S 104 AS 1270/06

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
104
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 104 AS 1270/06
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid der Beklagten vom 12. Oktober 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Januar 2006 sowie der Bescheid vom 19. Mai 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Juni 2006 werden aufgehoben und die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger Arbeitslosengeld II in Höhe von monatlich 491,68 Euro für die Zeit vom 4. Oktober 2005 bis zum 7. Februar 2006 auf Darlehensbasis zu gewähren. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Die Beklagte hat dem Kläger die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung von Arbeitslosengeld II (Alg II) in der Zeit vom 4. Oktober 2005 bis zum 28. Februar 2007 streitig.

Der am ... 1976 geborene Kläger studierte seit April 2001 an der H-Universität zu B (HU) Rechtswissenschaften. Bis zum September 2005 erhielt der Kläger vom Studentenwerk B Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG). Sein Antrag auf Weitergewährung von Berufsausbildungsförderung wurde durch Bescheid des Studentenwerks vom 7. Oktober 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 5. Januar 2006 abgelehnt. Durch Bescheid der HU vom 30. Mai 2005 wurde der Kläger zur universitären Schwerpunktbereichsprüfung zugelassen.

Am 4. Oktober 2005 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Gewährung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II). Durch Bescheid vom 12. Oktober 2005 lehnte die Beklagte diesen Antrag mit der Begründung ab, die gesetzlichen Voraussetzungen für den Anspruch auf Leistungen lägen nicht vor, weil der Kläger Student sei und demnach grundsätzlich nach dem BAföG förderungsfähig sei. Das Erreichen der Höchstförderungsdauer könne zu keiner anderen Entscheidung führen. Diese Entscheidung beruhe auf § 7 Abs. 5 und 6 des SGB II. Der hiergegen eingelegte Widerspruch wurde durch den Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 24. Januar 2006 zurückgewiesen.

Hiergegen hat der Kläger am 8. Februar 2006 Klage vor dem Sozialgericht Berlin erhoben. Durch Bescheid vom 9. Mai 2006 hat die Beklagte dem Kläger für die Zeit vom 8. Februar 2006 bis zum 31. August 2006 Alg II i.H.v. monatlich 491,68 Euro auf Darlehensbasis bewilligt. Der Kläger habe nachgewiesen, dass der Einsatz seiner Arbeitskraft und somit vermutlich die Aufgabe seines Studiums für ihn eine besondere Härte bedeuten würde, so dass Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts als Darlehen gewährt werden könnten. Durch Bescheid vom 19. Mai 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. Juni 2006 hat die Beklagte den Bescheid vom 9. Mai 2006 für die Zeit ab 1. Juni 2006 aufgehoben.

Der Kläger trägt vor: Er befinde sich in der akuten Abschlussphase seines Studiums. Mit Bescheid vom 30. Mai 2005 sei er zur universitären Abschlussprüfung im Fach Rechtswissenschaften zugelassen worden. Diese Prüfung werde - nach der gegenwärtigen, neuen Studien- und Prüfungsordnung - Bestandteil des ersten Staatsexamens. Der staatliche Teil der Prüfungen werde sich an den universitären Teil unmittelbar anschließen. In rechtlicher Hinsicht werde insbesondere auf den Grundsatz der Gleichbehandlung verwiesen. Nach den Ausführungsvorschriften der Bundesagentur für Arbeit stelle die unmittelbare Examensphase einen Härtefall i.S.v. § 7 Abs. 5 Satz 2 SGB II dar. Sinnvollerweise müsse dann von einem Härtefall ausgegangen werden, wenn während des Studiums wegen der intensiven Vorbereitung auf die Prüfungen keine Nebentätigkeit möglich sei, ohne den Examenserfolg zu gefährden. Das sei vorliegend der Fall.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 12. Oktober 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Januar 2006 sowie den Bescheid vom 19. Mai 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Juni 2006 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihm Arbeitslosengeld II in Höhe von monatlich 491,68 Euro für die Zeit vom 4. Oktober 2005 bis zum 7. Februar 2006 und vom 1. September 2006 bis zum 28. Februar 2007 auf Darlehensbasis zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide.

Wegen der Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Die Leistungsakte der Beklagten und die Gerichtsakte haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage hat im tenorierten Umfang Erfolg. Soweit der Kläger die Gewährung von Alg II für die Zeit vom 4. Oktober 2005 bis zum 7. Februar 2006 sowie die Aufhebung der Bescheide vom 12. Oktober 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. Januar 2006 sowie vom 19. Mai 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. Juni 2006 begehrt ist die Klage zulässig und begründet; im Übrigen ist die Klage unzulässig.

Der Bescheid vom 12. Oktober 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. Januar 2006 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, denn er hat in der Zeit vom 4. Oktober 2005 bis zum 7. Februar 2006 nach den §§ 19 ff SGB II Anspruch auf Gewährung von Alg II in Höhe von 491,68 Euro monatlich auf Darlehensbasis.

An der grundsätzlichen Leistungsberechtigung des Klägers nach den §§ 7, 8 und 9 SGB II bestehen im vorliegenden Fall keine Zweifel, denn der Kläger ist - unstreitig - erwerbsfähig und hilfebedürftig, er hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland und hat das 15. Lebensjahr vollendet und das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet. Der Anspruch des Klägers auf Gewährung von Alg II ist insbesondere auch nicht durch die Regelung des § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II ausgeschlossen. Danach haben Auszubildende, deren Ausbildung u.a. im Rahmen des BAföG dem Grunde nach förderungsfähig ist, keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Zwischen den Beteiligten ist (inzwischen) unstreitig, dass das von dem Kläger betriebene Jurastudium "dem Grunde nach" nach dem BAföG förderungsfähig ist. Der Kläger hat insoweit auch bis zum September 2005 (Ende der Förderungshöchstdauer) Leistungen nach dem BAföG bezogen. Die Vorenthaltung des Alg II würde jedoch für den Antragsteller zu einem besonderen Härtefall im Sinne des § 7 Abs. 5 Satz 2 SGB II führen. Nach dieser Vorschrift, die § 26 Satz 2 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) nachgebildet ist, können Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts als Darlehen geleistet werden. Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hat mit Urteil vom 14. Oktober 1993 (- 5 C 16/91 = BVerwGE 94, 224) zu den Voraussetzungen des § 26 Satz 2 BSHG folgendes ausgeführt:

"Die Vorschrift eröffnet die Möglichkeit, einem Auszubildenden, der eine dem Grunde nach förderungsfähige Ausbildung nach dem Bundesausbildungs-förderungsgesetz oder dem Arbeitsförderungsgesetz betreibt, Hilfe zum Lebensunterhalt zu gewähren, dies allerdings nur in "besonderen Härtefällen". Nach Wortlaut, Zweck und Gesetzessystematik enthält Satz 2 des § 26 BSHG eine Ausnahme von dem Regeltatbestand in Satz 1, deren Reichweite aus der Gegenüberstellung zur Regelvorschrift zu bestimmen ist. Eine besondere Härte im Sinne des § 26 Satz 2 BSHG besteht deshalb nur, wenn die Folgen des Anspruchsausschlusses über das Maß hinausgehen, das regelmäßig mit der Versagung von Hilfe zum Lebensunterhalt für eine Ausbildung verbunden und vom Gesetzgeber in Kauf genommen worden ist."

Diesen grundsätzlichen Überlegungen ist auch für den Geltungsbereich des SGB II zuzustimmen (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 14. April 2005 - L 8 AS 36/05 ER = SozSich 2005, 180). Die Vorenthaltung des für die Sicherung des Lebensunterhalts erforderlichen Alg II zu einem Zeitpunkt, in dem sich der Kläger in der akuten Examensphase befindet, stellt einen solchen "besonderen Härtefall" im oben ausgeführten Sinne dar (vgl. auch LSG Hamburg, Beschluss vom 31. August 2005 - L 5 B 185/05 ER AS; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 15. April 2005 - L 2 B 7/05 AS ER = JMBI ST 2005, 213 - 216; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23. Dezember 2005 - L 5 B 1361/05 AS ER -). Denn eine solche Entscheidung würde zu Ergebnissen führen, die den von dem Gesetzgeber mit der Schaffung des SGB II verfolgten Zielen offensichtlich entgegenstehen würde. Im Ergebnis müsste nämlich damit gerechnet werden, dass der Kläger sein Jurastudium abbrechen müsste. Denn entgegen dem Vorbringen der Beklagten ist es dem Kläger, der sich ausweislich der Stellungnahme der HU vom 30. Mai 2005 und vom 20. Juli 2005 durch die Zulassung zur universitären Schwerpunktbereichsprüfung bereits in der akuten Phase der ersten juristischen Staatsprüfung befindet, nicht zuzumuten, seinen finanziellen Bedarf, etwa durch Annahme von Gelegenheitsjobs, zu erwerben. Auch kann das Vorbringen der Beklagten nicht überzeugen, wonach der Kläger seine gegenwärtige finanzielle Notlage dadurch hätte abwenden können, dass er, beginnend mit dem 1. Semester, hätte Geld zurücklegen können. Denn in aller Regel lässt sich der weitere Gang des Studiums, mithin auch die genaue Studiendauer, im Voraus nicht genau festlegen, so dass auch die Bildung finanzieller Rücklagen "ins Blaue hinein" insbesondere bei einem knappen finanziellen Budget nicht zumutbar erscheint. Der Abschluss einer qualifizierten Berufsausbildung stellt sich bei dem noch jungen und ungelernten Kläger als die einzig erkennbare Erfolg versprechende Maßnahme dar, ihn auf Dauer in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren und ihn von dem Bezug von Alg II unabhängig zu machen. Die strikte Anwendung des § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II würde also den derzeitigen Status der Hilfebedürftigkeit des Klägers zementieren, was offensichtlich den in § 1 Abs. 1 SGB II genannten Aufgaben und Zielen der Grundsicherung für Arbeitsuchende entgegensteht, hilfebedürftige Personen in die Lage zu setzen, ihren Lebensunterhalt unabhängig von der Grundsicherung aus eigenen Mitteln und Kräften zu bestreiten (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 14. April 2005, a.a.O.; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 15. April 2005, a.a.O.). Trotz des in § 7 Abs. 5 Satz 2 SGB II der Beklagten eingeräumten Ermessens besteht im vorliegenden Fall auf Seiten des Klägers ein Anspruch auf darlehensweise Gewährung von Alg II. Bei dem Vorliegen eines Härtefalls ist die Hilfeleistung indiziert, d.h. sie kann nur in Ausnahmefällen abgelehnt werden (vgl. Brühl in LPK - SGB II § 7 Rdnr. 75; Hessischer VGH, Urteil vom 10. Dezember 1991 - 9 UE 3241/88 = NVwZ - RR 1992, 636; Valgolio in: Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch SGB II, Loseblattsammlung Stand XI/04, § 7, Rdnr. 36). Dass im vorliegenden Fall solche besonderen Umstände vorliegen würden, die trotz des gegebenen Härtefalls eine andere Entscheidung als die, dem Kläger Alg II auf Darlehensbasis zu gewähren, zuließen, ist nach dem Vortrag der Beteiligten sowie aufgrund des Akteninhalts nicht ersichtlich.

Hinsichtlich der konkreten Berechnung des Alg II-Anspruchs i.H.v. monatlich 491,68 Euro wird zur Begründung auf den in der Anlage zum Bescheid vom 9. Mai 2006 enthaltenen Berechnungsbogen Bezug genommen; insoweit wird von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe abgesehen (§ 136 Abs. 3 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

Der Kläger hat auch Anspruch auf Aufhebung des Bescheids vom 19. Mai 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. Juni 2006, denn diese Bescheide sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten. Die Voraussetzungen des § 45 Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) - hierauf hat die Beklagte zuletzt die Aufhebung des Bescheids vom 9. Mai 2006 gestützt - liegen im vorliegenden Fall nicht vor.

Nach § 45 Abs. 1 SGB X darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), der rechtswidrig ist, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden.

Diese Voraussetzungen liegen hier jedoch bereits deshalb nicht vor, weil der Bescheid vom 9. Mai 2006, der wie die Bescheide vom 19. Mai 2006 und vom 27. Juni 2006 in entsprechender Anwendung des § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden ist, bereits rechtmäßig ist. Aus den obigen Gründen besteht nämlich auch in der Zeit vom 8. Februar 2006 bis zum 31. August 2006 ein Anspruch des Klägers gegenüber der Beklagten auf darlehensweise Gewährung von Alg II in Höhe von 491,68 Euro monatlich.

Soweit der Kläger die Gewährung von Alg II auf Darlehensbasis auch in dem Zeitraum vom 1. September 2006 bis zum 28. Februar 2007 begehrt, ist die Klage unzulässig. Insoweit handelt es sich nämlich um einen Streitgegenstand, der nicht Gegenstand des anhängigen Verfahrens ist. Die Kammer geht insoweit davon aus, dass mit der Klageerhebung am 8. Februar 2006 der durch den Antrag vom 4. Oktober 2005 geltend gemachte Anspruch auf Gewährung von Alg II rechtshängig geworden ist. Nach § 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II beträgt die Dauer dieses materiellen Anspruchs auf Gewährung von Alg II jedoch regelmäßig nur sechs Monate. Damit ist auch im vorliegenden Fall der Anspruch des Klägers auf Gewährung von Alg II für sechs Monate streitgegenständlich geworden. Das Ende dieser Frist fällt hier jedoch in den durch den Bescheid vom 9. Mai 2006 geregelten Bewilligungsabschnitt vom 8. Februar 2006 bis zum 31. August 2006. Da dieser Bescheid in entsprechender Anwendung von § 96 SGG Gegenstand dieses Verfahrens geworden ist, ist auch der Streitgegenstand auf den Zeitraum bis zum 31. August 2006 erweitert worden. Der Zeitraum vom 1. September 2006 bis zum 28. Februar 2007 ist damit bereits nicht mehr Gegenstand dieses Verfahrens. Hiervon ist offensichtlich auch der Kläger ausgegangen, der durch seinen Fortzahlungsantrag vom 28. August 2006 gegenüber der Beklagten für die Zeit ab 1. September 2006 Alg II beantragt hat. In dem insoweit durchzuführenden Verwaltungsverfahren ist über einen neuen und eigenständigen Anspruch auf Gewährung von Alg II, der von dem in diesem Verfahren streitgegenständlichen Anspruch auf Gewährung von Alg II zu unterscheiden ist, zu befinden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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