L 14 AS 1005/09 B

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
14
1. Instanz
SG Cottbus (BRB)
Aktenzeichen
S 21 AS 1751/07
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 14 AS 1005/09 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Für eine die Fiktion der Klagerücknahme auslösende Betreibensaufforderung ist nur Raum, wenn zum Zeitpunkt ihres Erlasses begründete Zweifel am Fortbestand des Rechtsschutzinteresses bestehen.
Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Cottbus vom 23. März 2009 aufgehoben. Die Beschwerde im Übrigen wird zurückgewiesen.

Gründe:

Die Klägerin begehrt die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB II).

Ihren am 23. Juni 2006 gestellten Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 26. September 2006 ab, weil die Klägerin nicht hilfebedürftig sei. Der am 26. Oktober 2006 von der jetzigen Prozessbevollmächtigten der Klägerin eingelegte Widerspruch wurde nicht näher begründet; von der Beklagten angeforderte Unterlagen (u.a. über die Befreiung der Klägerin von der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherungspflicht) wurden nicht eingereicht. Mit Widerspruchsbescheid vom 12. November 2007 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Auf der Grundlage der vorliegenden Unterlagen sei die Entscheidung im Bescheid vom 26. September 2006 nicht zu beanstanden.

Die Klägerin hat am 31. Dezember 2007 beim Sozialgericht Cottbus Klage erhoben. Eine ausführliche Klagebegründung bleibe einem gesonderten Schriftsatz nach Einsicht in die Verfahrensakte vorbehalten. Jedoch werde "rein vorsorglich" bereits jetzt vorgetragen, dass "nach dem bereits bei der Verwaltungsbehörde eingesehenen Sachstand" dieser Unterlagen zur Kranken- und Pflegeversicherung vorgelegen hätten, die nicht berücksichtigt worden seien. Weitere Unterlagen zu betriebswirtschaftlichen Auswertungen seien am 30. März 2007 nachgereicht und "durch eine Mitarbeiterin der Kanzlei persönlich im Empfang bei der beklagten Behörde" abgegeben worden. Die Klägerin habe davon ausgehen können, dass diese Unterlagen auch zu ihrer Akte gelangen und Berücksichtigung finden würden.

Mit Verfügung vom 11. Februar 2008 hat das Sozialgericht der Prozessbevollmächtigten der Klägerin die Klageerwiderung vom 6. Januar 2008 sowie die Leistungsakte zur Einsicht übersandt und sie zur ergänzenden Klagebegründung innerhalb von vier Wochen aufgefordert. Mit Schriftsatz vom 13. März 2008 hat die Prozessbevollmächtigte wegen "der derzeitigen Arbeitsüberlastung und des kurzfristigen Ausfalls des Mitarbeiters, der mit dem Fall vertraut (sei)" um Verlängerung der Frist zur Klagebegründung bis zum "3. April 2007" gebeten.

Mit einem am 3. Juni 2008 von der Prozessbevollmächtigten der Klägerin in Empfang genommenen Brief vom 19. Mai 2008 hat die Vorsitzende des Sozialgerichts an ihre Verfügung vom 12. Februar 2008 erinnert. Die Stellungnahme der Prozessbevollmächtigten hierzu stehe seit nunmehr über drei Monaten aus. Wegen der deutlichen Überschreitung der von Gericht gewährten angemessenen Frist ohne Mitteilung von Hinderungsgründen bestünden Zweifel am Fortbestand des Rechtsschutzinteresses. Sie fordere die Prozessbevollmächtigte gemäß § 102 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in der ab dem 1. April 2008 geltenden Fassung zur Nachholung und entsprechenden Betreibung des Verfahrens auf. Die Klage gelte nach der genannten Vorschrift als zurückgenommen, wenn die Klägerseite das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibe. Auch diese Klagerücknahmefiktion erledige den Rechtsstreit.

Am 24. September 2008 hat die Vorsitzende in der Akte vermerkt, dass die Klage nach § 102 Abs. 2 SGG als zurückgenommen gelte, und verfügt, dies den Beteiligten mitzuteilen.

Mit am selben Tag beim Sozialgericht eingegangenen Schriftsatz vom 22. Oktober 2008 hat die Klägerin "die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 233 (der Zivilprozessordnung)" beantragt. Die durch das Gericht mehrfach angeforderte Klagebegründung sei am 5. August 2008 – nach vergeblichen Versuchen, sie als Fernablichtung zu übermitteln – durch eine Mitarbeiterin ihrer Prozessbevollmächtigen am späten Nachmittag in den Nachtbriefkasten eingeworfen worden.

Die Vorsitzende des Sozialgerichts hat daraufhin die Prozessbevollmächtigte gebeten, "sich konkret zu (ihrem) Begehren zu äußern". Die Betreibensfrist nach § 102 Abs. 2 SGG stelle eine Ausschlussfrist dar; eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand scheide deshalb aus.

Die Klägerin hat daraufhin vortragen lassen, dass die Klagebegründung vom 5. August 2008 am 6. August 2008 in den Nachtbriefkasten des Gerichts eingeworfen worden sei. Dass dieser Schriftsatz abhanden gekommen sei, rechtfertige die Wiedereinsetzung.

Mit Beschluss vom 23. März 2009 hat das Sozialgericht den Antrag auf Wiedereinsetzung abgelehnt und zur Begründung ausgeführt: Die Klägerin habe die von ihr am 31. Dezember 2007 erhobene Klage auch nach der Betreibensaufforderung vom "06.05.2008" nicht innerhalb von drei Monaten begründet. Damit gelte die Klage gemäß § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG als zurückgenommen. Es handele sich bei dieser Frist um eine Ausschlussfrist. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand komme deswegen nur in Fällen höherer Gewalt, also bei Naturereignissen und anderen unabwendbaren Zufällen in Betracht. Gegen diese, von ihrer Prozessbevollmächtigten am 4. Mai 2009 in Empfang genommene Entscheidung wendet sich die Klägerin mit ihrer am 2. Juni 2009 eingelegten Beschwerde, zu deren Begründung sie im Wesentlichen früheres Vorbringen wiederholen lässt.

-

Die Beschwerde der Klägerin hat insoweit Erfolg, als der Beschluss des Sozialgerichts aufzuheben ist, soweit das Sozialgericht die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abgelehnt hat.

Einer Entscheidung, ob wegen Fristversäumnis Wiedereinsetzung zu gewähren ist, bedarf es nicht, wenn die fragliche Frist tatsächlich nicht versäumt worden ist – sei es, weil die Frist tatsächlich erst später begann und demgemäß später endete, sei es, weil die fragliche Handlung aus anderen Gründen noch rechtzeitig vorgenommen worden ist, sei es, weil die Frist überhaupt nicht wirksam in Gang gesetzt wurde. Eben sowenig besteht ein Bedürfnis für eine Wiedereinsetzung, wenn der Fristablauf aus anderen Gründen nicht die vorgesehene Folge herbeiführt. So liegt es hier.

Das beim Sozialgericht anhängige Klageverfahren ist nicht infolge (fiktiver) Klagerücknahme erledigt. Die Betreibensaufforderung des Sozialgerichts hat diese in § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG vorgesehene Rechtsfolge nicht bewirken können.

Für eine die Fiktion der Klagerücknahme auslösende Betreibensaufforderung ist nur Raum, wenn zum Zeitpunkt ihres Erlasses begründete Zweifel am Fortbestand des Rechtsschutzinteresses bestehen (BVerwG, Beschlüsse vom 5. Juli 2000 – 8 B 119/00 – und vom 12. April 2001 – 8 B 2/01 –). Dies ist hier nicht der Fall. Zwar hatte die Prozessbevollmächtigte der Klägerin bereits in der Klageschrift vom 31. Dezember 2007 eine "ausführliche" Klagebegründung angekündigt, die bis zum Erlass der Betreibensaufforderung am 13. Mai 2008 nicht vorlag. Gleichwohl bestand zu diesem Zeitpunkt kein Anlass, am Fortbestand des Rechtsschutzinteresses der Klägerin zu zweifeln. Zum einen ist eine Klagebegründung nicht zwingend erforderlich (§ 92 Abs. 1 Satz 4 SGG). Zum anderen ist die Klage bereits in der Klageschrift zumindest ansatzweise begründet worden. Schließlich hat die Prozessbevollmächtigte der Klägerin auf die gerichtliche Verfügung vom 12. Februar 2008 ("Frist z. ergänzd. Klagebegründung: 4 Wo") durchaus reagiert und mit Schriftsatz vom 13. März 2008 auf Arbeitsüberlastung hingewiesen (und damit zumindest für einen bestimmten Zeitraum Hinderungsgründe geltend gemacht). Der Umstand, dass eine solche (ergänzende) Klagebegründung auch nach weiteren zwei Monaten am 13. Mai 2008 nicht vorlag, ließ zwar den Schluss auf (andauernde) Arbeitsüberlastung, Nachlässigkeit oder auch Überforderung ihrer Prozessbevollmächtigten zu (wofür im Übrigen auch die auffallenden zeitlichen Abstände zwischen der Absendung behördlicher und gerichtlicher Schriftstücke und deren Empfang durch die Prozessbevollmächtigte sprechen), nicht aber auf einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses der Klägerin.

Ob dies anders zu beurteilen wäre, wenn die Klägerin bzw. ihre Prozessbevollmächtigte konkret aufgefordert worden wäre, sich zu einzelnen Punkte näher zu äußern (etwa welche Unterlagen wann durch wen wo abgegeben oder eingereicht worden sein sollten) oder für bestimmte Behauptungen (bspw. Übergabe einzelner Unterlagen) geeignete Beweismittel zu bezeichnen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 12. April 2001 – 8 B 2/01 –), kann dahinstehen. Denn eine solche konkrete Aufforderung hat das Sozialgericht an die Klägerin bzw. ihre Prozessbevollmächtigte nicht gerichtet.

Dementsprechend wird das Verfahren vom Sozialgericht fortzuführen sein; der Antrag auf "Wiedereinsetzung in den vorigen Stand" ist zugleich als Antrag, das Verfahren fortzuführen, anzusehen.

Einer Entscheidung über die Gewährung der beantragten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bedarf es unter diesen Umständen weder durch den Senat noch durch das Sozialgericht; insoweit hat die Beschwerde keinen Erfolg. Allerdings ist der Beschluss des Sozialgerichts vom 23. März 2009 aufzuheben, da er – zu Unrecht – den Anschein begründet, der Rechtsstreit sei infolge (fiktiver) Klagerücknahme beendet. Dies ergibt zwar nicht ausdrücklich aus der Beschlussformel, aber aus den Gründen. Dieser die Klägerin beschwerende (unzutreffende) Rechtsschein ist durch Aufhebung des Beschlusses des Sozialgerichts zu beseitigen.

Es kann danach offen bleiben, ob Widereinsetzung zu gewähren wäre und insbesondere ob der behauptete Verlust der Klagebegründung im Geschäftsgang des Sozialgerichts glaubhaft gemacht ist. Immerhin hat das Sozialgericht richtig gesehen, dass eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der in § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG gesetzten Frist jedenfalls im Fall "höherer Gewalt" durchaus in Betracht kommt. Als Fall höher Gewalt dürfte aber auch der Verlust einer Klagebegründung oder eines anderen Schriftsatzes im Geschäftsgang eines Gerichts anzusehen sein (vgl. BVerwG, Beschluss vom 25. November 2002 – 8 B 112/02 – zum Verlust der Klagebegründung auf dem Postweg). Jedenfalls hat der Senat keinen Anhalt anzunehmen, dass der Verlust eines Schriftsatzes beim Sozialgericht Cottbus auf anderen Umständen als einem "unabwendbaren Zufall" beruhen würde.

Eine (gesonderte) Entscheidung über die Erstattung von Kosten ist nicht zu treffen; das Sozialgericht wird nach Abschluss des Verfahrens – ggf. auf Antrag (§ 193 Abs. 1 Satz 3 SGG) – zu entscheiden habe, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben (§ 193 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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