L 1 B 22/09 AS

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
1
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 4 AS 242/08
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 1 B 22/09 AS
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Bezirksrevisors als Vertreter der Staatskasse gegen den Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 14.7.2009 wird zurückgewiesen. Kosten sind im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

Die Klägerin wandte sich im Hauptsacheverfahren gegen den Bescheid der Beklagten vom 18.5.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.7.2008. Mit diesem Bescheid rechnete die Beklagte für den Zeitraum vom 1.7.2008 bis zum 30.11.2008 auf das der Klägerin zustehende Arbeitslosengeld II (Alg-II) Kindergeld für die Pflegekinder B und Q N i.H.v. 115,50 EUR monatlich (Gesamtbetrag: 693.-EUR) an.

Das Sozialgericht hat Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt T beigeordnet (Beschluss vom 2.9.2008). In der mündlichen Verhandlung vom 5.2.2009 hat die Klägerin - vertreten durch den beigeordneten Bevollmächtigten - nach Hinweis des Vorsitzenden auf die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung die Klage zurückgenommen.

Der Bevollmächtigte der Klägerin hat beantragt, die folgende Vergütung festzusetzen:
Verfahrensgebühr Nr. 3103 VV/RVG 250.- EUR
Terminsgebühr Nr. 3106 VV/RVG 200.- EUR
Entgelte Post/ Telekommunikation Nr. 7002 VV/RVG 20.- EUR
Summe 470.-EUR
Umsatzsteuer Nr. 7008 VV/RVG 89,30 EUR
Gesamt: 559,30 EUR

Der Urkundsbeamte der Geschäftstelle des Sozialgerichts hat die Vergütung mit Beschluss vom 25.2.2009 wie folgt festgesetzt:
Verfahrensgebühr Nr. 3103 VV/RVG 100.- EUR
Terminsgebühr Nr. 3106 VV/RVG 100.- EUR
Entgelte pp. Nr. 7002 VV/RVG 20.- EUR
Summe 220.- EUR
Umsatzsteuer Nr. 7008 VV/RVG 41,80 EUR
Gesamt 261,80 EUR

Es hat die Abweichung von der beantragten Festsetzung damit begründet, dass es sich hinsichtlich Dauer, Umfang, Bedeutung und Komplexität um ein unterdurchschnittliches Verfahren gehandelt habe, weshalb nur unterdurchschnittliche Gebühren festgesetzt werden könnten.

Gegen diese Entscheidung hat der Bevollmächtigte der Klägerin Erinnerung eingelegt. Er hat den Festsetzungsantrag soweit als Verfahrensgebühr eine die Mittelgebühr überschreitende Gebühr geltend gemacht wurde (80.- EUR zuzüglich Umsatzsteuer, insgesamt 95,20 EUR) zurückgenommen. Im übrigen war er der Auffassung, dass es sich um eine rechtlich komplexe und für die Klägerin wirtschaftlich bedeutsame Angelegenheit gehandelt habe, weshalb eine weitere Reduzierung der Gebühren nicht gerechtfertigt sei.

Mit Beschluss vom 14.7.2009 hat das Sozialgericht den Beschluss vom 25.2.2009 abgeändert und die aus der Staatskasse zu zahlendem Vergütung wie folgt festgesetzt:

Verfahrensgebühr Nr. 3103 VV/RVG 170.- EUR
(Mittelgebühr) Terminsgebühr Nr. 3106 VV/RVG 200.- EUR
(Mittelgebühr) Entgelte pp. Nr. 7002 VV/RVG 20.- EUR
Summe 390.- EUR
Umsatzsteuer Nr. 7800 VV/RVG 74,10 EUR
Gesamt 464,10 EUR

Unter Bezugnahme auf die Entscheidung des BSG vom 1.7.2009 - B 4 AS 21/09 R - hat das Sozialgericht die jeweilige Mittelgebühr für angemessen i.S.d. § 14 Abs. 1 S. 1 RVG gehalten.

Gegen diese dem Bezirksrevisor als Vertreter der Staatskasse am 28.7.2009 zugestellte Entscheidung hat dieser am 7.8.2009 Beschwerde eingelegt und beantragt, die Vergütung auf 261,80 EUR festzusetzen. Er bezieht sich auf den Beschluss des LSG NRW vom 24.9.2008 - L 19 B 21/08 AS -. Der Bevollmächtigte der Klägerin ist dem Antrag entgegengetreten.

Über die Beschwerde entscheidet der Senat mit drei Berufsrichtern, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§§ 56 Abs. 2 S. 1, 33 Abs. 8 S. 2 RVG). Entscheidungserheblich ist die bisher nicht abschließend geklärte Frage, inwieweit dem Umstand, dass existenzsichernde Leistungsansprüche nach dem SGB II Gegenstand des Klageverfahrens waren, bei der Gebührenbemessung eine ausschlaggebende Bedeutung zukommt. Außerdem war die Bedeutung der Entscheidung des BSG vom 1.7.2009 - B 4 AS 21/09 R -, die zu Nr. 2500 VV/RVG in der bis zum 30.6.2006 geltenden Fassung (jetzt Nr. 2400 VV/RVG) ergangen ist, auf die Gebührenfestsetzung nach Nr. 3102/3103 VV/RVG zu prüfen.

Die fristgerecht (§§ 56 Abs. 2 S. 1, 33 Abs. 3 S. 3 RVG) eingelegte Beschwerde ist zulässig. Sie ist als Rechtmittel statthaft und weder durch § 178 S. 1 SGG noch durch § 197 Abs. 2 SGG ausgeschlossen:

Gegen Entscheidungen des Urkundsbeamten kann gem. § 178 S. 1 SGG binnen eines Monats nach Bekanntgabe das Gericht angerufen werden, das endgültig entscheidet. Die Frage, ob im Vergütungsfestsetzungsverfahren nach § 55 RVG die Rechtsbehelfe der §§ 56 Abs. 2, 33 Abs. 3 RVG durch § 178 SGG verdrängt werden, ist in Rechtsprechung und Literatur umstritten (dafür: LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 20.6.2008 - L 1 B 60/08 SF AL; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 5.9.2007 - L 13 B 2/06 AS SF; Böttiger, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, § 178 Rnr. 7, dagegen: LSG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 17.7.2008 - L 6 B 93/07; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 24.9.2008 - L 19 B 21/08 AS m.w.N.). Weil kein Grund für die Annahme besteht, dass der Gesetzgeber den Rechtsschutz des Anwalts gegenüber erstinstanzlicher Vergütungsfestsetzung im sozialgerichtlichen Verfahren gegenüber Verfahren aus anderen Prozessordnungen einschränken wollte, sind die Regelungen des RVG über die Beschwerde gegen Vergütungsfestsetzungen als Sonderregelungen anzusehen, die den allgemeinen Bestimmungen über die Beschwerde im sozialgerichtlichen Verfahren vorgehen (ebenso LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 24.9.2008 a.a.O.).

Die Vorschrift des § 197 Abs. 2 SGG - Ausschluss der Beschwerde gegen Entscheidungen des Sozialgerichts im Kostenfestsetzungsverfahren - ist für das Vergütungsfestsetzungsverfahren nach § 55 RVG bereits tatbestandlich nicht einschlägig. Die Vorschrift findet nur im Verhältnis der Beteiligten zueinander Anwendung. Soweit es um den Vergütungsanspruch des beigeordneten Anwalts gegenüber der Staatskasse geht, ist § 197 Abs. 2 SGG unanwendbar (ebenso LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 29.4.2008 - a.a.O; LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 17.7.2008 - L 1 B 127/08 SK).

Die Staatskasse ist gem. §§ 56 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 RVG beschwerdebefugt. Der Wert des Beschwerdegegenstandes übersteigt i.S.d. §§ 56 Abs. 2 S. 1, 33 Abs. 3 S. 1 RVG 200.- EUR, da die Staatskasse eine Gesamtvergütung i.H.v. 261,80 EUR für angemessen hält, während mit dem angefochtenen Beschluss 464,10 EUR festgesetzt werden.

Die Beschwerde ist indes nicht begründet. Das Sozialgericht hat die Vergütung zu Recht antragsgemäß mit 464,10 EUR festgesetzt.

Gem. § 3 Abs. 1 S. 1 RVG entstehen in Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit, in denen - wie hier, § 183 SGG - das GKG nicht anzuwenden ist, Betragsrahmengebühren. Bei Rahmengebühren bestimmt der Rechtsanwalt gem. § 14 Abs. 1 S. 1 RVG die Gebühr im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände, vor allem des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, der Bedeutung der Angelegenheit sowie der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers, nach billigem Ermessen. Ist die Gebühr von einem Dritten zu ersetzen, ist die vom Rechtsanwalt getroffene Bestimmung gem. § 14 Abs. 1 S. 4 RVG nicht verbindlich, wenn sie unbillig ist. Die Höhe der Gebühr bestimmt sich gem. § 2 Abs. 2 RVG nach dem Vergütungsverzeichnis der Anlage 1 zu diesem Gesetz.

Gem. Nr. 3102 VV/RVG beträgt die Verfahrensgebühr für Verfahren vor den Sozialgerichten, in denen Betragsrahmengebühren entstehen, 40-460 EUR. Ist eine Tätigkeit im Verwaltungs- oder Widerspruchsverfahren vorausgegangen, beträgt die Verfahrensgebühr gem. Nr. 3103 VV/RVG 20 - 320.EUR, die Mittelgebühr liegt dann bei 170 EUR.

Das Sozialgericht ist bei der Gebührenbemessung zu Recht von der Mittelgebühr ausgegangen.

Bei der Bestimmung der Betragsrahmengebühr ist von der Mittelgebühr auszugehen (jüngst BSG, Urteil vom 1.7.2009, B 4 AS 21/09 R - zitiert nach BSG-Pressemitteilung). Mit dieser Gebühr wird die Tätigkeit eines Rechtsanwaltes in einem Durchschnittsfall abgegolten. Ein Durchschnittsfall liegt vor, wenn die Tätigkeit des Anwalts gemessen an den in § 14 RVG bezeichneten Kriterien als durchschnittlich anzusehen ist. Es muss sich um eine Streitsache mit durchschnittlichem Umfang, durchschnittlicher Schwierigkeit, durchschnittlicher Bedeutung sowie durchschnittlichen Einkommens- und Vermögensverhältnissen des Auftraggebers handeln. Ob ein Durchschnittsfall vorliegt, ergibt sich aus einem Vergleich mit sonstigen sozialrechtlichen Streitverfahren und ist in einer wertenden Gesamtbetrachtung zu ermitteln (LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 28.7.2008 - L 19 AS 24/08). Im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende ist im Allgemeinen zwar von unterdurchschnittlichen Einkommens- und Vermögensverhältnissen des Auftraggebers auszugehen, andererseits handelt es sich angesichts der angespannten Einkommens- und Vermögensverhältnisse regelmäßig um eine bedeutsame Angelegenheit (BSG, Urteil vom 1.7.2009, a.a.O.). Ein einziges besonders hervorstechendes Kriterium ist geeignet, für sich die Billigkeit einer Gebührenhöhe zu begründen (LSG Thüringen, Beschluss vom 14.3.2001 - L 6 B 3/01 SF; Beschluss vom 23.2.2004 - L 6 B 54/03; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 26.4.2007 - L 7 B 36/07 AS).

Unter Zugrundelegung dieser Kriterien ist im vorliegenden Fall die Ansetzung der Mittelgebühr gerechtfertigt. Die Angelegenheit war für die Klägerin von weit überdurchschnittlicher Bedeutung. Die Klägerin hat sich gegen die Anrechnung von 115,50 EUR auf das ihr monatlich zustehende Alg-II gewandt. Unter Berücksichtigung ihres Gesamtbedarfs waren damit für den streitgegenständlichen Zeitraum mehr als 17% des Monatsbedarfs der Klägerin streitig. Der Streitgegenstand war zwar auf den Zeitraum vom 1.7.2008 bis zum 30.11.2008 beschränkt, jedoch handelt es sich bei der Frage, inwieweit das Kindergeld als eigenes Einkommen der Klägerin bei der Bedarfsberechnung nach dem SGB II zu berücksichtigen ist, um eine für die Rechtsbeziehung der Beteiligten grundsätzliche Frage, deren Beantwortung auch für spätere Leistungszeiträume von Bedeutung ist. Angesichts dieser überdurchschnittlichen wirtschaftlichen Bedeutung der Angelegenheit für die Klägerin kann der Umstand, dass ihre Einkommens- und Vermögensverhältnisse unterdurchschnittlich sind, bei der Frage, ob die Mittelgebühr anzusetzen ist, unberücksichtigt bleiben.

Die Schwierigkeit der Angelegenheit war durchschnittlich. Zwar beantwortet sich die streitentscheidende Rechtsfrage letztlich aus dem Gesetz selbst, jedoch nur unter Beachtung eines komplexen Normgefüges aus mehreren Gesetzen (§§ 11 Abs. 1 S. 2, 3 SGB II, 39 Abs. 6 SGB VIII, 31, 66 EStG). Der Bevollmächtigte der Klägerin hatte zudem die Richtigkeit eines Alg-II Bewilligungsbescheides zu prüfen, was ebenfalls eine mindestens durchschnittliche Schwierigkeit der Angelegenheit zu begründen geeignet ist.

Hiernach hat das Sozialgericht auch für die Terminsgebühr nach Nr. 3106 VV/RVG (20 - 380 EUR) zutreffend mit 200 EUR die Mittelgebühr angesetzt.

Die übrige vom Bevollmächtigten der Klägerin zu beanspruchende Vergütung resultiert aus Nr. 7002 VV/RVG (Pauschale für Entgelte für Post- und Telekommunikationsdienstleistungen) und Nr. 7008 VV/RVG (Umsatzsteuer) und wurde vom Sozialgericht zutreffend berechnet.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 56 Abs. 2 S. 3 RVG.

Die Entscheidung ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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