S 11 KA 430/09 ER

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Marburg (HES)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
11
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 11 KA 430/09 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 KA 77/09 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Der Honorarvertrag 2009, abgeschlossen von den Parnern der Gesamtverträge ist im Hinblick auf die Zuweisung von Regelleistungsvolumina für unterdurchschnittlich abrechnende Praxen lückenhaft.
2. Die entstandene Lücke ist durch die vom BSG entwickelten Grundsätze über Wachstumsmöglichkeiten für unterdurchschnittlich abrechnende Praxen auszufüllen.
3. Solange der Honorarvertrag 2009 keine spezifischen Regelungen für das Wachstum unterdurchschnittlich abrechnender Praxen enthält, sind diesen Praxen nach den allgemeinen Grundsätzen Regelleistungsvolumina in Höhe des Durchschnitts der Fachgruppe zuzubilligen.
Es wird festgestellt, dass der Antragsstellerin ab dem Zeitpunkt des Vorliegens der Abrechnungsgenehmigung für die betriebenen Geräte das Recht zusteht, Leistungen im Fachgebiet der Radiologie bis zur Höhe des Fachgruppendurchschnitts vergütet zu erhalten.

Im Übrigen wird der Antrag zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin trägt die Gerichtskosten sowie die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.

Gründe:

I

Die Beteiligten streiten im Rahmen des einstweiligen Anordnungsverfahrens über die Höhe des zugewiesenen Regelleistungsvolumens.

Die Klägerin ist eine radiologische Gemeinschaftspraxis mit Vorhaltung von CT und MRT und seit dem 1.1.2008 in der Zusammensetzung Frau Dr. D, Herr Dr. E und Herr Dr. F zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen. Die Dres. E und F betrieben gemeinsam schon seit 2004 eine Praxis an unterschiedlichen Standorten, Frau Dr. D kam im Januar 2008 dazu. Praxissitz der neuen Gemeinschaftspraxis ist A-Stadt. Nach einigen zeitlichen Verzögerungen hat die Antragstellerin ihre Praxisräume – für die Investitionen in einer Größenordnung von 6,5 Mio. EUR getätigt wurden – nunmehr fertig gestellt und ihre Tätigkeit aufgenommen. Für die betriebenen Geräte liegt bisher noch keine Abrechnungsgenehmigung vor. Diese ist jedoch in den nächsten Tagen zu erwarten. Grundlage der Investitionsentscheidung der Antragstellerin war ein Schreiben der Antragsgegnerin vom 02.10.2007, mit folgendem Wortlaut: "Grundsätzlich muss ich erwähnen, dass eine verbindliche Aussage bezüglich der Honorarverteilung im Jahr 2008 nicht möglich ist Somit kann ich nur Angaben machen, wie die Honorarverteilung aussehen würde, wenn sich an den jetzigen Bedingungen nichts grundlegend ändern würde Mit dem 1. Quartal 2008 erlischt Ihr Status "Junge Praxis". Dies bedeutet, dass Sie im Rahmen der Fallzahlbegrenzungsregelung an Ihren eigenen Fallzahlen aus gewissen Vorquartalen gemessen werden (sofern solche vorliegen). Letztendlich haben Sie jedoch immer Anspruch auf die durchschnittliche Fallzahl Ihrer Fachgruppe "

Mit Bescheid vom 09.06.2009 erhielt die Antragstellerin zudem die Genehmigung, eine Zweigpraxis in C-Stadt zu betreiben.

Die Antragsgegnerin wies der Antragstellerin auf der Grundlage der Fallzahlen aus dem Jahr 2008 mit Bescheid vom 27.05.2009 ein Regelleistungsvolumen in Höhe von 3.700,09 EUR für das Quartal III/09 zu. Die Beklagte hat dabei auf Grundlage des neuen Honorarvertrages eine Addition der RLV aller drei Ärzte vorgenommen. Aus verschiedenen Gründen haben die Ärzte der Antragstellerin im Jahr 2008 nur in sehr eingeschränktem Umfang ihre vertragsärztliche Tätigkeit ausgeübt. Sie waren im privatärztlichen Bereich tätig und haben Praxisvertretungen übernommen. Gegen den Bescheid hat die Antragstellerin Widerspruch eingelegt. Auch für die vorausgegangenen Quartale, in denen die neue Gemeinschaftspraxis jedoch noch nicht betrieben wurde, ist die Antragsgegnerin entsprechend vorgegangen und hat der Antragstellerin für das Quartal I/09 ein Regelleistungsvolumen von 19.870,12EUR und für das Quartal II/09 ein Regelleistungsvolumen von 1.479,44EUR zugebilligt. Gegen die entsprechenden Bescheide läuft jeweils das Widerspruchsverfahren.

Mit Schreiben vom 13.01.2009 beantragt der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin zudem, der Antragstellerin ein Regelleistungsvolumen zuzubilligen, das dem Fachgruppendurchschnitt bezogen auf das Leistungsspektrum der Praxis mit Vorhaltung von MRT und CT entspricht. Dieser als Antrag auf Sonderregelung zu bewertende Antrag wurde seitens der Antragsgegnerin bis heute nicht beschieden.

Gegen die Zuweisung des Regelleistungsvolumens ab dem Quartal III/09 wendet sich die Antragstellerin nun im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes mit Antrag vom 20.07.2009.

Sie trägt vor, dass das Schreiben der Antragsgegnerin vom 02.10.2007 als Zusicherung zu verstehen sei, die einen Anspruch auf Wachstum bis zum Fachgruppendurchschnitt beinhalte. Darüber hinaus handele es sich um eine Neugründung, der man insofern das Attribut der "Jungen Praxis" zugestehen müsse. Das untergesetzliche Regelwerk bestehend aus dem Beschluss des Bewertungsausschusses vom 27./28.8.2008 und dessen Umsetzung durch den Honorarvertrag 2009 enthalte zudem eine Regelungslücke im Hinblick auf die Behandlung von unterdurchschnittlich abrechnenden Praxen. Diese Lücke sei durch die Rechtsprechung des BSG zu den Anforderungen von Art. 12 i. V. m. Art. 3 GG sowie den Grundsätze der Honorarverteilungsgerechtigkeit zu schließen.

Die Antragstellerin beantragt,
festzustellen, dass ihr das Recht zusteht, Leistungen im Fachgebiet der Radiologie ab dem 3. Quartal 2009 bis zur Höhe des Fachgruppendurchschnitts vergütet zu erhalten.

Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.

Sie hält eine Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutz für nicht möglich. Zunächst gehe es um eine Ermessensentscheidung in der Hauptsache. Darüber hinaus könnten honorarvertragliche Bestimmungen nicht Gegenstand im einstweiligen Rechtsschutzverfahren sein. Schließlich würde vorliegend die Hauptsache vorweggenommen. Des weiteren trägt die Antragsgegnerin vor, dass es sich bei dem Schreiben vom 02.10.2007 keineswegs um eine Zusicherung im Sinne von § 34 SGB X gehandelt habe, da ausdrücklich auf die Bedingung des Fortbestehens der Rechtslage hingewiesen worden sei. Der Honorarvertrag 2009 gewährleiste für die Antragstellerin eine Wachstumsmöglichkeit durch die Anknüpfung an das jeweilige Vorjahresquartal bis zur Abstaffellung. Für eine Ausnahmeregelung sei kein Raum, da die Antragsgegnerin im Aufsatzzeitraum bereits niedergelassen gewesen sei. Von einer jungen Praxis könne nicht mehr ausgegangen werden, da zwei Mitglieder der Gemeinschaftspraxis bereits seit geraumer Zeit zugelassen seien. Schließlich sei die Rechtsprechung des BSG auf die neue Rechtslage des Honorarvertrages 2009 nicht übertragbar. Letztendlich bestehe auch kein Anordnungsgrund, weil die Antragstellerin eine akute Existenzgefährdung nicht substantiiert dargelegt habe.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes sowie des Vorbringens der Beteiligten wird ergänzend Bezug genommen auf die Prozessakten, insbesondere auch die Sitzungsniederschrift zum Erörterungstermin vom 05.08.2009, die Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.

II

Der zulässige Antrag ist auch begründet, soweit ein Wachstum bis zum Durchschnitt der Fachgruppe ab dem Vorliegen der für den Betrieb der Geräte notwendigen Abrechnungsgenehmigungen begehrt wird. Hinsichtlich des Zeitraums im Quartal III/2009, in dem diese Genehmigungen noch nicht vorliegen, ist der Antrag zurückzuweisen.

In diesem Umfang besteht sowohl ein Anordnungsanspruch als auch ein Anordnungsgrund.

Das Gericht der Hauptsache kann auf Antrag einen Erlass einer einstweiligen Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 S. 1 u. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG). Es müssen ein Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht werden (§ 920 Zivilprozessordnung i. V. m. § 86b Abs. 2 S. 4 SGG).

Der Antragstellerin steht aufgrund der glaubhaft gemachten Tatsachen bei summarischer Prüfung der Rechtslage ein materiell-rechtlicher Anspruch auf die Feststellung, dass ein Wachstum bis zum Fachgruppendurchschnitt zugebilligt werden muss, zu.

Der Bescheid der Antragsgegnerin vom 27.05.2009, der die Zuweisung des Regelleistungsvolumens für das Quartal III/2009 enthält, ist offensichtlich rechtswidrig. Die dort vorgenommene Regelung verstößt evident gegen Art. 12 GG, kommt aufgrund des damit verbundenen Ausmaßes der Einschränkungen sogar einem Berufsverbot gleich. Wegen dieser Offensichtlichkeit der Rechtswidrigkeit ist eine Feststellung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren auch möglich, obwohl in der Hauptsache eine Ermessensentscheidung im Raum steht. Dies gebietet auch der Rechtsgewährleistungsanspruch aus Art. 19 Abs. 4 GG. Das Ermessen der Antragsgegnerin im Hinblick auf die Zuweisung des Regelleistungsvolumens ab dem Zeitpunkt des Vorliegens aller gerätetechnischen Voraussetzungen ist insoweit auf Null reduziert, als aufgrund der Lückenhaftigkeit der untergesetzliche Vorgaben, eine andere Entscheidung als die Zuweisung eines Regelleistungsvolumens in Höhe des Fachgruppendurchschnitts nicht in Betracht kommt.

Zwar ist der Antragsgegnerin zuzugeben, dass in dem Schreiben vom 02.10.2007 eine Zusicherung im Sinne von § 34 SGB X nicht gesehen werden kann. Aus dem Wortlaut des Schreibens im Zusammenhang folgt bereits, dass die dort getroffenen Aussagen nur auf der Grundlage der damals geltenden Bestimmungen Geltung beansprucht haben. Der Verfasser bringt sehr deutlich zum Ausdruck, dass seinen Äußerungen im Hinblick auf zukünftig zu erwartende Änderungen der Rechtsgrundlage, als unverbindlich zu verstehen sind.

Gleichwohl ist die dort getroffene Aussage der grundsätzlich bestehenden Möglichkeit eines Wachstums bis zum Durchschnitt der Fachgruppe auch unter dem Regime des neuen Honorarvertrages 2009 (HV 2009) rechtlich zutreffend.

Zwar liegen die Voraussetzungen für das Attribut einer "Jungen Praxis" im Hinblick auf die Dauer der Zulassungen der Dres. F und E nicht vor. Ohne Zweifel ist die Antragsstellerin jedoch als unterdurchschnittlich abrechnende Praxis zu qualifizieren.

Fest steht zur Überzeugung des Gerichts, dass der Beschluss des Bewertungsausschusses vom 27./28.8.2008 selber, auch in der Gestalt des Beschlusses vom 20.04.2009 im Hinblick auf die Frage der Behandlung von unterdurchschnittlichen Praxen keine Regelungen enthält. Der Bewertungsausschuss delegiert vielmehr jeweils (Teil F Nr. 3.5 in der durch den Beschluss vom 20.04.2009 geänderten Form) die Regelungsbefugnis für Anfangs- und Übergangsregelungen bei "Neuzulassungen von Vertragsärzten" und für "Praxen in der Anfangsphase und Umwandlung der Kooperationsform" auf die Partner der Gesamtverträge. Diese haben durch die Regelungen des HV 2009 von ihrer Regelungsbefugnis jedoch nur unzureichend Gebrauch gemacht, da für den Fall der unterdurchschnittlich abrechnenden Praxis keine Regelung vorgesehen ist. Dem Regelungsauftrag ist weder im Hinblick auf "Praxen in der Anfangsphase" in Abgrenzung zu Neuzulassungen noch im Hinblick auf "Umwandlung von Kooperationsformen" Rechnung getragen worden. Der HV 2009 ist insoweit lückenhaft. Das Gericht hält unter Berücksichtigung der nach wie vor aktuellen Rechtsprechung des BSG (basierend auf dem Urteil vom 21.10.1998, B 6 KA 71/97 R, juris Rn. 28, aktuell BSG, Urteil vom 28.01.2009, B 6 KA 5/08 R, juris, Rn. 39) eine Regelung auch für die Fallkonstellationen der unterdurchschnittlich abrechnenden Praxis durch die Partner der Gesamtverträge für unerlässlich und den Verweis der Antragsgegnerin auf die Möglichkeit einer Sonderregelung durch Entscheidung des Vorstandes für unzureichend.

Die vorliegend entstandene Regelungslücke muss unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BSG zu den Wachstumsmöglichkeiten für unterdurchschnittlich abrechnende Praxen – von der abzuweichen das Gericht keine Veranlassung sieht –, insbesondere vor dem Hintergrund der Grundrechtsrelevanz des vorliegenden Sachverhalts gefüllt werden. Danach gehört die Praxis der Antragstellerin zur Gruppe der unterdurchschnittlich abrechnenden Praxen, weil sie in den Referenzquartalen nur ganz geringe Fallzahlen hatte, die weit weniger als ein Drittel des Fachgruppendurchschnitts betrugen. In der Rechtsprechung des BSG ist wiederholt klargestellt worden, dass umsatzmäßig unterdurchschnittlich abrechnende Praxen die Möglichkeit haben müssen, zumindest den durchschnittlichen Umsatz der Arztgruppe zu erreichen (BSGE 83, 52, 58 f = SozR 3 2500 § 85 Nr 28 S 206 ff; BSG SozR 3-2500 § 85 Nr 27 S 195; BSG SozR 3-2500 § 85 Nr 48 S 411; BSGE 92, 10 = SozR 4-2500 § 85 Nr 5, jeweils RdNr 19; BSGE 92, 233 = SozR 4-2500 § 85 Nr 9, jeweils RdNr 18 ff; BSGE 94, 50 = SozR 4-2500 § 72 Nr 2, jeweils RdNr 53; BSG SozR 4-2500 § 87 Nr 10 RdNr 21; BSG, Beschluss vom 19.7.2006, B 6 KA 1/06 B, RdNr 10 - juris; BSG SozR 4-2500 § 85 Nr 32 RdNr 16, sowie das weitere Urteil vom 28.3.2007, B 6 KA 10/06 R = MedR 2007, 560 = USK 2007-26; Beschluss vom 28.11.2007, B 6 KA 45/07 B, RdNr 8; zuletzt Beschluss vom 6.2.2008, B 6 KA 64/07 B, RdNr 9 - juris; vgl auch BSGE 96, 53 = SozR 4-2500 § 85 Nr 23, jeweils RdNr 28; BSG SozR 4-2500 § 85 Nr 6, RdNr 16, 19; BSGE 89, 173, 182 = SozR 3-2500 § 85 Nr 45 S 378). Dem Vertragsarzt muss die Chance bleiben, durch Qualität und Attraktivität seiner Behandlung oder auch durch eine bessere Organisation seiner Praxis neue Patienten für sich zu gewinnen und so legitimerweise seine Position im Wettbewerb mit den Berufskollegen zu verbessern (BSGE 92, 233 = SozR 4-2500 § 85 Nr 9, jeweils RdNr 18; BSGE 92, 10 = SozR 4-2500 § 85 Nr 5, jeweils RdNr 19). Dies folgt aus Art. 12 i. V. m. Art. 3 GG und dem daraus abzuleitenden Grundsatz der Honorarverteilungsgerechtigkeit. Mit der vertragsärztlichen Zulassung ist insoweit das Recht verbunden – unabhängig von anderweitigen privatärztlichen Tätigkeiten, die im vorliegenden Fall entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin ohne Belang sind – in diesem Ausmaß an der Honorarverteilung teilzunehmen.

Auch wenn es sich bei Praxen mit unterdurchschnittlichem Umsatzniveau typischerweise insbesondere um solche handeln wird, die neu gegründet worden sind (vgl ua BSG SozR 3-2500 § 85 Nr 27 S 195; BSGE 92, 10 = SozR 4-2500 § 85 Nr 5, jeweils RdNr 19) , ist deren Erwähnung in der Rechtsprechung des BSG lediglich beispielhaft zu verstehen (BSG, Urteil vom 28.01.2009, B 6 KA 5/08 R, juris Rn. 25); nichts anderes gilt für den Begriff der "im Aufbau" befindlichen Praxen (vgl ua BSG SozR 4-2500 § 85 Nr 32 RdNr 16). Die grundsätzliche Verpflichtung zur Gewährleistung einer gewissen Wachstumsmöglichkeit beschränkt sich nicht allein auf diese, sondern erfasst alle Praxen, deren Umsatz den durchschnittlichen Umsatz der Fachgruppe unterschreitet. Insoweit ist der Antragsgegnerin zwar zuzugeben, dass es sich bei der Praxis der Antragstellerin nicht um eine "junge Praxis" im Sinne der üblichen Definition handelt. Gleichwohl müssen für die Antragstellerin die hierzu entwickelten Grundsätze jedoch entsprechend gelten.

Bereits in seinem grundlegenden Urteil vom 21.10.1998 (B 6 KA 71/97 R, BSGE 83, 52, 60 = SozR 3-2500 § 85 Nr 28 S 209) hat das BSG klargestellt, dass der Umstand einer dauerhaften Festschreibung einer ungünstigen Erlössituation als Folge unterdurchschnittlicher Umsätze für alle kleinen Praxen - nicht nur für neu gegründete - berücksichtigt werden und ein HVM so ausgestaltet werden muss, dass auch solche Vertrags(zahn)ärzte mit unterdurchschnittlicher Patientenzahl, die nicht mehr als Praxisneugründer angesehen werden können, nicht gehindert werden, durch Erhöhung der Patientenzahl zumindest einen durchschnittlichen Umsatz zu erzielen (in diesem Sinne ua auch BSG SozR 4-2500 § 85 Nr 32 RdNr 16, sowie das weitere Urteil vom 28.3.2007, B 6 KA 10/06 R = MedR 2007, 560 = USK 2007-26; BSGE 92, 233 = SozR 4 2500 § 85 Nr 9, jeweils RdNr 18: "aber nicht nur"; BSGE 92, 10 = SozR 4-2500 § 85 Nr 5, jeweils RdNr 19; BSG SozR 4-2500 § 87 Nr 10 RdNr 21: "jeder Arzt"; zuletzt BSG, Beschluss vom 6.2.2008, B 6 KA 64/07 B, RdNr 9 - juris; vgl auch Clemens in Wenzel (Hrsg), Handbuch des Fachanwalts Medizinrecht, 2. Aufl 2009, Kap 11 RdNr 268). Dafür, dass diese Rechtsprechung unter Berücksichtigung der durch Art. 12 GG gewährleisteten Berufsfreiheit im neuen HV 2009 keine Anwendung mehr finden könnte, wie die Antragsgegnerin vorträgt, erkennt das Gericht keine Anhaltspunkte.

Die danach allen Praxen mit unterdurchschnittlichen Umsätzen einzuräumende Möglichkeit, durch Umsatzsteigerung jedenfalls bis zum Durchschnittsumsatz der Fachgruppe aufzuschließen (BSGE 83, 52, 58 = SozR 3-2500 § 85 Nr 28 S 206 f; BSG SozR 3-2500 § 85 Nr 27 S 195; BSG SozR 4-2500 § 85 Nr 6 RdNr 19; BSGE 92, 10 = SozR 4-2500 § 85 Nr 5, jeweils RdNr 19; BSGE 92, 233 = SozR 4-2500 § 85 Nr 9, jeweils RdNr 18; BSG SozR 4-2500 § 85 Nr 32 RdNr 16), bedeutet jedoch nicht, dass diese Praxen von jeder Begrenzung des Honorarwachstums verschont werden müssten (BSGE 92, 10 = SozR 4-2500 § 85 Nr 5 RdNr 20; BSGE 92, 233 = SozR 4-2500 § 85 Nr 9, jeweils RdNr 18). Derartiges ist allein den neu gegründeten Praxen einzuräumen, solange diese sich noch in der Aufbauphase befinden (BSGE 92, 233 = SozR 4-2500 § 85 Nr 9, jeweils RdNr 18); diese Praxen sind für die Zeit des Aufbaus von der Wachstumsbegrenzung völlig freizustellen (BSG, aaO, RdNr 19).

Grundsätzlich ist es auch unterdurchschnittlich abrechnenden Praxen zumutbar, dass ihr pro Jahr zulässiges Honorarwachstum beschränkt wird. Dies gilt allerdings nur unter der Voraussetzung, dass diese Begrenzung nicht zu eng ist (BSGE 92, 10 = SozR 4-2500 § 85 Nr 5, jeweils RdNr 20; BSGE 92, 233 = SozR 4-2500 § 85 Nr 9, jeweils RdNr 18). Daher sind Wachstumsraten in einer Größenordnung zuzulassen, die es noch gestattet, den durchschnittlichen Umsatz in absehbarer Zeit zu erreichen (BSGE 92, 10 = SozR 4 2500 § 85 Nr 5, jeweils RdNr 20; BSGE 92, 233 = SozR 4-2500 § 85 Nr 9, jeweils RdNr 18). Absehbar in diesem Sinne ist ein Zeitraum von fünf Jahren (BSGE 92, 10 = SozR 4-2500 § 85 Nr 5, jeweils RdNr 20; BSGE 92, 233 = SozR 4-2500 § 85 Nr 9, jeweils RdNr 18; BSG SozR 4-2500 § 85 Nr 32 RdNr 16, sowie das weitere Urteil vom 28.3.2007, B 6 KA 10/06 R = MedR 2007, 560 = USK 2007-26).

Sofern jedoch jegliche spezifischen Regelungen für die Fallgruppe der unterdurchschnittlich abrechnenden Praxen, wie im vorliegenden Fall fehlen, gelten für diese die allgemeinen Regelungen (BSG, Urteil vom 28.01.2009, B 6 KA 5/08 R, juris Rn. 39). Deshalb war der Antragstellerin – mangels abweichender Regelungen (zu den vorhanden Regelungsmöglichkeiten im Detail BSG, Urteil vom 28.01.2009, B 6 KA 5/08 R, juris Rn. 41) – zuzubilligen, sofort bis zum Durchschnitt der Fachgruppe wachsen zu können. Die Antragsgegnerin hat ein entsprechendes Regelleistungsvolumen festzusetzen.

Dies kann jedoch erst ab dem Zeitpunkt gelten, ab dem sämtliche zum Betrieb der Praxis und zur Abrechnung von Leistungen erforderlichen Genehmigungen vorliegen.

Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin besteht auch ein Anordnungsgrund. Der Begriff des Anordnungsgrundes ist in § 86 b Abs. 2 SGG nicht genannt, ergibt sich aber aus der Verweisung in Abs. 2 Satz 4 auf §§ 920 Abs. 2, 917, 918 ZPO. Gemeint ist eine besondere Eilbedürftigkeit. Der Anordnungsgrund liegt vor, wenn dem Antragsteller wesentliche Nachteile drohen, die es abzuwenden gilt. Als wesentliche Nachteile gelten z. B. die unmittelbare Gefahr einer Insolvenz oder Schließung des Betriebes bzw. die konkrete Gefährdung der Existenz. Auch erhebliche wirtschaftliche Nachteile, die entstehen, wenn das Ergebnis eines langjährigen Hauptsacheverfahrens abgewartet werden müsste, können ausreichen (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage, § 86 b Rn 28). Es muss dem Antragsteller das Abwarten der Hauptsacheentscheidung unzumutbar sein. Dabei sind die Interessen des Antragstellers sowie das öffentliche Interesse zu berücksichtigen. Im Hinblick auf die offensichtliche Rechtswidrigkeit des zugewiesenen Regelleistungsvolumens für das Quartal III/09 sind die Anforderungen an den Anordnungsgrund jedoch vermindert (Keller, in: Meyer-Ladewig/ders./Leitherer, SGG, 9. Auflage, § 86 b Rn. 29 m.w.N.). Vorliegend liegt zur Überzeugung des Gerichts eine Existenzgefährdung der Antragstellerin auf der Hand. Unabhängig von der getroffenen erheblichen Investitionsentscheidung kann der Antragstellerin nicht zugemutet werden, bis zum Quartal III/2010 abzuwarten und erst dann ihre Leistungen abrechnen zu können. Auf nichts anderes läuft die Entscheidung der Antragsgegnerin hinaus. Zwar ist richtig, dass grundsätzlich ein Wachstum möglich ist, dies unter den gesetzten Bedingungen jedoch nur mit erheblichem finanziellem Vorlauf. Die Antragstellerin müsste sich in den Quartalen III/09-II/10 weiterhin an den Regelleistungsvolumina der Bezugsquartale messen lassen und trotzdem auf eigene Kosten voll arbeiten, um in den Folgejahren höhere Fallzahlen als neue Bemessungsgrundlage zu erhalten. Dass dadurch – wie der Prozessbevollmächtigte im Erörterungstermin vorgetragen hat – ein Verlust im ersten Jahr in einer Größenordnung von 700.000EUR zu erwarten ist, liegt nahe. Selbst wenn hier keine erheblichen Investitionen getätigt worden wären, bedeuten derartige Verluste grundsätzlich ein nicht hinzunehmendes finanzielles Risiko.

Im Hinblick auf die nur teilweise Begründetheit hinsichtlich des Quartals III/2009 legt das Gericht der Antragsgegnerin eine Quotelung des Regelleistungsvolumens in Höhe des Fachgruppendurchschnitts für dieses Quartal nahe.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 a SGG i. V. m. § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung. Der unterliegende Teil hatte die Verfahrenskosten zu tragen. Die Antragsgegnerin ist hier in so erheblichem Umfang unterlegen, dass eine Quotelung der Kosten nicht in Betracht kam.
Rechtskraft
Aus
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