als Drittbetroffene auch grundsätzlich berechtigt (vgl. BSG 25. Mai 1966 - 3 RK 37/62, BSGE 25, 34; BSG 1. Juli 1999 – B 12 KR 2/99 R, BSGE 84, 136). Die Beklagte hob den Bescheid jedoch nicht während des sozialgerichtlichen Verfahrens auf. § 49 SGB X gilt nur für die Dauer des Anfechtungsverfahrens. Nach Abschluss des Rechtsbehelfsverfahrens gelten die allgemeinen Vorschriften über den Bestandsschutz (vgl. Wiesner in von Wulffen, SGB X, Sozialverwaltungsverf. und Sozialdatenschutz, 4. Aufl., § 49 Rdnr. 5). Abgeschlossen ist das Verfahren mit dem Eintritt der Bindungswirkung. Nach § 101 Abs. 2 SGG erledigt das angenommene Anerkenntnis des geltend gemachten Anspruchs insoweit den Rechtsstreit in der Hauptsache. Mit der Annahme des Anerkenntnisses durch den Schriftsatz der Beigeladenen zu 3. vom 16. Mai 2007, eingegangen beim Sozialgericht Berlin am 21. Mai 2007, war der dort anhängige Rechtsstreit erledigt. Das sozialgerichtliche Verfahren war am 21. Mai 2007 abgeschlossen. Die Rücknahme des Feststellungsbescheides durch die Beklagte erfolgte jedoch erst mit Bescheid vom 19. Juni 2007 und damit nicht mehr während des laufenden sozialgerichtlichen Verfahrens. Die Anwendung des § 49 SGB X scheidet daher aus.

Auch eine Rücknahme der Bescheide nach § 45 SGB X scheidet aus. Gem. § 45 Abs. 1 SGB X darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden, soweit sich der Begünstigte nicht darauf berufen kann, dass er auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Offen bleiben kann insoweit, ob die Bescheide der Beklagten vom 21. und 30. November 2005 tatsächlich rechtswidrig waren. Die Kammer hat daran nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme erhebliche Zweifel. Diese Rechtsfrage bedarf aber keiner Entscheidung, denn die Klägerin kann jedenfalls Vertrauensschutz geltend machen. Sie konnte nach Überprüfung ihres sozialversicherungsrechtlichen Status durch die Beklagte und rechtskräftigen Bescheiden vom 21. und 30. November 2005 davon ausgehen, dass sie zu recht ab Mai 1999 als Selbständige anzusehen war. Die Bescheide enthalten keine Aussage über ein Anfechtungsrecht Dritter. Die Vertrauensausschlussgründe des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X treffen auf die Klägerin nicht zu. Zudem traf die Klägerin mit dem Abschluss einer privaten Rentenversicherung ab 1. Oktober 2005 eine Vermögensdisposition, die sie nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Darüber hinaus wäre der Bescheid vom 19. Juni 2007, sofern man ihn in einen Rücknahmebescheid nach § 45 SGB X umdeuten würde, bereits deshalb rechtswidrig, weil die Beklagte weder eine Vertrauensschutzprüfung noch eine Ermessensausübung vornahm.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Das teilweise Unterliegen der Klägerin fällt bei der Kostenentscheidung nicht ins Gewicht, da das Begehren des abgewiesenen Antrages mit der Anfechtungsklage bereits voll erreicht worden ist. Es ist billig, dass die Beklagte auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen zu 4. trägt, da sich dieser dem Antrag der Klägerin angeschlossen und damit ebenfalls obsiegt hat.
Rechtskraft
Aus
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