L 1 KR 1198/03

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
S 2 KR 1294/00
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 1 KR 1198/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Bemerkung
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 21. Oktober 2003 wird zurückgewiesen.

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 21. Oktober 2003 abgeändert und die Klage in vollem Umfang abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des gesamten Verfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig die Rechtmäßigkeit einer Nachforderung von Sozialversicherungsbeiträgen in Höhe von 53.653,04 DM für die Zeit von 1993 bis 1996.

Die Klägerin, ein Unternehmen zur Metallveredelung, beschäftigte im Zeitraum 1993 bis 1996 aushilfsweise polnische Studenten. Die Beschäftigung wurde nicht nur in der vorlesungsfreien Zeit ausgeübt und überschritt regelmäßig die Dauer von zwei Monaten bzw. die wöchentliche Arbeitszeit von 20 Stunden.

Anlässlich einer Betriebsprüfung durch die Beigeladene zu 2. am 13. September 1994 wurden Meldedifferenzen festgestellt. Nicht beanstandet wurde jedoch, dass für zwei polnische Studenten im Jahre 1993 keine Sozialversicherungsbeiträge abgeführt worden waren. Mit Schreiben vom 22. September 1994 teilte die Beigeladene zu 1. mit, dass aufgrund der durchgeführten Betriebsprüfung für den Zeitraum von Januar 1991 bis Dezember 1993 der Abgleich der nachgewiesenen Sozialversicherungsbeiträge mit den bescheinigten Entgelten in den Versicherungsnachweisen für 1992 und 1993 als abgestimmt gelte.

Am 15. Februar 1996 führte die Beklagte für die Zeit ab 1. Dezember 1991 eine erneute Betriebsprüfung durch. Eine abschließende Beurteilung erfolgte nicht, vielmehr fand am 5. Februar 1997 für die Zeit vom 1. Dezember 1992 bis 31. Dezember 1995 eine weitere Betriebsprüfung statt. Mit Bescheid vom 22. Mai 1997 stellte die Beklagte für die von der Klägerin beschäftigten Studenten Versicherungspflicht in der Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung sowie ab 1. Januar 1995 auch in der Pflegeversicherung fest und forderte Gesamtsozialversicherungsbeiträge in Höhe von insgesamt 53.653,04 DM nach. Der Widerspruch der Klägerin vom 16. Juni 1997 wurde mit Widerspruchsbescheid vom 6. September 1999 zurückgewiesen. Zur Begründung führte die Beklagte u. a. aus, aus der Tatsache, dass in der Vergangenheit durchgeführte Betriebsprüfungen keine Beanstandungen ergeben hätten, könne grundsätzlich kein Vertrauensschutz abgeleitet werden.

Hiergegen hat die Klägerin am 21. September 1999 bei dem Sozialgericht Wiesbaden Klage erhoben. Sie hat insbesondere darauf hingewiesen, dass sie sich wegen der Versicherungspflicht beziehungsweise Versicherungsfreiheit der polnischen Studenten bei der AOK Hessen erkundigt habe. Die von dort erteilte falsche oder unvollständige Auskunft könne ihr nicht angelastet werden; insoweit bestehe Vertrauensschutz.

Mit Beschluss vom 21. Dezember 2000 hat das Sozialgericht die AOK Hessen und die LVA Hessen zum Verfahren beigeladen.

Mit Urteil vom 21. Oktober 2003 hat das Sozialgericht den Bescheid der Beklagten insoweit aufgehoben als Sozialversicherungsbeiträge für das Jahr 1993 nachgefordert worden sind und hat im Übrigen die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt: Für die Jahre 1994 bis 1996 habe die Beklagte zu Recht die Sozialversicherungsbeiträge nachgefordert. Aufgrund des Umfanges der Beschäftigungsverhältnisse seien die Studenten ihrem Erscheinungsbild nach als Arbeitnehmer anzusehen, so dass ihr Beschäftigungsverhältnis grundsätzlich Kraft Gesetzes versicherungspflichtig gewesen sei. Die Ansprüche seien auch weder verjährt noch verwirkt gewesen. Für die Verwirkung von Beitragsansprüchen sei allein auf das Verhalten der Einzugsstelle abzustellen. Eine trotz Betriebsprüfung unterbliebene Beanstandung der unterlassenen Beitragszahlungen rechtfertige nicht die Erwartungen des Schuldners, dass auf das Recht zur Geltendmachung der Beitragsforderung verzichtet werde. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts entfalteten frühere Betriebsprüfungen keine Bindungswirkung, weder für den Prüfzeitraum noch für die folgenden Zeiträume. Vertrauensschutz habe für die Zeit von 1994 bis 1996 nicht bestanden, jedoch für das Jahr 1993. Hier habe die Klägerin davon ausgehen können, dass zumindest stichprobenartig die Lohnunterlagen der beiden im Jahr 1993 beschäftigten polnischen Studenten geprüft würden, für die Beiträge nicht gezahlt worden sind.

Gegen das der Klägerin am 2. Dezember 2003 zugestellte Urteil hat sie am 9. Dezember 2003 bei dem Hessischen Landessozialgericht Berufung eingelegt.

Sie ist weiterhin der Auffassung, dass sie aufgrund der von der Beigeladenen zu 1. erteilten Auskünfte Vertrauensschutz in Anspruch nehmen könne und nicht zur Nachentrichtung von Sozialversicherungsbeiträgen verpflichtet sei.

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 21. Oktober 2003 abzuändern und den Bescheid vom 22. Mai 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. September 1999 aufzuheben und die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Die Beklagte hat gegen das ihr am 3. Dezember 2003 zugestellte Urteil am 23. Dezember 2003 ebenfalls Berufung bei dem Hessischen Landessozialgericht eingelegt.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 21. Oktober 2003 abzuändern und die Klage in vollem Umfange abzuweisen sowie die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil hinsichtlich der Versicherungspflicht für die Zeit von 1994 bis 1996 für zutreffend. Die Klägerin sei jedoch verpflichtet, auch für 1993 Versicherungsbeiträge nachzuentrichten, da auch für dieses Jahr kein Vertrauensschutz bestanden habe.

Die Beigeladenen zu 1. und 3. stellen den gleichen Antrag wie die Beklagte.

Die Beigeladenen zu 2. und 4. stellen keinen Antrag. In der Sache schließen sie sich der Auffassung der Beklagten an.

Der Senat hat mit Beschluss vom 14. November 2005 die AOK Hessen - Pflegekasse und die Bundesagentur für Arbeit zum Verfahren beigeladen und im Termin zur mündlichen Verhandlung die Mitarbeiterin der Klägerin C. als Zeugin vernommen. Wegen des Inhalts ihrer Aussage wird auf die Niederschrift vom 2. März 2006 verwiesen.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den übrigen Akteninhalt Bezug genommen sowie auf den der Akten der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die Berufungen der Klägerin und der Beklagten sind zulässig, begründet ist jedoch lediglich die Berufung der Beklagten (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG).

Nach § 6 Abs. 1 Nr. 3 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V), § 5 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch - Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI), § 169 b Nr. 2 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) und § 1 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Elftes Buch - Soziale Pflegeversicherung (SGB XI) in der hier anzuwendenden Fassung waren versicherungsfrei Personen, die während der Dauer ihres Studiums als ordentliche Studierende einer Hochschule oder einer der fachlichen Ausbildung dienenden Schule gegen Arbeitsentgelt beschäftigt sind.

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist bei einer Beschäftigung während des Semesters im Wesentlichen darauf abzustellen, ob die Beschäftigung Zeit und Arbeitskraft des Studenten überwiegend in Anspruch nimmt. Dies wird dann bejaht, sofern der zeitliche Umfang wöchentlich 20 Stunden übersteigt (Bundessozialgericht, Urteil vom 11. November 2003 - B 12 KR 24/03 R, SozR 4-2500 § 6 Nr. 3). Nach den Angaben der Klägerin haben die polnischen Studenten je nach Bedarf monatlich durchschnittlich zwischen 180 und 200 Stunden gearbeitet. Die Tätigkeit hat auch nicht ausschließlich in der vorlesungsfreien Zeit stattgefunden und war nicht von vornherein befristet. Dies hat das Sozialgericht im Einzelnen zutreffend dargelegt und begründet.

Die Ansprüche waren im Jahre 1997 auch noch nicht verjährt. Die Verjährungsfrist für Ansprüche auf Beiträge beträgt nach § 25 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Viertes Buch - Sozialversicherung, Gemeinsame Vorschriften (SGB IV) vier Jahre nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem sie fällig geworden sind.

Zutreffend hat das Sozialgericht auch eine Verwirkung verneint. Das Rechtsinstitut der Verwirkung ist als Ausprägung des allgemeinen und in allen Rechtsbereichen geltenden Grundsatzes von Treu und Glauben auch für das Sozialrecht und insbesondere für die Nachforderung von Beiträgen zur Sozialversicherung anerkannt. An das Verwirkungsverhalten sind jedoch grundsätzlich strenge Anforderungen zu stellen, weil dem Interesse des Beitragsschuldners, das Ausmaß der wirtschaftlichen Belastung durch die Beitragsnachforderung in angemessenen Grenzen zu halten, bereits durch die kurze Verjährungsfrist des § 25 Abs. 1 SGB IV Rechnung getragen wird. Dabei reicht ein bloßes "Nichtstun" als Verwirkungsverhalten regelmäßig nicht aus; es muss darüber hinaus ein konkretes Verhalten des Gläubigers hinzu kommen, das bei dem Schuldner die berechtigte Erwartung erweckt hat, die Forderung bestehe nicht oder werde nicht mehr geltend gemacht. Schlichtes Unterlassen der Geltendmachung einer bestehenden Forderung durch den Gläubiger kann ein schutzwürdiges Vertrauen bei dem Schuldner nur dann begründen, wenn der Schuldner die Untätigkeit des Gläubigers nach den Umständen als bewusst und planmäßig betrachten darf. Ein bloßes Nichtstun der Einzugsstelle reicht auch dann nicht als Verwirkungsverhalten aus, wenn Betriebsprüfungen erfolgt sind oder wenn ein Betriebsprüfer im Anschluss an die Betriebsprüfungen seine Auffassung zur Rechtslage bekannt gegeben hat (BSG, Urteil vom 30. November 1978 - 12 RK 6/76 in: SozR 2200 § 1399 Nr. 11; Urteil vom 29. Juli 2003 - B 12 AL 1/02 R in: SozR 4 – 2400 § 27 Nr. 1; Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 3. März 2005 - L 1 KR 976/00 – JURIS Nr.: KSRE020071514). Bei Betriebsprüfungen selbst in kleinen Betrieben sind die Prüfbehörden nicht zu einer vollständigen Überprüfung der versicherungsrechtlichen Verhältnisse aller Versicherten verpflichtet. Eine über eine Kontrollfunktion hinaus gehende Bedeutung kommt den Betriebsprüfungen nicht zu. Sie bezwecken insbesondere nicht, den Arbeitgeber als Beitragsschuldner zu schützen oder "Entlastung" zu erteilen (BSG, Urteil vom 14. Juli 2004 - B 12 KR 10/02 R - JURIS Nr.: KSRE077811517).

Unter Anwendung dieser Grundsätze hat das Sozialgericht zutreffend die Rechtmäßigkeit der Beitragsnachforderung für die Jahre 1994 bis 1996 bejaht. Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist der Senat auf das angefochtene Urteil und sieht insoweit von der weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 153 Abs. 2 SGG).

Die Forderungen der Beklagten sind jedoch entgegen der Auffassung des Sozialgerichts auch für das Jahr 1993 begründet. Die Klägerin kann sich hierbei nicht auf die bereits früher durchgeführte Betriebsprüfung durch die Beigeladene zu 2. berufen. Das Schreiben der Beigeladenen zu 1. vom 2. September 1994 an die Klägerin stellt keinen Verwaltungsakt dar, da hierin keine verbindlichen Regelungen enthalten sind. Das Schreiben erschöpft sich vielmehr in einer Mitteilung von Tatsachen ohne weiteren Regelungsgehalt. Nach den oben genannten Grundsätzen der Rechtsprechung und nach der früheren Vorschrift des § 28 k Abs. 2 SGB IV wurde lediglich geprüft, ob sich Meldedifferenzen ergeben. Da sich die Überprüfung normalerweise in Stichproben erschöpft, liegt in der Tatsache, dass keine Beanstandungen vorgetragen werden, nicht zugleich die Aussage, dass die Prüfung keine weiteren Feststellungen ergeben hat. Deshalb begründet auch eine fehlerhafte Beurteilung bei einer früheren Betriebsprüfung keinen Vertrauensschutz.

Im konkreten Fall hat die Zeugin C. im September 1994 nach ihrer Aussage im Rahmen der Beweisaufnahme vor dem Senat dem Prüfer lediglich die Unterlagen zur Verfügung gestellt. Welche Unterlagen im Einzelnen geprüft worden sind, konnte sie nicht sagen, da die Prüfung in einem separaten Raum stattgefunden hat. Welche Fragen der Prüfer gezielt gestellt hat, ist ihr nicht erinnerlich. Es bleibt daher offen, ob über die Versicherungspflicht der Studenten überhaupt gesprochen worden ist. Damit fehlt es bereits an einem konkreten Sachverhalt bzw. Verhalten der Beigeladenen zu 2., das bei der Klägerin einen Vertrauenstatbestand hätte auslösen können. Die Betriebsprüfung im Februar 1996 durch die Beklagte konnte schon deshalb kein Vertrauen bei der Klägerin auslösen, da der Prüfer nach Aussage der Zeugin C. auf Probleme bzw. Unstimmigkeiten bei der Beurteilung der Studenten hingewiesen hat.

Soweit sich die Klägerin darauf beruft, sie habe 1994 von der Beigeladenen zu 1. eine fehlerhafte Auskunft erhalten, macht sie einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch geltend. Dieser setzt ein rechtswidriges Verhalten (Pflichtverletzung) des zur Beratung verpflichteten Versicherungsträgers voraus, das bei dem Betroffenen einen sozialrechtlichen Nachteil bzw. Schaden herbeigeführt hat. Dieses rechtswidrige Verhalten muss kausal für den eingetretenen Nachteil bzw. Schaden sein (vgl. im Einzelnen: Seewald, in Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, Band 1, § 14 SGB I, Rn. 24 ff., vor §§ 38 ff. Rn. 30 ff.).
Eine solche Pflichtverletzung ist nicht erwiesen. Schriftliche Unterlagen hierüber liegen weder bei der Beigeladenen zu 1. noch bei der Beigeladenen zu 2. vor. Auch die Vernehmung der Zeugin C. erbrachte nicht den Nachweis einer fehlerhaften Information. An den Namen der ehemaligen Sachbearbeiterin konnte sie sich nicht erinnern. Es hat nach ihrer Aussage Anfang 1994 auch nur ein Telefongespräch stattgefunden, bei dem die Frage der Versicherungspflicht von Studenten erörtert worden ist. Die mündlich erhaltene Auskunft hat die Zeugin als ausreichend angesehen und auch später keine schriftliche Auskunft verlangt.
Selbst wenn man zugunsten der Klägerin davon ausgeht, dass ein solches Telefongespräch stattgefunden hat und die behauptete Auskunft erteilt worden ist, könnte die - falsche - Auskunft einen Herstellungsanspruch nicht begründen. Nach der Rechtsprechung begründet eine telefonische Aussage keine Bindung der Behörde an die Meinungsäußerung eines Sachbearbeiters. Ebenso wenig kann eine telefonische Auskunft einer Krankenkasse als eine Entscheidung über die Versicherungspflicht - 9 - angesehen werden (vgl. BFH, Urteil vom 19. Mai 1992 - VIII R 37/90 – BFH NV 1993, 87; Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 5. Juni 1963 - L 16 Kr 13/62 – JURIS Nr.: KSRE006140058).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen von § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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