L 6 SB 3236/08

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 6 SB 3775/05
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 SB 3236/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Beklagen wird das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 30.04.2008 abgeändert. Die Klage wird in vollem Umfang abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten im Rahmen eines Neufeststellungsverfahrens um das Vorliegen der Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers.

Auf einen früheren Erhöhungsantrag stellte das damalige Versorgungsamt F. mit Bescheid vom 08.02.2001 bei dem im Jahre 1960 geborenen Klägers einen Grad der Behinderung (GdB) von 40 sowie das Vorliegen einer dauernden Einbuße der körperlichen Beweglichkeit jeweils seit dem 17.11.2000 fest. Dem lagen die Funktionsbeeinträchtigungen "Hüftdysplasie beidseitig, Funktionsbehinderung des rechten Kniegelenks bei Arthrose und Knorpelschäden am rechten Kniegelenk (Einzel-GdB 40), Funktionsbehinderung des linken Hüftgelenks (muskulär - Einzel-GdB 10) und degenerative Veränderungen der Wirbelsäule (Einzel-GdB 10) zu Grunde.

Am 10.12.2004 beantragte der Kläger die Erhöhung des GdB sowie die behördliche Feststellung einer erheblichen Gehbehinderung (Merkzeichen G) wegen Verschlimmerung der bisher berücksichtigten bzw. neu aufgetretener Gesundheitsstörungen. Dabei gab er an, er leide an einem Zustand nach Tripleosteotomie beidseits 1989 und 1991, einer Coxarthrose beidseits, chronischen rezidivierenden Gonalgien bei initialer Retropatellararthrose beidseits und Zustand nach Knietrauma mit Kreuzbandverletzung, rezidivierenden Zervikalgien bei degenerativen HWS-Syndrom sowie an Chondrosen und Spondylosen L4/5 und L3/4 - zusätzlich D 10-12 -.

Die Beklagte zog ärztliche Unterlagen, insbesondere den Entlassungsbericht der Breisgau-Klinik Bad K. vom 20.12.2004 über die stationäre Rehabilitationsbehandlung des Klägers vom 24.11. bis zum 15.12.2004 bei. Darin sind als Diagnosen Zustand nach Tripleosteotomie beidseits 1988/1991 (mäßige Bewegungseinschränkungen im Hüftbereich mit fortbestehender Schmerzangabe bei Bewegungsprüfung), beginnende Gonarthrose beidseits und mediale Meniskopathie, degeneratives Zervikalsyndrom und Adipositas aufgeführt. Gestützt auf eine versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. T.-T. lehnte das zwischenzeitlich zuständige Landratsamt O. mit Bescheid vom 07.04.2005 die Neufeststellung des GdB sowie die Feststellung von Merkzeichen ab, da keine Verschlimmerung der zutreffend bewerteten Funktionsbeeinträchtigungen eingetreten sei und damit die Schwerbehinderteneigenschaft nicht vorliege. Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies das Regierungspräsidium Stuttgart nach Einholung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. M. mit Widerspruchsbescheid vom 11.08.2005 im Wesentlichen aus den Gründen des Ausgangsbescheides zurück.

Am 13.09.2005 hat der Kläger beim Sozialgericht Freiburg Klage erhoben und sein auf behördliche Feststellung eines GdB von wenigstens 50 gerichtetes Begehren weiterverfolgt.

Das Sozialgericht hat schriftliche sachverständige Zeugenaussagen behandelnder Ärzte, der Orthopäden R. (im Wesentlichen Übereinstimmung mit der Auffassung des versorgungsärztlichen Dienstes, jedoch Einschätzung des Gesamt-GdB unter Würdigung der komplexen Beeinträchtigung des Stütz- und Bewegungsapparates auf 50) und Dr. K. (Übereinstimmung mit der Einschätzung des versorgungsärztlichen Dienstes) sowie des Internisten Dr. W. (keine Einschätzung der Funktionsbeeinträchtigungen, da die in Frage stehenden Gesundheitsstörungen auf orthopädischem Fachgebiet lägen) eingeholt. Darüber hinaus haben der Chefarzt der Orthopädischen Klinik des O.-Klinikums O. in Gengenbach, Dr. Sch. unter dem 03.03.2007 (keine Erhöhung des Gesamt-GdB von 40 durch neu festgestellte leichte Funktionsbeeinträchtigungen der rechten Hand und des rechten Schultergelenks) und auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) der Facharzt für Orthopädie Prof. Dr. B. unter dem 04.07.2007 (Gesamt-GdB 50 unter Einbeziehung eines bislang unberücksichtigten Bandscheibenvorfalls C4/5) schriftliche Sachverständigengutachten erstattet.

Der Beklagte hat unter Vorlage einer versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. W. vorgetragen, die Funktionsbeeinträchtigungen der Wirbelsäule seien angesichts der noch nicht mittelgradigen Funktionsbeeinträchtigungen nicht geeignet, den Gesamt-GdB zu erhöhen.

Das Sozialgericht hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 30.04.2008 zu den von seiner Wirbelsäule ausgehenden Beschwerden befragt. Wegen seiner Angaben wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.

Mit Urteil vom 30.04.2008 hat das Sozialgericht den Bescheid vom 07.04.2005 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 11.08.2005 aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, beim Kläger unter Aufhebung des Bescheides des Versorgungsamts Freiburg vom 08.02.2001 ab dem 28.06.2007 einen GdB von 50 festzustellen. Zur Begründung ist unter Darstellung der rechtlichen Voraussetzungen für die zu treffende Entscheidung sowie der Maßstäbe für die Ermittlung des GdB ausgeführt, die Funktionsbehinderung beider Hüftgelenke sowie des rechten Kniegelenks sei mit einem Teil-GdB von 40 angemessen bewertet. Darüber hinaus sei für die Gebrauchseinschränkungen am rechten Arm des Klägers ein Teil-GdB von 10 anzusetzen. Die Beeinträchtigungen der Lenden- und der Halswirbelsäule seien mit einem Teil-GdB von 20 in die Gesamtbeurteilung einzustellen. Zwar seien die Bewegungsmaße nicht geeignet, mittelgradige Beeinträchtigungen in einem Wirbelsäulenabschnitt anzunehmen. Indes habe der Kläger in der mündlichen Verhandlung glaubhaft häufig rezidivierende und Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome angegeben. Unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der Funktionsbeeinträchtigungen seien deren Auswirkungen mit einem Gesamt-GdB von 50 angemessen bewertet. Der Kläger sei in seinem Gesamtzustand mit einem entsprechend einzustufenden behinderten Menschen mit beidseitig mittelgradigen Bewegungseinschränkungen der Hüftgelenke vergleichbar. Diese Entscheidung ist der Beklagten am 26.06.2008 zugestellt worden.

Am 08.07.2008 hat der Beklagte Berufung eingelegt. Er trägt gestützt auf eine neuerliche versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. W. vor, die Angaben des Klägers zur Schmerzhaftigkeit seiner Halswirbelsäulenbeschwerden widersprächen seinen Vorbringen im Rahmen der Untersuchung durch Dr. Sch ... Die für die Beurteilung allein relevanten objektivierbaren Beeinträchtigungen seines Wirbelsäulenleidens ließen aber keinen höheren Teil-GdB als 10 und damit auch keinen höheren Gesamt-GdB als 40 zu.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 30.04.2008 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das angegriffene Urteil und bekräftigt seine in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht gemachten Angaben zu den von seiner Halswirbelsäule ausgehenden Beschwerden.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten des Senats und des Sozialgerichts Freiburg sowie die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat entscheidet im erklärten Einverständnis der Beteiligten sowie in Anwendung des ihm danach gesetzlich eingeräumten Ermessens ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

Die Berufung ist zulässig und begründet. Im Ergebnis zu Unrecht hat das Sozialgericht die angegriffenen Bescheide aufgehoben und den Beklagten zur Aufhebung des Bescheides des Versorgungsamts F. vom 08.02.2001 nebst Feststellung eines GdB von 50 ab dem 28.06.2007 verpflichtet. Denn die den Erhöhungsantrag des Klägers ablehnenden Behördenentscheidungen sind rechtmäßig und verletzen den Kläger daher nicht in seinen Rechten.

Die Prozess- und verfahrensrechtlichen Grundlagen der zu treffenden Entscheidung sowie die für die Festsetzung des GdB maßgeblichen Grundsätze hat das Sozialgericht im angegriffenen Urteil zutreffend dargestellt; hierauf wird verwiesen. Ergänzend ist auszuführen, dass die seit dem 01.01.2009 geltenden, die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)" - AHP - ablösenden und mit dem Rang einer Rechtsverordnung ausgestatteten Versorgungsmedizinischen Grundsätze - VG - (Anlage zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes [Versorgungsmedizin-Verordnung - VersMedV -] vom 10.12.2008 [Bundesgesetzblatt I Seite 2904; abgedruckt im Anlageband zum Bundesgesetzblatt I Nr. 57 vom 15.12.2008]), die nach § 69 Abs. 1 Satz 5 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) vorliegend entsprechende Anwendung finden, jedenfalls im hier maßgeblichen Umfang gegenüber den vom Sozialgericht zutreffend noch angewandten AHP keine Änderungen vorsehen.

Weder in Anwendung der AHP noch unter Zugrundelegung der VG liegt aber eine rechtserhebliche Verschlimmerung der Funktionsbeeinträchtigungen des Klägers vor. Vielmehr ist der mit Bescheid des Versorgungsamts Freiburg vom 08.02.2001 festgestellte Gesamt-GdB von 40 weiterhin angemessen.

Auszugehen ist dabei von der Funktionsbehinderung beider Hüftgelenke nach den die beidseitige Hüftdysplasie beseitigenden Tripleosteotomien (vergleiche hierzu das Gutachten von Prof. Dr. B.) links im Jahre 1988 und rechts im Jahre 1991. Insoweit haben die gerichtlichen Sachverständigen Dr. Sch. und Prof. Dr. B. als Bewegungsmaße für Streckung/Beugung rechts 0-0-90 Grad und links 0-0-110 Grad (Dr. Sch.) bzw. 0-0-100 Grad (Prof. Dr. B.) erhoben. Diese beidseitig geringgradige Einschränkung der Streck- und Beugefähigkeit ist nach den AHP (Nr. 16.18 Seite 124) und den VG (Nr. 18.14) angesichts der von den Sachverständigen zugleich ermittelten Einschränkungen für die Abduktion/Adduktion von rechts 30-0-20 Grad und links 35-0-20 Grad (Dr. Sch.) bzw. 30-0-20 Grad (Prof. Dr. B.) sowie für die Außen-/Innenrotation von rechts 30-0-10 Grad (Dr. Sch.) bzw. 30-0-0 Grad (Prof. Dr. B.) und links 30-0-20 Grad (Dr. Sch.) bzw. 30-0-10 Grad (Prof. Dr. B.) für sich allein mit einem Teil-GdB von 30 zu bemessen. Unter Einbeziehung des nach den übereinstimmenden Befunden der gerichtlichen Sachverständigen vorliegenden beidseitigen Leistendruckschmerzes sowie der geringgradigen Funktionsbehinderung des rechten Kniegelenks (Prof. Dr. B.: Teil-GdB 10) ergibt sich für die unteren Gliedmaßen zusammengenommen nur knapp ein Teil-GdB von 40.

Angesichts dessen vermögen die übrigen Funktionsbeeinträchtigungen des Klägers einen Gesamt-GdB von 50 auch dann nicht zu tragen, wenn man für seine Gesundheitsstörungen an der Hals- und Lendenwirbelsäule einen Teil-GdB von 20 in Ansatz bringt. Denn die vom Kläger insoweit selbst in den Vordergrund gestellten Gesundheitsstörungen an der Halswirbelsäule gehen selbst nach den von Prof. Dr. B. erhobenen Befunden (Kopfdrehung rechts 70 Grad, links 50 Grad; Seitneigung beidseits 30 Grad) im Wesentlichen mit nur geringen Bewegungseinschränkungen einher. Die vom Kläger in der mündlichen Verhandlung gegenüber dem Sozialgericht angegebenen Schmerzen erhöhen das Gesamtausmaß der Behinderung nicht wesentlich. Insbesondere führen sie nicht zu einer Verstärkung der Funktionsbeeinträchtigungen an den unteren Gliedmaßen. Damit ist es wie vielfach (vergleiche hierzu Nr. 19 Abs. 4 der AHP sowie Teil A 3. d ee der VG) nicht gerechtfertigt, selbst bei Annahme eines Teil-GdB von 20 für die Funktionsbeeinträchtigungen der Wirbelsäule des Klägers auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbehinderung zu schließen. Vergleichbares gilt schließlich für die von Prof. Dr. B. angeführte leichte Funktionsbehinderung des rechten Armes durch Arthrose im Schultereckgelenk, Daumen- und Mittelfingergrundgelenk mit einem Teil-GdB von 10. Denn derartige Gesundheitsstörungen führen von - hier nicht vorliegenden - Ausnahmefällen abgesehen gleichfalls nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung (vergleiche auch hierzu Nr. 19 Abs. 4 der AHP und Teil A 3. d ee der VG). Diese Gesamtwürdigung der verschiedenen Funktionsbeeinträchtigungen entspricht schließlich auch einem Vergleich mit Gesundheitsschäden, zu denen in der Tabelle feste GdB-Werte angegeben sind (vergleiche zu diesem Kriterium Nr. 19 Abs. 2 der AHP sowie Teil A 3. a der VG). Insbesondere sind nämlich die Funktionsbeeinträchtigungen des Klägers in ihrer Gesamtauswirkung nicht so erheblich, wie beispielsweise im Falle einer beidseits mittelgradigen Bewegungseinschränkung der Hüftgelenke zum Beispiel mit Streckungs/Beugung bis zu 0-30-90 Grad mit entsprechender Einschränkung auch der Dreh- und Spreizfähigkeit oder des Verlustes eines Beines im Unterschenkel, für die in den AHP (Nr. 26.18 Seite 125 und Seite 123) und in den VG (vergleiche Nr. 18.14) ein GdB von 50 und damit zugleich auch die Schwerbehinderteneigenschaft vorgesehen ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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