Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
20
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 4 AS 109/09 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 20 B 48/09 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 12. Mai 2009 aufgehoben. Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe:
Im Streit steht, ob die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 25.02.2009 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 09.02.2009 (über die Aufhebung bewilligter Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB I)) für die Zukunft) im Wege einstweiligen Rechtsschutzes gerichtlich anzuordnen und zugleich die Aufhebung der Vollziehung dieses Bescheides durch Auszahlung als Befolgung der ursprünglichen Leistungsbewilligung gerichtlich zu verfügen ist.
I. Der Antragsteller stand seit dem 01.01.2005 im laufenden Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II. Nach Abbruch einer Trainingsmaßnahme Ende Oktober 2005 leitete die Antragsgegnerin Ermittlungen zur Feststellung seiner Erwerbsfähigkeit ein. Das der Antragsgegnerin im Mai 2007 vorliegende medizinische Gutachten ergab eine vollschichtige Leistungsfähigkeit des Antragstellers. Nach weiteren erfolglosen Eingliederungsversuchen kam es auf Wunsch des Antragstellers im Oktober 2008 zur Teilnahme an einer Trainingsmaßnahme für psychisch erkrankte Menschen, bei welcher der Antragsteller aus Sicht des Maßnahmeträgers kein für die Arbeitsaufnahme auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erforderliches Leistungsvermögen gezeigt habe. Aufgrund der Empfehlungen des Trägers schaltete die Antragsgegnerin am 15.12.2008 erneut den Sozialpsychiatrischen Dienst zur Feststellung der Erwerbsfähigkeit des Antragstellers ein.
Auf den Fortzahlungsantrag des Antragstellers hin bewilligte die Antragsgegnerin ihm mit Bescheid vom 16.12.2008 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II auch für die Zeit vom 01.01.2009 bis zum 30.06.2009 in Höhe von 536 Euro monatlich.
Am 09.02.2009 erlangte die Antragsgegnerin Kenntnis von dem Gutachten des Amtsarztes Dr. U, Sozialpsychiatrischer Dienst, vom 26.01.2009, welches aufgrund Untersuchung des Antragstellers am 15.01.2009 eine leichte geistige Behinderung an der Grenze zur Lernbehinderung mit Hinweisen auf eine kombinierte Persönlichkeitsstörung sowie ein Leistungsvermögen von täglich unter drei Stunden voraussichtlich über sechs Monate hinaus feststellte. Am selben Tag wurde dem Antragsteller auch der Inhalt des Gutachtens eröffnet.
Mit Bescheid vom 09.02.2009 hob die Antragsgegnerin - insbesondere gestützt auf § 48 Abs.1 S. 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) - die Entscheidung über die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes mit Wirkung vom 01.03.2009 auf, da die Erwerbsfähigkeit des Antragstellers weggefallen sei. In seinem am 25.02.2009 dagegen eingelegten - bisher nicht beschiedenen - Widerspruch erachtete sich der Antragsteller selbst für voll erwerbsfähig und bat um Fortzahlung der Leistungen.
Am 27.02.2009 beantragte der Antragsteller die Weiterbewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes, welches die Antragsgegnerin mit - bislang nicht ausdrücklich angefochtenem - Bescheid vom 04.03.2009 mangels Erwerbsfähigkeit des Antragstellers ablehnte.
Mit Beschluss vom 12.05.2009 gab das Sozialgericht (SG) dem auf Fortzahlung der Leistungen über den 28.02.2009 hinaus gerichteten Eilantrag des Antragstellers vom 09.04.2009 insoweit statt, als es die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 25.02.2009 anordnete. Der Bescheid vom 09.02.2009 sei offensichtlich rechtswidrig, da die Antragsgegnerin - entgegen den Anforderungen des § 45 SGBX i.V.m. §§ 40 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II, 330 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung (SGB III) ohne Ermessensausübung den Bewilligungsbescheid vom 16.12.2008 für die Zukunft aufgehoben habe. Dieser Bewilligungsbescheid wiederum sei von Anfang an rechtswidrig gewesen, da die Erwerbsfähigkeit des Antragstellers bereits bei dessen Erlass nicht mehr vorgelegen habe, was lediglich durch das medizinische Gutachten aus Januar 2009 festgestellt worden sei. Eine Annexentscheidung nach § 86 b Abs. 1 S. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) (Aufhebung der Vollziehung des Bescheides vom 09.02.2009 durch Auszahlung als Befolgung der ursprünglichen Leistungsbewilligung) traf das SG nicht.
Da die Antragsgegnerin die Zahlung der Leistung nicht wieder aufnahm, beantragte der Antragsteller am 15.05.2009 die Vollstreckung aus diesem Beschluss.
Zur Begründung der gegen den Beschluss des SG gerichteten Beschwerde vom 20.05.2009 trägt die Antragsgegnerin vor, sie habe zwar bereits seit Ende Oktober 2005 Zweifel an der Erwerbsfähigkeit des Antragstellers gehabt, insbesondere im Hinblick auf das zu einer vollen Leistungsfähigkeit kommende medizinische Gutachten aus 2007 habe die Erwerbsunfähigkeit des Antragstellers für sie aber erst nach Kenntniserlangung des aktuellen Gutachtens des Sozialpsychiatrischen Dienstes Anfang Februar 2009 festgestanden. Zugleich beantragt sie die Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Beschlusses, welche der Senat mit Beschluss vom 28.05.2009 vorläufig angeordnet hat.
Zwischenzeitlich hatte das SG in einem weiteren Eilverfahren des Antragstellers (Az. 20 AS 146/09 ER) die Auszahlung der mit Bescheid vom 16.12.2009 bewilligten Leistungen für die Zeit ab dem 01.03.2009 bis zu einer Beschwerdeentscheidung in der hier anhängigen Sache oder einer Entscheidung über den Aussetzungsantrag der Antragsgegnerin angeordnet (Beschluss vom 25.05.2009). Dem ist die Antragsgegnerin - einschließlich der Zahlung für den ganzen Monat Mai 2009 - nachgekommen. Mit Beschluss vom 26.05.2009 lehnte das SG den Vollstreckungsantrag vom 15.05.2009 sodann ab.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und der übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Antragsgegnerin Bezug genommen.
II. Die Beschwerde der Antragsgegnerin ist begründet. Zu Unrecht hat das SG dem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs vom 25.02.2009 gegen den Aufhebungsbescheid vom 09.02.2009 stattgegeben.
Der - durch Auslegung des Eilbegehrens sinngemäße - Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs vom 25.02.2009 gegen den Aufhebungsbescheid vom 09.02.2009 ist gemäß § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG zulässig. Der betreffende Widerspruch hat gemäß § 86 a Abs. 2 Nr. 4 SGG i. V. m. § 39 Nr. 1 SGB II keine aufschiebende Wirkung. Der angefochtene Bescheid entscheidet über eine Leistung der Grundsicherung für Arbeitssuchende. Er hebt die mit Bescheid vom 16.12.2008 erfolgte Bewilligung der Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhaltes für die Monate März bis einschließlich Juni 2009 auf.
Der Antrag ist aber unbegründet. Gemäß § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Weitere Kriterien für das Gebrauchmachen von dieser gerichtlichen Anordnungsbefugnis, insbesondere materiell-rechtlicher Art, sind gesetzlich nicht geregelt. Sie sind durch Auslegung zu gewinnen. Diese ergibt, dass die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs oder einer Anfechtungsklage Ergebnis einer bestimmten Interessenabwägung ist. Die aufschiebende Wirkung eines solchen Rechtsbehelfs ist anzuordnen, wenn im Rahmen der Interessenabwägung dem privaten Aufschubinteresse gegenüber dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes Vorrang gebührt. Bei dieser Interessenabwägung ist insbesondere die - nach summarischer Prüfung der Rechtslage zu bewertende - Erfolgsaussicht des Rechtsbehelfs in der Hauptsache zu berücksichtigen (Keller, in: Meyer-Ladewig, Kommentar zu SGG, 9. Aufl. 2008, § 86 b Rdnr. 12 c m. w. N.). Ferner ist zu beachten, dass der Gesetzgeber in Fällen des § 86 a Abs. 2 Nr. 1 bis 4 SGG das Entfallen der aufschiebenden Wirkung angeordnet und damit grundsätzlich ein überwiegendes Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes geregelt hat. Davon abzuweichen besteht nur Anlass, wenn im konkreten Fall ein überwiegendes privates Aufschubinteresse feststellbar ist. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung muss eine mit gewichtigen Argumenten zu begründende Ausnahme sein (vgl. Keller, a.a.O, Rdnr. 12 a). Eine solche Ausnahme liegt vor, wenn der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist. Ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Vollziehung offensichtlich rechtswidriger Verwaltungsakte ist nicht erkennbar. Ist der Verwaltungsakt offensichtlich rechtmäßig, ist die aufschiebende Wirkung regelmäßig nicht anzuordnen. Sind die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelf nicht abschätzbar, ist eine allgemeine Interessenabwägung durchzuführen. Die grundrechtlichen Belange des Antragstellers sind in die Abwägung einzustellen (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12.05.2005, Aktenzeichen 1 BVR 569/05).
Entgegen der Auffassung des SG ist der angefochtene Aufhebungsbescheid vom 09.02.2009 - nach summarischer Prüfung - offensichtlich rechtmäßig. Zu Recht hat die Antragsgegnerin diesen auf § 48 Abs. 1 SGB X gestützt. Zwar liegt vorliegend kein Fall des § 40 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II i.V.m. §§ 330 Abs. 3 SGB III, 48 Abs. 2 S. 2 SGB X vor. Indes hat die Antragsgegnerin zutreffend eine gebundene Entscheidung getroffen und nach Eintritt einer wesentlichen Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen im Vergleich zur Lage bei Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung diesen mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben. Gemäß § 44 a Abs. 1 S. 1 SGB II ist die Erwerbsfähigkeit vom nach dem SGB II zuständigen Leistungsträger festzustellen. Nach den bis zum Erlass des Bewilligungsbescheides vom 16.12.2008 vorliegenden Erkenntnissen durfte die Antragsgegnerin von der Erwerbsfähigkeit des Antragstellers ausgehen. Zwar hatte sie bei Erlass diese Bescheides Zweifel an der Erwerbsfähigkeit des Antragstellers, ging aber weiterhin - was sich durch die Leistungsbewilligung auch für sechs Monate zeigt - von seiner Erwerbsfähigkeit aus. Mitte Dezember 2008 waren weder medizinische Diagnosen ärztlich, geschweige denn fachärztlich, gestellt, noch lagen aussagekräftige medizinische Stellungnahmen oder Gutachten vor, aus denen sich die Erwerbsunfähigkeit des Antragstellers hätte ergeben können. Lediglich die Einschätzung des Trägers der letzten, vom Antragsteller besuchten Maßnahme ergab kein für die Arbeitsaufnahme auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erforderliches Leistungsvermögen. Dieser empfahl aber zugleich die erneute Einschaltung des Sozialpsychiatrischen Dienst zur Feststellung der Erwerbsfähigkeit. Erst als dieses Gutachten vom 26.01.2009 vorlag, hat sich die Annahme des Fortbestehens der Erwerbsfähigkeit als nicht mehr haltbar erwiesen. Zudem stellt das Gutachten selbst das Leistungsvermögen am Untersuchungstag, dem 15.01.2009, fest und gibt eine Prognose für die Zukunft. Es enthält indes keine - befundlich und diagnostisch - abgesicherten Bewertungen zum Leistungsvermögen des Antragstellers Mitte Dezember 2008. Im Hauptsacheverfahren mag geklärt werden, ob weitere medizinische Unterlagen bestehen, aus denen sich bereits bis Mitte Dezember 2008 ergibt, dass die Annahme des Fortbestehens der Erwerbsfähigkeit keine Stütze mehr findet.
§ 44 a Abs. 1 S. 3 SGB II kommt vorliegend nicht zur Anwendung. Danach erbringt bei Meinungsverschiedenheiten insbesondere zwischen dem SGB II- und dem SGB XII-Leistungsträger über die Erwerbsfähigkeit des Hilfebedürftigen nach Anrufung der gemeinsamen Einigungsstelle der SGB II-Leistungsträger bis zur Entscheidung dieser Stelle Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende. Ob diese Vorschrift auch dann anzuwenden ist, wenn lediglich der Hilfebedürftige selbst seine Erwerbsfähigkeit behauptet, kann letztlich dahin stehen. Sinn und Zweck des § 44 Abs. 1 S. 3 SGB II ist, dass ein Streit zwischen diesen Leistungsträgern nicht auf dem Rücken des Hilfebedürftigen ausgetragen werden soll. Für den Lauf des Verfahrens bei der Einigungsstelle wird die Erwerbsfähigkeit vermutet und besteht die Leistungspflicht des SGB II-Leistungsträgers. Auf diese Weise soll verhindert werden, dass der Hilfebedürftige zwischen allen Stühlen sitzt. Eine solche Konstellation ist vorliegend aber nicht gegeben, da zum einen der SGB XII-Leistungsträger informiert ist (vgl. zu den gegenseitigen Informationspflichten Vor in Estelmann (Hrsg.), §44 a Rdnr. 15) und zum anderen Leistungen auch nicht verweigert. Vielmehr ist es bislang allein dem Verhalten des Antragstellers (Unterlassen der Antragstellung) zuzurechnen, dass dieser vom SGB XII-Leistungsträger keine Leistungen erhält.
Selbst wenn man vorliegend davon ausginge, dass die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs nicht abschätzbar seien, so ergibt eine allgemeine Interessenabwägung nicht, dass dem privaten Aufschubinteresse des Antragstellers Vorrang gegenüber dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Aufhebungsbescheides gebührt. Der Antragsteller hatte und hat es selbst in der Hand, durch Stellung eines Antrags auf Bewilligung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe (SGB XII) solche vorläufig zur Existenzsicherung zu erlangen. Zudem hat er bislang auch keinen Antrag auf Leistungen bei Erwerbsminderung gegenüber dem Rentenversicherungsträger gestellt. Schließlich hat er faktisch die mit Bescheid vom 16.12.2008 bewilligten Leistungen auch für die Zeit vom 01.03.2009 bis zum 31.05.2009 von der Antragsgegnerin erhalten und ist überdies bislang jedenfalls nicht ausdrücklich der weiteren Ablehnungsentscheidung vom 04.03.2009 entgegen getreten.
Da bereits der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs unbegründet ist, mangelt es auch einem Annexantrag (auf Aufhebung der Vollziehung des Bescheides vom 09.02.2009 durch Auszahlung als Befolgung der ursprünglichen Leistungsbewilligung) nach § 86 b Abs. 1 S. 2 SGG an der erforderlichen Erfolgsaussicht. Spätestens der "Vollstreckungsantrag" des Antragstellers vom 15.05.2009 war als ein solcher Annexantrag zu verstehen, über den allein eine Entscheidung des SG angezeigt gewesen wäre. Demgegenüber hätte es weder des Beschlusses vom 25.05.2009 noch desjenigen vom 26.05.2009 bedurft.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.
Der Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
Gründe:
Im Streit steht, ob die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 25.02.2009 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 09.02.2009 (über die Aufhebung bewilligter Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB I)) für die Zukunft) im Wege einstweiligen Rechtsschutzes gerichtlich anzuordnen und zugleich die Aufhebung der Vollziehung dieses Bescheides durch Auszahlung als Befolgung der ursprünglichen Leistungsbewilligung gerichtlich zu verfügen ist.
I. Der Antragsteller stand seit dem 01.01.2005 im laufenden Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II. Nach Abbruch einer Trainingsmaßnahme Ende Oktober 2005 leitete die Antragsgegnerin Ermittlungen zur Feststellung seiner Erwerbsfähigkeit ein. Das der Antragsgegnerin im Mai 2007 vorliegende medizinische Gutachten ergab eine vollschichtige Leistungsfähigkeit des Antragstellers. Nach weiteren erfolglosen Eingliederungsversuchen kam es auf Wunsch des Antragstellers im Oktober 2008 zur Teilnahme an einer Trainingsmaßnahme für psychisch erkrankte Menschen, bei welcher der Antragsteller aus Sicht des Maßnahmeträgers kein für die Arbeitsaufnahme auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erforderliches Leistungsvermögen gezeigt habe. Aufgrund der Empfehlungen des Trägers schaltete die Antragsgegnerin am 15.12.2008 erneut den Sozialpsychiatrischen Dienst zur Feststellung der Erwerbsfähigkeit des Antragstellers ein.
Auf den Fortzahlungsantrag des Antragstellers hin bewilligte die Antragsgegnerin ihm mit Bescheid vom 16.12.2008 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II auch für die Zeit vom 01.01.2009 bis zum 30.06.2009 in Höhe von 536 Euro monatlich.
Am 09.02.2009 erlangte die Antragsgegnerin Kenntnis von dem Gutachten des Amtsarztes Dr. U, Sozialpsychiatrischer Dienst, vom 26.01.2009, welches aufgrund Untersuchung des Antragstellers am 15.01.2009 eine leichte geistige Behinderung an der Grenze zur Lernbehinderung mit Hinweisen auf eine kombinierte Persönlichkeitsstörung sowie ein Leistungsvermögen von täglich unter drei Stunden voraussichtlich über sechs Monate hinaus feststellte. Am selben Tag wurde dem Antragsteller auch der Inhalt des Gutachtens eröffnet.
Mit Bescheid vom 09.02.2009 hob die Antragsgegnerin - insbesondere gestützt auf § 48 Abs.1 S. 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) - die Entscheidung über die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes mit Wirkung vom 01.03.2009 auf, da die Erwerbsfähigkeit des Antragstellers weggefallen sei. In seinem am 25.02.2009 dagegen eingelegten - bisher nicht beschiedenen - Widerspruch erachtete sich der Antragsteller selbst für voll erwerbsfähig und bat um Fortzahlung der Leistungen.
Am 27.02.2009 beantragte der Antragsteller die Weiterbewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes, welches die Antragsgegnerin mit - bislang nicht ausdrücklich angefochtenem - Bescheid vom 04.03.2009 mangels Erwerbsfähigkeit des Antragstellers ablehnte.
Mit Beschluss vom 12.05.2009 gab das Sozialgericht (SG) dem auf Fortzahlung der Leistungen über den 28.02.2009 hinaus gerichteten Eilantrag des Antragstellers vom 09.04.2009 insoweit statt, als es die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 25.02.2009 anordnete. Der Bescheid vom 09.02.2009 sei offensichtlich rechtswidrig, da die Antragsgegnerin - entgegen den Anforderungen des § 45 SGBX i.V.m. §§ 40 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II, 330 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung (SGB III) ohne Ermessensausübung den Bewilligungsbescheid vom 16.12.2008 für die Zukunft aufgehoben habe. Dieser Bewilligungsbescheid wiederum sei von Anfang an rechtswidrig gewesen, da die Erwerbsfähigkeit des Antragstellers bereits bei dessen Erlass nicht mehr vorgelegen habe, was lediglich durch das medizinische Gutachten aus Januar 2009 festgestellt worden sei. Eine Annexentscheidung nach § 86 b Abs. 1 S. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) (Aufhebung der Vollziehung des Bescheides vom 09.02.2009 durch Auszahlung als Befolgung der ursprünglichen Leistungsbewilligung) traf das SG nicht.
Da die Antragsgegnerin die Zahlung der Leistung nicht wieder aufnahm, beantragte der Antragsteller am 15.05.2009 die Vollstreckung aus diesem Beschluss.
Zur Begründung der gegen den Beschluss des SG gerichteten Beschwerde vom 20.05.2009 trägt die Antragsgegnerin vor, sie habe zwar bereits seit Ende Oktober 2005 Zweifel an der Erwerbsfähigkeit des Antragstellers gehabt, insbesondere im Hinblick auf das zu einer vollen Leistungsfähigkeit kommende medizinische Gutachten aus 2007 habe die Erwerbsunfähigkeit des Antragstellers für sie aber erst nach Kenntniserlangung des aktuellen Gutachtens des Sozialpsychiatrischen Dienstes Anfang Februar 2009 festgestanden. Zugleich beantragt sie die Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Beschlusses, welche der Senat mit Beschluss vom 28.05.2009 vorläufig angeordnet hat.
Zwischenzeitlich hatte das SG in einem weiteren Eilverfahren des Antragstellers (Az. 20 AS 146/09 ER) die Auszahlung der mit Bescheid vom 16.12.2009 bewilligten Leistungen für die Zeit ab dem 01.03.2009 bis zu einer Beschwerdeentscheidung in der hier anhängigen Sache oder einer Entscheidung über den Aussetzungsantrag der Antragsgegnerin angeordnet (Beschluss vom 25.05.2009). Dem ist die Antragsgegnerin - einschließlich der Zahlung für den ganzen Monat Mai 2009 - nachgekommen. Mit Beschluss vom 26.05.2009 lehnte das SG den Vollstreckungsantrag vom 15.05.2009 sodann ab.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und der übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Antragsgegnerin Bezug genommen.
II. Die Beschwerde der Antragsgegnerin ist begründet. Zu Unrecht hat das SG dem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs vom 25.02.2009 gegen den Aufhebungsbescheid vom 09.02.2009 stattgegeben.
Der - durch Auslegung des Eilbegehrens sinngemäße - Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs vom 25.02.2009 gegen den Aufhebungsbescheid vom 09.02.2009 ist gemäß § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG zulässig. Der betreffende Widerspruch hat gemäß § 86 a Abs. 2 Nr. 4 SGG i. V. m. § 39 Nr. 1 SGB II keine aufschiebende Wirkung. Der angefochtene Bescheid entscheidet über eine Leistung der Grundsicherung für Arbeitssuchende. Er hebt die mit Bescheid vom 16.12.2008 erfolgte Bewilligung der Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhaltes für die Monate März bis einschließlich Juni 2009 auf.
Der Antrag ist aber unbegründet. Gemäß § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Weitere Kriterien für das Gebrauchmachen von dieser gerichtlichen Anordnungsbefugnis, insbesondere materiell-rechtlicher Art, sind gesetzlich nicht geregelt. Sie sind durch Auslegung zu gewinnen. Diese ergibt, dass die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs oder einer Anfechtungsklage Ergebnis einer bestimmten Interessenabwägung ist. Die aufschiebende Wirkung eines solchen Rechtsbehelfs ist anzuordnen, wenn im Rahmen der Interessenabwägung dem privaten Aufschubinteresse gegenüber dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes Vorrang gebührt. Bei dieser Interessenabwägung ist insbesondere die - nach summarischer Prüfung der Rechtslage zu bewertende - Erfolgsaussicht des Rechtsbehelfs in der Hauptsache zu berücksichtigen (Keller, in: Meyer-Ladewig, Kommentar zu SGG, 9. Aufl. 2008, § 86 b Rdnr. 12 c m. w. N.). Ferner ist zu beachten, dass der Gesetzgeber in Fällen des § 86 a Abs. 2 Nr. 1 bis 4 SGG das Entfallen der aufschiebenden Wirkung angeordnet und damit grundsätzlich ein überwiegendes Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes geregelt hat. Davon abzuweichen besteht nur Anlass, wenn im konkreten Fall ein überwiegendes privates Aufschubinteresse feststellbar ist. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung muss eine mit gewichtigen Argumenten zu begründende Ausnahme sein (vgl. Keller, a.a.O, Rdnr. 12 a). Eine solche Ausnahme liegt vor, wenn der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist. Ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Vollziehung offensichtlich rechtswidriger Verwaltungsakte ist nicht erkennbar. Ist der Verwaltungsakt offensichtlich rechtmäßig, ist die aufschiebende Wirkung regelmäßig nicht anzuordnen. Sind die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelf nicht abschätzbar, ist eine allgemeine Interessenabwägung durchzuführen. Die grundrechtlichen Belange des Antragstellers sind in die Abwägung einzustellen (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12.05.2005, Aktenzeichen 1 BVR 569/05).
Entgegen der Auffassung des SG ist der angefochtene Aufhebungsbescheid vom 09.02.2009 - nach summarischer Prüfung - offensichtlich rechtmäßig. Zu Recht hat die Antragsgegnerin diesen auf § 48 Abs. 1 SGB X gestützt. Zwar liegt vorliegend kein Fall des § 40 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II i.V.m. §§ 330 Abs. 3 SGB III, 48 Abs. 2 S. 2 SGB X vor. Indes hat die Antragsgegnerin zutreffend eine gebundene Entscheidung getroffen und nach Eintritt einer wesentlichen Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen im Vergleich zur Lage bei Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung diesen mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben. Gemäß § 44 a Abs. 1 S. 1 SGB II ist die Erwerbsfähigkeit vom nach dem SGB II zuständigen Leistungsträger festzustellen. Nach den bis zum Erlass des Bewilligungsbescheides vom 16.12.2008 vorliegenden Erkenntnissen durfte die Antragsgegnerin von der Erwerbsfähigkeit des Antragstellers ausgehen. Zwar hatte sie bei Erlass diese Bescheides Zweifel an der Erwerbsfähigkeit des Antragstellers, ging aber weiterhin - was sich durch die Leistungsbewilligung auch für sechs Monate zeigt - von seiner Erwerbsfähigkeit aus. Mitte Dezember 2008 waren weder medizinische Diagnosen ärztlich, geschweige denn fachärztlich, gestellt, noch lagen aussagekräftige medizinische Stellungnahmen oder Gutachten vor, aus denen sich die Erwerbsunfähigkeit des Antragstellers hätte ergeben können. Lediglich die Einschätzung des Trägers der letzten, vom Antragsteller besuchten Maßnahme ergab kein für die Arbeitsaufnahme auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erforderliches Leistungsvermögen. Dieser empfahl aber zugleich die erneute Einschaltung des Sozialpsychiatrischen Dienst zur Feststellung der Erwerbsfähigkeit. Erst als dieses Gutachten vom 26.01.2009 vorlag, hat sich die Annahme des Fortbestehens der Erwerbsfähigkeit als nicht mehr haltbar erwiesen. Zudem stellt das Gutachten selbst das Leistungsvermögen am Untersuchungstag, dem 15.01.2009, fest und gibt eine Prognose für die Zukunft. Es enthält indes keine - befundlich und diagnostisch - abgesicherten Bewertungen zum Leistungsvermögen des Antragstellers Mitte Dezember 2008. Im Hauptsacheverfahren mag geklärt werden, ob weitere medizinische Unterlagen bestehen, aus denen sich bereits bis Mitte Dezember 2008 ergibt, dass die Annahme des Fortbestehens der Erwerbsfähigkeit keine Stütze mehr findet.
§ 44 a Abs. 1 S. 3 SGB II kommt vorliegend nicht zur Anwendung. Danach erbringt bei Meinungsverschiedenheiten insbesondere zwischen dem SGB II- und dem SGB XII-Leistungsträger über die Erwerbsfähigkeit des Hilfebedürftigen nach Anrufung der gemeinsamen Einigungsstelle der SGB II-Leistungsträger bis zur Entscheidung dieser Stelle Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende. Ob diese Vorschrift auch dann anzuwenden ist, wenn lediglich der Hilfebedürftige selbst seine Erwerbsfähigkeit behauptet, kann letztlich dahin stehen. Sinn und Zweck des § 44 Abs. 1 S. 3 SGB II ist, dass ein Streit zwischen diesen Leistungsträgern nicht auf dem Rücken des Hilfebedürftigen ausgetragen werden soll. Für den Lauf des Verfahrens bei der Einigungsstelle wird die Erwerbsfähigkeit vermutet und besteht die Leistungspflicht des SGB II-Leistungsträgers. Auf diese Weise soll verhindert werden, dass der Hilfebedürftige zwischen allen Stühlen sitzt. Eine solche Konstellation ist vorliegend aber nicht gegeben, da zum einen der SGB XII-Leistungsträger informiert ist (vgl. zu den gegenseitigen Informationspflichten Vor in Estelmann (Hrsg.), §44 a Rdnr. 15) und zum anderen Leistungen auch nicht verweigert. Vielmehr ist es bislang allein dem Verhalten des Antragstellers (Unterlassen der Antragstellung) zuzurechnen, dass dieser vom SGB XII-Leistungsträger keine Leistungen erhält.
Selbst wenn man vorliegend davon ausginge, dass die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs nicht abschätzbar seien, so ergibt eine allgemeine Interessenabwägung nicht, dass dem privaten Aufschubinteresse des Antragstellers Vorrang gegenüber dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Aufhebungsbescheides gebührt. Der Antragsteller hatte und hat es selbst in der Hand, durch Stellung eines Antrags auf Bewilligung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe (SGB XII) solche vorläufig zur Existenzsicherung zu erlangen. Zudem hat er bislang auch keinen Antrag auf Leistungen bei Erwerbsminderung gegenüber dem Rentenversicherungsträger gestellt. Schließlich hat er faktisch die mit Bescheid vom 16.12.2008 bewilligten Leistungen auch für die Zeit vom 01.03.2009 bis zum 31.05.2009 von der Antragsgegnerin erhalten und ist überdies bislang jedenfalls nicht ausdrücklich der weiteren Ablehnungsentscheidung vom 04.03.2009 entgegen getreten.
Da bereits der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs unbegründet ist, mangelt es auch einem Annexantrag (auf Aufhebung der Vollziehung des Bescheides vom 09.02.2009 durch Auszahlung als Befolgung der ursprünglichen Leistungsbewilligung) nach § 86 b Abs. 1 S. 2 SGG an der erforderlichen Erfolgsaussicht. Spätestens der "Vollstreckungsantrag" des Antragstellers vom 15.05.2009 war als ein solcher Annexantrag zu verstehen, über den allein eine Entscheidung des SG angezeigt gewesen wäre. Demgegenüber hätte es weder des Beschlusses vom 25.05.2009 noch desjenigen vom 26.05.2009 bedurft.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.
Der Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
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