L 1 R 94/09

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 42 RA 609/04
Datum
-
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 1 R 94/09
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Das Verfahren L 1 R 69/07 ist durch Fiktion der Berufungsrücknahme beendet. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Fortsetzung des Berufungsverfahrens L 1 R 69/07, in dem die Beteiligten um die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit streiten.

Am 9. Januar 2004 beantragte die Klägerin, die keine Berufsausbildung abgeschlossen hat und zuletzt als Bürohilfe bei einer Zeitarbeitsfirma tätig gewesen ist, unter Hinweis auf eine Reihe gesundheitlicher Beeinträchtigungen, die ihre Leistungsfähigkeit einschränkten, die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente. Die Beklagte lehnte diesen Antrag nach Durchführung medizinischer Ermittlungen auf dem neurologisch-psychiatrischen und dem internistischen Fachgebiet mit Bescheid vom 31. März 2004 ab. Sie vertrat die Auffassung, die Versicherte könne noch leichte Tätigkeiten mit bestimmten qualitativen Einschränkungen sechs Stunden und mehr täglich im Rahmen einer Fünf-Tage-Woche verrichten. Der Widerspruch hatte keinen Erfolg.

Das Sozialgericht hat die auf die Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung beschränkte Klage durch Urteil vom 9. März 2007 abgewiesen. Es hat sich insoweit auf aktuelle Befundberichte der behandelnden Ärzte, eine Begutachtung auf dem internistischen Fachgebiet durch Dr. W. vom 25. August 2005 und eine neurologisch-psychiatrische Begutachtung vom 11. März 2006 durch Dr. B. gestützt. Beide medizinischen Sachverständigen waren nach Untersuchung der Klägerin übereinstimmend zu der Auffassung gelangt, dass diese bei erhaltener Wegefähigkeit unter Beachtung bestimmter qualitativer Einschränkungen jedenfalls noch leichte Tätigkeiten sechs Stunden und mehr täglich verrichten könne. Demgegenüber hatte der nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) angehörte Arzt für Nervenheilkunde/Psychotherapie Dr. H. dafürgehalten, dass zumutbare Tätigkeiten nur halb- bis untervollschichtig ausgeübt werden könnten.

Das ihrem Prozessbevollmächtigten am 21. März 2007 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 12. April 2007 mit der Berufung angefochten und auf eine Verschlechterung ihres gesundheitlichen Zustandes auf dem nervenärztlichen Fachgebiet hingewiesen. Daraufhin hat das Berufungsgericht eine ambulante Untersuchung und schriftliche Begutachtung durch den Arzt für Neurologie und Psychiatrie/Psychotherapie Dr. F. veranlasst. Dieser gelangt in seinem nervenärztlichen Gutachten vom 23. Januar 2008 zu der Überzeugung, dass bei der Klägerin eine depressive Verstimmung im Sinne einer leichten depressiven Episode mit somatischen Symptomen und Chronifizierungstendenz sowie eine Migräne mittelgradiger Verlaufsform bestehe. Zusätzlich leide die Versicherte an einer Autoimmunerkrankung der Haut mit zusätzlichen Organbeteiligungen, Diabetes mellitus, einer Bronchialerkrankung und Herzrhythmusstörungen. Sie könne aber leichte bis mittelschwere Tätigkeiten mit bestimmten qualitativen Einschränkungen ausüben. Die Klägerin hat ein Attest ihres Hausarztes eingereicht und die Auffassung vertreten, dass ein weiterer Aufklärungsbedarf insbesondere auf dem internistischen Fachgebiet bestehe. Dies betreffe vor allem den Lupus. Auch bedürfe es einer kardiologischen Abklärung. Nachdem die eingeholten Befundberichte ergeben hatten, dass eine interventionsbedürftige Herzerkrankung durch die behandelnden Ärzte ausgeschlossen wird, hat das Berufungsgericht unter Hinweis auf die bereits durch Dr. W. zu dem bei der Klägerin bestehenden Lupus erythematodes gemachten Ausführungen anheimgegeben, einen Arzt des Vertrauens nach § 109 SGG zu benennen, hierfür eine erste Frist bis zum 23. Mai 2008 und auf Bitten der Klägerin eine weitere Frist bis zum 8. Juni 2008 gesetzt. Die Versicherte hat sich innerhalb dieser Frist auf den Internisten Dr. S. berufen und das Gericht diesen durch Beweisanordnung vom 30. Juli 2008 zum medizinischen Sachverständigen nach § 109 SGG bestimmt. Den Untersuchungstermin bei Dr. S. am 26. August 2008 hat die Klägerin nicht wahrgenommen und sich hierfür auf fehlende Reisefähigkeit berufen. Sie hat alsdann Dr. W1 als Arzt ihres Vertrauens benannt, der sich aber aus zeitlichen Gründen nicht in der Lage sah, ein Gutachten zeitgerecht zu erstellen. Das Berufungsgericht hat mit Verfügung vom 26. November 2008 um Erklärung gebeten, wie weiter verfahren werden soll, nachdem Dr. W1 die Begutachtung abgelehnt habe. Die Klägerin hat daraufhin am 16. Dezember 2008 mitteilen lassen, dass sie sich um einen anderen Gutachter bemühe. Sie ist mit gerichtlicher Verfügung vom 6. Januar 2009 hieran erinnert worden. Schließlich hat das Berufungsgericht sie mit am 24. Februar 2009 zugestellter Verfügung vom 20. Februar 2009 unter Hinweis auf die Verfügung vom 26. November 2008 aufgefordert, das Verfahren innerhalb von drei Monaten dadurch zu betreiben, dass sie einen medizinischen Sachverständigen benenne. Gleichzeitig ist sie darauf hingewiesen worden, dass die Berufung nach §§ 102 Abs. 2 Satz 1, 153 Abs. 1 SGG als zurückgenommen gilt, wenn das Verfahren trotz dieser Aufforderung länger als drei Monate nicht betrieben werde. Mit am 25. Mai 2009 bei Gericht eingegangenem Schreiben hat die Klägerin insoweit um Fristverlängerung bis zum 25. Juni 2009 nachgesucht.

Mit Verfügung vom 28. Mai 2009 hat das Berufungsgericht die Rücknahme der Berufung nach §§ 153 Abs. 1, 102 Abs. 2 Satz 1 SGG festgestellt und gleichzeitig darauf hingewiesen, dass auf den noch am letzten Tage der mit gerichtlicher Verfügung vom 20. Februar 2009 gesetzten Frist eingegangenen Verlängerungsantrag eine Fristverlängerung nicht habe ausgesprochen werden können, weil es sich um eine gesetzliche Frist handele und die Fiktion der Rücknahme dementsprechend kraft Gesetzes eintrete. Eben so wenig habe das Schreiben vom 25. Mai 2009 als Betreiben gewertet werden können, weil es lediglich die Bitte um Fristverlängerung enthalte, nicht aber die erwartete Verfahrenshandlung – die Benennung des Sachverständigen – hierdurch vorgenommen worden sei.

Mit am 25. Juni 2009 bei dem Berufungsgericht eingegangenem Schreiben hat die Klägerin Dr. K., Facharzt für Innere Medizin, als Arzt ihres Vertrauens benannt und gebeten, dem Verfahren Fortgang zu geben. Sie habe durch ihren Antrag auf Fristverlängerung deutlich gemacht, dass sie das Verfahren weiter betreiben wolle.

Sie beantragt,

das Verfahren L 1 R 69/07 fortzusetzen, das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 9. März 2007 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 31. März 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. August 2004 zu verpflichten, ihr Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung seit dem 1. Februar 2004 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

festzustellen, dass das Verfahren L 1 R 69/07 durch Berufungsrücknahme beendet ist,

hilfsweise

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das Verfahren durch Rücknahme für beendet und vertritt des Weiteren die Auffassung, dass der Klägerin die begehrte Rente nicht zustehe.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und die ausweislich der Niederschrift über die öffentliche Senatssitzung vom 24. September 2009 zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Akten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Auf den auf Fortsetzung des Verfahrens gerichteten Antrag der Klägerin ist die Beendigung des Berufungsverfahrens in entsprechender Anwendung der Rücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 SGG durch Urteil festzustellen. Nach dieser Vorschrift gilt die Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger sie trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Sie gilt nach Auffassung des erkennenden Gerichts gemäß § 153 Abs. 1 SGG für das Berufungsverfahren entsprechend. Die Vorschriften über das Berufungsverfahren ergeben insoweit im Sinne von § 153 Abs. 1 (a.E.) SGG auch "nichts anderes". Der Senat folgt nicht der Auffassung von Keller (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 156 Rn. 1b), der für die dem § 92 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) nachgebildete Rücknahmefiktion nach § 102 Abs. 2 SGG vertritt, dass diese ausschließlich für das Klageverfahren gelte, weil das SGG keine dem § 126 Abs. 2 VwGO entsprechende Fiktion der Rücknahme der Berufung enthalte und es in der VwGO trotz der in § 126 Abs. 2 VwGO getroffenen Sonderregelung auch eine dem § 153 Abs. 1 SGG entsprechende Vorschrift, nämlich § 125 Abs. 1 VwGO gebe. Wenn nämlich stattdessen für das sozialgerichtliche Verfahren (lediglich) von einer fingierten Klagerücknahme im Berufungsverfahren ausgegangen würde (vgl. Keller, a.a.O., § 102 Rn. 8 b), dann würden hiervon diejenigen Fälle nicht erfasst, in denen ein Kläger im ersten Rechtszug teilweise obsiegt hat und alsdann das von ihm wegen des Teilunterliegens anhängig gemachte Berufungsverfahren nicht betreibt. In einem solchen Falle vermag bei fehlendem Betreiben im Berufungsverfahren der Hinweis auf die Fiktion der Rücknahme der Klage nicht zu überzeugen. Das Beispiel zeigt, dass der Gesetzgeber offenbar schlicht übersehen hat, dass auch im Berufungsverfahren fehlendes Betreiben vorliegen kann und hierfür eine gesetzliche Handhabe zu schaffen ist. Hierfür spricht auch, dass das Problem in den Materialien (BT-Drs. 16/7716, Seite 13, 14 und 19, 20; BR-Drs. 820/07; BT-PPr. 16/136; BT-Drs. 16/8217) keine Erwähnung findet, vielmehr auch dort stets nur von der fingierten Klagerücknahme gesprochen wird.

Ein der entsprechenden Anwendung von § 102 Abs. 2 SGG im Berufungsverfahren entgegenstehender Wille des Gesetzgebers ist danach nicht festzustellen. Es liegt vielmehr eine unplanmäßige Lücke vor, die durch entsprechende Anwendung des § 102 Abs. 2 SGG auf das Berufungsverfahren zu schließen ist.

Die Voraussetzungen einer fingierten Berufungsrücknahme liegen auch vor. Der Fortgang des Verfahrens war über Monate dadurch verzögert worden, dass nach Durchführung umfänglicher medizinischer Ermittlungen in zwei Rechtszügen einerseits die Anhörung eines Arztes nach § 109 SGG gewünscht wurde, diese jedoch nicht zustande kam und andererseits die Klägerin stets beteuerte, sich um einen (anderen) Gutachter zu bemühen. In dieser Situation kam eine Betreibensaufforderung nach § 102 Abs. 2 SGG in Betracht. Indem nämlich die Klägerin der Aufforderung, einen Sachverständigen zu benennen, innerhalb der Frist nachkam, konnte sie dokumentieren, dass ihr trotz erfolgter Verzögerung des Rechtsstreits an einer Entscheidung des Rechtsstreits noch gelegen war (zum Erfordernis sachlich begründeter Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses als Voraussetzung für eine Betreibensaufforderung vgl. BVerwG, Beschl. vom 12.04.2001 – 8 B 2/01NVwZ 2001, 918). Jedoch hat die Klägerin innerhalb der gesetzlichen Frist des § 102 Abs. 2 SGG keine in diesem konkreten Sinne das Verfahren fördernde Äußerung gemacht. Da es sich um eine gesetzliche Frist handelt, kam auch eine Verlängerung nicht in Betracht. In der bloßen Bitte um Verlängerung der gesetzlichen Frist kann eine solche Äußerung schließlich auch nicht erblickt werden. Einem solchen Vorgehen stünde das gesetzgeberische Anliegen entgegen, eine Beendigung des Verfahrens immer dann zu fingieren, wenn ein Kläger eine notwendige Beteiligung nicht innerhalb der gesetzlichen Frist vornimmt. Deshalb ist die Sache am 28. Mai 2009 zu Recht als aufgrund Rücknahme erledigt ausgetragen worden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache.

Der Senat hat die Revision gegen dieses Urteil wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG). Es bedarf der Klärung, ob § 102 Abs. 2 SGG im Berufungsverfahren entsprechend anwendbar ist.
Rechtskraft
Aus
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