L 11 SB 254/09 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
11
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 161 SB 1088/09 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 11 SB 254/09 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 10. Juni 2009 aufgehoben und der Antrag des Antragstellers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind für beide Instanzen nicht zu erstatten.

Gründe:

Die zulässige, insbesondere nach § 172 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts vom 10. Juni 2009 ist begründet.

Das Sozialgericht hat zu Unrecht den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig, längstens jedoch bis einschließlich 30. September 2009, das Merkzeichen "T" zur Nutzung des besonderen Fahrdienstes im Land Berlin zuzuerkennen.

Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) kann eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis ergehen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Hierzu hat der betreffende Antragsteller das Bestehen des zu sichernden materiellen Anspruchs (Anordnungsanspruch) sowie die besondere Dringlichkeit des Erlasses der begehrten einstweiligen Anordnung (Anordnungsgrund) glaubhaft zu machen (vgl. § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 der Zivilprozessordnung - ZPO -). Besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens ergeben sich aus dem in Artikel 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) verankerten Gebot effektiven Rechtsschutzes, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre. In solchen Fällen sind die Gerichte, wenn sie ihre Entscheidung nicht an einer Abwägung der widerstreitenden Interessen, sondern an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache orientieren, gehalten, die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes auf eine abschließende und nicht nur summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage zu stützen. Dies bedeutet auch, dass die Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache Fragen des Grundrechtsschutzes einbeziehen muss, wenn dazu Anlass besteht. Ist dem Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden, in deren Rahmen ebenfalls die grundrechtlichen Belange des jeweiligen Antragstellers umfassend einzustellen sind. Die Gerichte müssen sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen. Dies gilt ganz besonderes, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine Verletzung dieser grundgesetzlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert, haben die Gerichte zu verhindern (vgl. u. a. BVerfG, Beschluss vom 25. Februar 2009 - 1 BvR 120/09 -, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 -, Beschluss vom 22. November 2002 - 1 BvR 1586/02 -, jeweils zitiert nach juris).

Hiervon ausgehend sind vorliegend die Voraussetzungen für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung nicht erfüllt. Ebenso wie das Sozialgericht geht der Senat dabei davon aus, dass vorliegend die sich aus Artikel 19 Abs. 4 GG ergebenden besonderen Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens zu beachten sind, weil der Antragsteller mit der Zuerkennung des Merkzeichens "T" eine Rechtsposition erstrebt, die letztlich dazu dient, ihm ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, das sicherzustellen der Staat verfassungsrechtlich verpflichtet ist. Dem Antragsteller drohen deshalb bei einer Versagung von Eilrechtsschutz schwere und unzumutbare Nachteile, wenn nicht auf Grund einer abschließenden Prüfung, wie sie in einem Verfahren der Hauptsache vorzunehmen wäre, die Möglichkeit einer zeitweilig andauernden Verletzung der grundgesetzlichen Gewährleistung der Menschenwürde verneint werden kann. Anders als das Sozialgericht hält der Senat jedoch die Sach- und Rechtslage des Falles nach Lage der Akten für ausreichend geklärt und verneint einen Anordnungsanspruch aufgrund abschließender Prüfung. Hierzu ist im Einzelnen Folgendes auszuführen:

Anspruchsgrundlage für die Erteilung des Nachteilsausgleichs "T", welcher zur Nutzung des besonderen Fahrdienstes im Land Berlin berechtigt, ist § 1 Abs. 1 der Verordnung über die Vorhaltung eines besonderen Fahrdienstes vom 31. Juli 2001 in der Fassung der Zweiten Änderungsverordnung vom 22. Juni 2005 (GVBl. S. 342). Nach Satz 1 dieser Vorschrift ergibt sich die Berechtigung, den besonderen Fahrdienst zu nutzen, aus dem Feststellungsverfahren und der Bescheiderteilung mit dem Merkzeichen "T" durch das Versorgungsamt. Dafür ist nach Satz 2 der Vorschrift Voraussetzung, dass das Merkzeichen "aG", ein mobilitätsbedingter Grad der Behinderung von mindestens 80 vom Hundert und Fähigkeitsstörungen beim Treppensteigen gegenüber dem Versorgungsamt nachgewiesen werden.

Der Antragsteller hat jedenfalls das Vorliegen der Voraussetzungen für die Feststellung des Nachteilsausgleichs "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung) nicht glaubhaft gemacht. Für die Feststellung einer außergewöhnlichen Gehbehinderung ist gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 der Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV) die Vorschrift des § 6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz (StVG) in Verbindung mit Nr. 11 der zu § 46 Straßenverkehrsordnung (StVO) erlassenen allgemeinen Verwaltungsvorschrift (VwV-StVO) heranzuziehen (vgl. u. a. BSG, Urteil vom 29. März 2007 - B 9a SB 5/05 R -, Behindertenrecht 2008, S. 138-141). Hiernach ist außergewöhnlich gehbehindert, wer sich wegen der Schwere seines Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen kann. Hierzu gehören Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außer Stande sind, ein Kunstbein zu tragen oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch auf Grund von Erkrankungen, dem vorstehenden Personenkreis gleichzustellen sind. Der Antragsteller gehört weder zu dem erstgenannten Personenkreis, noch liegen hinreichende Anhaltspunkte dafür vor, dass er diesem Personenkreis gleichzustellen ist. Ein Betroffener ist gleichzustellen, wenn seine Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die erstgenannten Gruppen von Schwerbehinderten oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (vgl. BSG, a. a. O.). Dabei müssen seine Leiden in ihren funktionellen Auswirkungen mit den Leiden der erstgenannten Gruppen von Schwerbehinderten vergleichbar sein; der Leidenszustand muss also wegen einer außergewöhnlichen Behinderung beim Gehen die Fortbewegung auf das Schwerste einschränken. Hingegen können insbesondere Störungen der Orientierungsfähigkeit einen Anspruch auf Feststellung einer außergewöhnlichen Gehbehinderung nicht begründen (vgl. BSG, Urteil vom 6. November 1985 – 9a RVs 7/83 – SozR 3870 § 3 Nr. 18, Urteil vom 13. Dezember 1994 – 9 RVs 3/94SozR 3 -3870 § 4 Nr. 11).

Danach kann unter Würdigung der vorliegenden ärztlichen Befunde, insbesondere des ausführlichen Befundberichtes der behandelnden Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. M-P vom 27. Mai 2009, eine außergewöhnliche Gehbehinderung des Antragstellers nicht festgestellt werden. Denn nach den Feststellungen dieser Ärztin beruht die Einschränkung der Beweglichkeit des Antragstellers vor allem auf der als Folge einer Herpes-Encephalitis eingetretenen Störung seiner kognitiven Fähigkeiten, insbesondere einer ausgeprägten Störung der Orientierungsfähigkeit. Die darüber hinaus von der Ärztin diagnostizierte neurologisch bedingte Gangstörung (insbesondere frontale Gangapraxie- und Ataxie) kann nach dem Schweregrad der von ihr festgestellten funktionellen Auswirkungen nicht den Gehbehinderungen der oben genannten Personengruppen gleichgestellt werden (vgl. dazu BSG, Urteil vom 29. März 2007 – B 9a SB 5/05 R – a. a. O.) Etwas anderes ergibt sich nicht aus der Beurteilung der Ärztin, der Antragsteller sei auf absehbare Zeit nicht in der Lage, sich in einem Radius größer als 1 km ohne fremde Hilfe selbständig zu bewegen; denn diese stützt sie "vor allem" auf die kognitiven Störungen des Antragstellers, durch die die Gangstörung "potenziert" werde. Da nach dem Vorstehenden – insbesondere nach den Ausführungen der behandelnden Ärztin, die zu weiteren Ermittlungen keinen Anlass bieten - die Voraussetzungen für die Feststellung des Nachteilsausgleichs "aG" nicht vorliegen, kann dem Antragsteller auch der Nachteilausgleich "T" nicht zuerkannt werden. Weder ist eine verfassungskonforme Auslegung des § 1 Abs. 1 der Verordnung über die Vorhaltung eines besonderen Fahrdienstes (im Folgenden: Fahrdienst-V) geboten, noch ergibt sich ein Anspruch auf Feststellung des Nachteilsausgleichs "T" unmittelbar aus den Grundrechten des Antragstellers, insbesondere nicht aus Artikel 2 Abs. 1, 3 Abs. 3 Satz 2 und 6 GG. Eine verfassungswidrige Regelungslücke liegt nicht vor.

Dass die Fahrdienst-V für die Berechtigung, den besonderen Fahrdienst zu nutzen, neben dem Nachweis eines mobilitätsbedingten Grades der Behinderung von mindestens 80 und von Fähigkeitsstörungen beim Treppensteigen auch den Nachweis einer außergewöhnlichen Gehbehinderung im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 StVG fordert, ist sachgerecht, denn die Bereitstellung eines Fahrdienstes erscheint nur dann geboten, wenn es - neben den weiteren oben bezeichneten Voraussetzungen - dem Betroffenen wegen einer Behinderung beim Gehen nicht zuzumuten ist, längere Wege insbesondere zum Kraftfahrzeug oder zu einer Haltestelle im öffentlichen Nahverkehr zurückzulegen, weil diese nur noch mit außergewöhnlicher und großer Anstrengung zu Fuß zurückgelegt werden können ( vgl. zu § 6 Abs. 1 Nr. 14 StVG BT-Drucksache 8/3150 S. 9 f.). Störungen der Orientierungsfähigkeit vermögen demgegenüber grundsätzlich nicht die Notwendigkeit der Nutzung eines Fahrdienstes zu begründen. Denn den mit diesen Störungen verbundenen Einschränkungen der Fortbewegungsmöglichkeit kann hinreichend - wie vorliegend auch geschehen - durch die Zuerkennung der Nachteilsausgleiche "G" (Gehbehinderung) und "B" (Begleitperson) auf der Grundlage des § 146 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) Rechnung getragen werden.

Der Antragsteller kann demgegenüber nicht mit Erfolg einwenden, eine Begleitperson stehe ihm insbesondere für Besuche bei seinen Eltern nicht zur Verfügung bzw. seine Eltern sähen sich nicht in der Lage, ihn mit dem Kraftfahrzeug von seiner Wohneinrichtung abzuholen bzw. dort hinzubringen. Denn Nachteilsausgleiche des Schwerbehindertenrechts wie das Merkzeichen "T" knüpfen ausschließlich an konkrete gesundheitliche Beeinträchtigungen und nicht an sonstige Gegebenheiten an. Dies ist auch verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, da die Regelungen über die Nachteilsausgleiche in ein Gesamtsystem eingebettet sind, welches insbesondere die Leistungsgesetze der einzelnen Rehabilitationsträger umfasst. Soweit sich hier insbesondere unter Berücksichtigung des Rechts des Antragstellers auf Umgang mit seinen Eltern die Notwendigkeit der Nutzung eines Fahrdienstes ergeben könnte, ist er demnach auf die Möglichkeit zu verweisen, beim Sozialhilfeträger als Rehabilitationsträger nach § 6 Abs. 1 Nr. 7 SGB IX eine Beihilfe auf der Grundlage des § 54 Abs. 2 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) zu beantragen. Nach dieser Vorschrift können Behinderten oder von einer Behinderung bedrohten Menschen in einer stationären Einrichtung, die - wie der Antragsteller - Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten, oder ihren Angehörigen zum gegenseitigen Besuch Beihilfen geleistet werden, soweit es im Einzelfall erforderlich ist. Bei der im pflichtgemäßen Ermessen des Sozialhilfeträgers stehenden Maßnahme sind insbesondere die persönlichen und finanziellen Verhältnisse des Betroffenen und seiner Angehörigen sowie die Zielsetzung der Eingliederungsmaßnahme zu berücksichtigen, wobei der Sozialhilfeträger bezüglich der Angehörigen nicht streng an die Einkommensgrenzen gebunden ist (vgl. Schellhorn, SGB XII, 17. Auflage. § 54 Rdnr. 8). Im Rahmen dieser Vorschrift kann den insbesondere durch Artikel 6 GG geschützten Belangen des Antragstellers hinreichend Rechnung getragen werden. Ferner ist auf § 22 der Verordnung nach § 60 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (Eingliederungshilfe-Verordnung) zu verweisen, wonach zum Bedarf eines behinderten Menschen, bei dem Maßnahmen der Eingliederungshilfe seine Begleitung erfordern, auch die notwendigen Fahrtkosten und die sonstigen mit der Fahrt verbundenen notwendigen Auslagen der Begleitperson sowie weitere Kosten der Begleitperson gehören, soweit sie nach den Besonderheiten des Einzelfalles notwendig sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG analog und entspricht dem Ausgang des Verfahrens in der Sache selbst.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden, § 177 SGG.
Rechtskraft
Aus
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