L 19 AS 1129/09 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
19
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 53 AS 13039/09 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 19 AS 1129/09 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Bemerkung
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 10. Juni 2009 aufgehoben.

Der Hilfsantrag, die Beigeladene zu verpflichten, das der Frau R A B M bezüglich der Antragstellerin gezahlte Kindergeld nicht als Einkommen bei der Ermittlung von deren Grundsicherung nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) anzurechnen, wird abgelehnt.

Außergerichtliche Kosten des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens beider Rechtszüge sind nicht zu erstatten.

Der Antrag des Antragsgegners auf Aussetzung der Vollstreckung aus dem Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 10. Juni 2009 wird abgelehnt.

Außergerichtlichen Kosten für das Vollstreckungsaussetzungsverfahren sind nicht zu erstatten.

Der Antragstellerin wird für die Durchführung des Beschwerdeverfahrens Prozesskostenhilfe ohne Anordnung einer Zahlungsbestimmung gewährt und Rechtsanwalt I S, Wstr., B, beigeordnet.

Gründe:

I.

Streitig ist die Anrechnung von Kindergeld.

Die 1984 geborene Antragstellerin bezieht Berufsausbildungsbeihilfe (BAB) in Höhe von monatlich 285 EUR für die Zeit vom 5. November 2008 bis 3. September 2009 (Bescheid der Agentur für Arbeit B M vom 19. November 2008), wovon 212 EUR auf ihre laufenden Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch - Zweites Buch - (SGB II) als Einkommen angerechnet werden, und lebt mit weiteren Personen im Haushalt ihrer 1943 geborenen Mutter R A B M.

Die Mutter bezieht laufend Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) vom Beigeladenen. Der Beigeladene rechnet das bezüglich der Antragstellerin an die kindergeldberechtigte Mutter gezahlte Kindergeld als Einkommen der Mutter an und will dies auch zukünftig tun. Ein hiergegen gerichteter Antrag auf einstweilige Anordnung vom 22. Januar 2009 blieb erfolglos (Beschluss vom 29. Januar 2009 - S 47 SO 142/09 ER - Berlin; rechtskräftig). Der Antragsgegner bewilligte der Antragstellerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (nur Kosten für Unterkunft und Heizung - KdU -) mit Bescheid vom 10. November 2008 in der Fassung des Bescheides vom 30. Januar 2009 und vom 23. März 2008 für die Zeit vom 1. bis 30. April 2009 in Höhe von 77,63 EUR sowie mit Bescheid vom 14. April 2009 in der Fassung des Bescheides vom 18. Mai 2009 (Änderung Mietanteil) für die Zeit vom 1. Mai bis 30. Juni 2009 in Höhe von monatlich 77,63 EUR sowie für die Zeit vom 1. Juli bis 31. Oktober 2009 in Höhe von 57,28 EUR monatlich und berücksichtigte dabei das bezüglich der Antragstellerin ihrer Mutter gezahlte Kindergeld in Höhe von 164 EUR als Einkommen der Antragstellerin. Gegen den Bescheid vom 14. April 2009 hat die Antragstellerin Widerspruch unter dem 28. April 2009 eingelegt, der bisher nicht entschieden ist. Das Sozialgericht (SG) Berlin hat mit Beschluss vom 10. Juni 2009 auf den am 28. April 2009 bei dem SG eingegangen Antrag den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Bescheid vom 14. April 2009 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 18. Mai 2009 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 6. Juni 2009 abzuändern und der Antragstellerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts vorläufig ohne die Anrechnung von Kindergeld zu gewähren. Die Mutter und die Antragstellerin bildeten gemäß § 7 Abs. 3 Nr. 2 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) eine Bedarfsgemeinschaft. Allein für sich betrachtet erfolge gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 SGB II die Anrechnung des Kindergeldes bei der Antragstellerin zu Recht. Die Regelung des § 82 SGB XII sei jedoch gegenüber § 11 Abs. 1 Satz 3 SGB II vorrangig anzuwenden, weil das Kindergeld nach dem Einkommenssteuergesetz (EStG) eine an den Kindergeldberechtigten gezahlte und diesem zustehende Leistung sei. Es erfolge auch keine Weiterleitung des Kindergeldes an die Antragstellerin.

Gegen den Beschluss hat der Antragsgegner am 24. Juni 2009 Beschwerde eingelegt und zur Begründung ausgeführt: Die Antragstellerin und ihre Mutter lebten in einer gemischten Bedarfsgemeinschaft. Die Norm des § 11 Abs. 1 Satz 3 SGB II in der ab 1. Juli 2006 geltenden Fassung (nF) sei vom SG nicht beachtet worden. Danach sei das Kindergeld bei Personen bis 25 Jahren auf deren Bedarf anzurechnen. Nur in den Fällen, in denen das Kind seinen eigenen Bedarf selbst decken könne, greife der sozialhilferechtliche Grundsatz, dass der bezugsberechtigte hilfebedürftige Elternteil das Kindergeld zur Sicherung seines Existenzminimums einsetzen müsse. Das Bundessozialgericht (BSG) habe im Urteil vom 8. Februar 2007 (B 9b SO 5/06 R) die Möglichkeit einer dieser allgemeinen sozialhilferechtlichen Zuordnung vorgehenden Zurechnung kraft Gesetzes bestätigt.

Der Antragsgegner beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 10. Juni 2009 aufzuheben.

Die Antragstellerin hat am 3. Juli 2009 bei dem SG einen Antrag nach § 201 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf Festsetzung eines Zwangsgeldes gestellt.

Daraufhin hat der Antragsgegner am 8. Juli 2009 des Weiteren beantragt,

die Vollstreckung aus dem Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 10. Juni 2006 auszusetzen.

Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,

die Beschwerde zurückzuweisen,

hilfsweise die Beigeladene zu verpflichten, das bezüglich der Antragstellerin gezahlte Kindergeld nicht als Einkommen bei der Ermittlung der Leistung ihrer Mutter, Frau R M, nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) anzurechnen,

den Antrag, die Vollstreckung aus dem Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 10. Juni 2006 auszusetzen, abzulehnen, und

ihr Prozesskostenhilfe für die Durchführung des Beschwerdeverfahrens unter Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten zu gewähren.

Die Regelung des § 11 Abs.1 S.3 SGB II stelle nur eine Regelung innerhalb des Systems der Grundsicherung für Arbeitssuchende dar. Hingegen treffe § 82 SGB XII für das dortige Regelwerk eine andere Lösung dahingehend, dass nur das Kindergeld für minderjährige Kinder diesem als Einkommen zuzurechnen sei. Mit dem SG ist sie der Auffassung, dass § 11Abs.1 S. 3 SGB II nicht die speziellere Norm sei.

Der Beigeladene beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Er ist der Rechtsauffassung der Antragstellerin.

Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf deren vorbereitende Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.

Die Gerichtsakte, die Verwaltungsakten des Antragsgegners und des Beigeladenen sowie die Gerichtsakte des SG Berlin zum Verfahren S 47 SO 142/09 ER haben vorgelegen und sind Gegenstand der Beratung gewesen.

II.

Die fristgerecht erhobene Beschwerde ist zulässig. Der Beschwerdewert (6 x 164 EUR) übersteigt den Betrag von 750 EUR nach § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG iVm § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG.

Die Beschwerde ist auch begründet.

Die Voraussetzung für den Erlass der von der Antragstellerin begehrten Regelungsanordnung nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG liegen für den mit Bescheid vom 14. April 2009 in der Fassung des Bescheides vom 18. Mai 2009 verlautbarten Leistungszeitraum vom 1. Mai bis 31. Oktober 2009 nicht vor. Der Tenor des angefochtenen Beschlusses war unter Heranziehung der Gründe und der im Tenor genannten Bescheide des Antragsgegners dahin auszulegen, dass das SG nur eine vorläufige Regelung für diesen Bewilligungsabschnitt getroffen hat.

Bei der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG nur gebotenen summarischen Prüfung ist der Anordnungsanspruch (Anspruch der Hauptsache) nicht glaubhaft gemacht. Der Antragsgegner ist gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 SGB II nF befugt, das an die kindergeldberechtigte Mutter gezahlte Kindergeld für die Antragstellerin in Höhe von monatlich 164 EUR als Einkommen der Antragstellerin anzurechnen.

Die Antragstellerin ist Leistungsberechtigte nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB und lebt mit ihrer Mutter in einer gemischten Bedarfsgemeinschaft. Denn die Mutter hat die Altersgrenze nach §§ 7 Abs. 1 Satz Nr. 1, 7a SGB II (Vollendung 65. Lebensjahr) erreicht. Der Anspruch der Antragstellerin auf Leistungen ist trotz des Bezuges von BAB bei summarischer Prüfung gemäß § 7 Abs. 5 Satz 1 und Abs. 6 Nr. 2 SGB II nicht ausgeschlossen. Denn ihr Bedarf bemisst sich nach § 66 Abs. 1 Satz 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch, weil sie während des Besuchs der berufsfördernden Leistungen im Haushalt eines Elternteils untergebracht ist.

Steuerrechtlich steht nach § 62 EStG der Anspruch auf Kindergeld für die Antragstellerin der Mutter als Kindergeldberechtigte zu. Die Mutter erhält das Kindergeld auch tatsächlich ausgezahlt (siehe Bescheinigung der Familienkasse vom 2. März 2009) und leitet es nicht an die Antragstellerin weiter. Vielmehr wirtschaften die Mitglieder des Haushaltes aus einem Topf (siehe Niederschrift über die nichtöffentliche Sitzung am 9. Juli 2009).

Bis 30. Juni 2006 galt nach § 11 Abs. 1 Satz 2 und 3 SGB II aF, dass das an den kindergeldberechtigten Elternteil ausgezahlte Kindergeld eines in häuslicher Gemeinschaft lebenden volljährigen Kindes dem Kindergeldberechtigten als Einkommen zuzurechnen ist (vgl. BSG, Urteil vom 6. Dezember 2007, B 14/7b AS 54/06 R, veröffentlicht in juris). Für die Sozialhilfe hatte das BSG dem entsprechend mit Urteil vom 11. Dezember 2007(B 8/9b SO 23/06 R, veröffentlicht in juris) entschieden, dass Kindergeld sozialhilferechtlich grundsätzlich Einkommen dessen ist, an den es als Leistungs- oder Abzweigungsberechtigten ausgezahlt wird. § 11 Abs. 1 Satz 3 SGB II aF entsprach § 82 Abs. 1 Satz 2 SGB XII.

Mit der Neufassung des § 11 Abs. 1 Satz 3 SGB II mit Wirkung ab 1. Juli 2006 durch Gesetz vom 30. März 2006 (BGBl. I 558) ist eine wesentliche Änderung eingetreten. Danach ist gemäß § 11 Abs. 1 Satz 2 und 3 SGB II Kindergeld als Einkommen dem zur Bedarfsgemeinschaft gehörenden Kind zuzurechnen, soweit es bei dem jeweiligen Kind zur Sicherung des Lebensunterhalts benötigt wird. Dies ist hier der Fall. Denn dem Bedarf der Antragstellerin in Höhe von monatlich 423,63 EUR (403,28 EUR ab 1. Juli 2009) steht (mit Kindergeld) ein zu berücksichtigendes Gesamteinkommen in Höhe von monatlich 346 EUR gegenüber (siehe Bescheide vom 14. April und 18. Mai 2009).

Aus dem eindeutigen Wortlaut des § 11 Abs. 1 Satz 3 SGB II nF und der Systematik zu § 82 Abs. 1 Satz 2 SGB XII ergibt sich, dass die Anrechnungsvorschrift des § 11 Abs. 1 Satz 3 SGB II hinsichtlich der Berücksichtigung des Kindergeldes eine Ausnahme zu der sozialhilferechtlichen Zurechnung von Kindergeld nach § 82 SGB XII bildet (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 28. Februar 2008, L 25 AS 946/06, veröffentlicht in juris; das hierzu ergangene Urteil des BSG vom 13. Mai 2009, B 4 AS 39/08 R, ist noch nicht veröffentlicht und auch noch nicht im Volltext auf der Internetseite des BSG abrufbar). Dieser Sichtweise steht nicht § 82 Abs. 1 SGB XII entgegen. Denn auch für die Berücksichtigung von Kindergeld als Einkommen des Kindergeldberechtigten ist Voraussetzung, dass es sich um "bereite Mittel" handelt, also Einkommen, das dem Bedürftigen auch tatsächlich oder normativ zur Verfügung steht (vgl. BSG, Urteil vom 11. Dezember 2007, B 8/9b SO 23/06 R, aaO, unter Bezugnahme auf BVerwGE 55, 148 ff). In den Fällen des § 11 Abs. 1 Satz 3 SGB II nF steht den Berechtigten, hier der Mutter, das Kindergeld gerade normativ nicht (mehr) zu. Da das Kindergeld bei dem Kind nur anrechenbar ist, "soweit" es zur Sicherung des Lebensunterhalts benötigt wird, sind jedoch auch Konstellationen möglich, in denen das Kindergeld ganz oder teilweise nach § 82 Abs. 1 SGB XII bei den Kindergeldberechtigten als Einkommen berücksichtigt wird.

Die Voraussetzungen für die Nichtberücksichtigung des Kindergeldes als Einkommen nach § 13 SGB II iVm § 1 Nr. 8 Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung sind nicht erfüllt. Denn diese Regelung gilt nur für nicht im Haushalt lebende volljährige Kinder.

Dem Hilfsantrag der Antragstellerin war nicht zu entsprechen. Es bedarf keiner Beurteilung, ob der Senat hierüber - abweichend von § 29 Abs. 1 SGG - im Beschwerdeverfahren überhaupt in zulässiger Weise entscheiden kann, was die Sachdienlichkeit der Erweiterung des ursprünglichen Begehrens im Wege der unselbständigen Anschlussbeschwerde (vgl. dazu BSGE 24, 247) oder die Einwilligung der Beteiligten hierin voraussetzte (§ 99 Abs. 1 SGG analog). Denn für die Dauer der im Bescheid des Beigeladenen vom 18. Februar 2009 verlautbarten Bewilligung von Grundsicherungsleistungen (1. Juli 2008 bis 30. Juni 2009) hat das SG Berlin mit rechtskräftigem Beschluss vom 29. Januar 2009 die Gewährung von höheren Leistungen nach dem SGB XII an die Mutter der Antragstellerin abgelehnt. Die Rechtskraft dieser Entscheidung (§ 141 SGG) ist auch bei der Entscheidung des Senats über das Begehren der Antragstellerin zu berücksichtigen (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage, § 142 Rn. 3b). Für die Zeit ab 1. Juli 2009 ist gegenwärtig weder dargetan noch sonst ersichtlich, dass der Mutter der Antragstellerin durch die Anrechnung des Kindergeldes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die durch ein Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären. Sollte der Beigeladene seine nach Ansicht des Senats rechtswidrige Anrechnung des Kindergeldes auf den Leistungsanspruch der Mutter fortsetzten, könnte dieser Umstand Veranlassung geben, erneut um einstweiligen Rechtsschutz hinsichtlich der Höhe des Leistungsanspruchs des Mutter nachzusuchen, falls der Beigeladene seine Praxis der Anrechnung ihr gegenüber im Lichte dieses Beschlusses aufrecht erhält.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Mit der Entscheidung über die Beschwerde bedarf es keiner Entscheidung über den Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung nach § 199 Abs. 2 SGG mehr. Der Antrag war daher abzulehnen.

Die Kostenentscheidung für das Aussetzungsverfahren beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Für die Durchführung des Beschwerdeverfahrens war der - bedürftigen - Antragstellerin Prozesskostenhilfe ohne Rücksicht auf hinreichende Erfolgsaussicht zu gewähren, da der Gegner das Rechtsmittel der Beschwerde eingelegt hatte (§ 73 a Abs.1 S.1 SGG i.V.m. §119 Abs.1 S.2 Zivilprozessordnung).

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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