L 9 AS 335/07 ER

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
9
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
S 15 AS 372/07 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 9 AS 335/07 ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Wiesbaden vom 16. August 2007 wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die außergerichtlichen Kosten für das Beschwerdeverfahren zu erstatten.

Gründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde der Antragsgegnerin, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat, bleibt ohne Erfolg.

Das Sozialgericht hat mit dem angegriffenen Beschluss im Ergebnis zu Recht die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 19.07.2007 gegen den Sanktionsbescheid der Antragsgegnerin vom 09.07.2007 angeordnet, mit dem vom 01.08.2007 bis 31.10.2007 die Regelleistung für den Antragsteller um 30 % (104,00 EUR) abgesenkt werden sollte.

Zutreffend hat das Sozialgericht zunächst festgestellt, dass es sich bei dem genannten Bescheid um eine Entscheidung über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende handelt, bei der gemäß § 39 Nr. 1 Sozialgesetzbuch zweites Buch (SGB II) i.V.m. § 86a Abs. 2 Nr. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage entfällt. Bei Vorliegen der Voraussetzungen kann das Gericht auf Antrag gemäß § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage anordnen, wenn dies aufgrund der vorzunehmenden Abwägung von öffentlichen und privaten Interessen und der Prüfung der Erfolgsaussichten des Widerspruchs angezeigt erscheint.

Dies ist vorliegend zu bejahen, denn es bestehen unter mehreren Gesichtspunkten Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Sanktionsbescheides, da jedenfalls im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nicht abschließend geklärt werden kann, ob die Voraussetzungen für die Absenkung des Regelsatzes um 30 % nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1c SGB II hier vorgelegen haben. Dann müsste der Antragsteller sich geweigert haben, eine zumutbare Arbeit, Ausbildung oder Arbeitsgelegenheit oder eine sonstige in der Eingliederungsvereinbarung vereinbarte Maßnahme aufzunehmen oder fortzuführen.

Dabei geht der Senat nicht davon aus, dass die Arbeitsgelegenheit bei den B. Werkstätten A-Stadt, Stadtteil-Service für den Antragsteller grundsätzlich unzumutbar gewesen ist. Zwar hat er ein ärztliches Attest vorgelegt, in dem ein chronisches Lendenwirbelsyndrom mit Muskelhartspann diagnostiziert wird. Dies sind jedoch Rückenbeschwerden, die weit verbreitet sind. Dementsprechend hat der von der Bundesagentur für Arbeit herangezogene Gutachter auch erklärt, der Antragsteller könne grundsätzlich eine vollschichtige Beschäftigung leistungsbildadäquat ausüben, aufgrund belastungsabhängiger Wirbelsäulen- und Kniegelenksbeschwerden dürfe er allerdings nur gelegentlich mittelschwer arbeiten. Da der Antragsteller sich zu der angebotenen Arbeitsgelegenheit gar nicht erst eingefunden hat, ist auch nicht ersichtlich, dass er dort nur schwere Arbeiten hätte leisten müssen. Vielmehr bieten die B. Werkstätten eine Vielzahl von Tätigkeiten in den verschiedensten Bereichen an.

Es kann aber nicht festgestellt werden, dass der Antragsteller sich tatsächlich geweigert hat, die Arbeitsgelegenheit anzutreten. Zwar könnte für eine gewisse Verweigerungshaltung die vorgenannte Tatsache sprechen, dass er sich aufgrund von vorher nie erwähnten Rückenbeschwerden schon vor Beginn der Maßnahme hat krankschreiben lassen. Unterstützt wird der Eindruck einer ablehnenden Haltung gegenüber der Maßnahme auch durch die Tatsache, dass der Antragsteller den ihm ausgehändigten Sachleistungsgutschein zur Beschaffung von Arbeitskleidung und Arbeitsmitteln nicht eingelöst hat. Tatsache ist aber ebenso, dass er ärztlicherseits für den Zeitraum vom 18.06.2007 bis zum 29.06.2007 als arbeitsunfähig eingestuft wurde und er insoweit entschuldigt war. Zwar kann man die Ansicht vertreten, dass der Antragsteller sich nach der Genesung auf jeden Fall bei den B. Werkstätten hätte melden müssen in Anbetracht der Tatsache, dass die Eingliederungsvereinbarung die Wahrnehmung der Arbeitsgelegenheit für einen Zeitraum von 9 Monaten bis zum 31.03.2008 vorsah, so dass es sich eigentlich hätte aufdrängen müssen, dass eine ca. 2 wöchige Erkrankung nicht dazu führen kann, dass eine 9 Monate dauernde Maßnahme nicht wahrgenommen wird.

Im vorliegenden Fall ergibt sich jedoch aufgrund des Schreibens der Antragsgegnerin vom 26.06.2007 eine so unklare Situation, dass sie jedenfalls dem Antragsteller nicht zu seinem Nachteil angerechnet werden kann. Auch ein unbefangener Leser kann das Anschreiben ohne weiteres so verstehen, wie es der Antragsteller möglicherweise auch getan hat, dass nämlich aufgrund des krankheitsbedingten Nichterscheinens bei der zugewiesenen Arbeitsgelegenheit ein Termin vereinbart wird, um diesbezüglich über die berufliche Situation zu sprechen. Dies legt in der Tat nahe, dass nach einer neuen Arbeitsgelegenheit gesucht werden sollte. Um dem Schreiben eine eindeutige Richtung zu geben, wäre es hilfreich gewesen, den Antragsteller zusätzlich darauf hinzuweisen, dass ihn die Wahrnehmung des Beratungsgesprächs am 18.07.2007 nicht von der Verpflichtung entbindet, nach der Genesung bei der vorgesehenen Arbeitsgelegenheit zu erscheinen. Angesichts des Versäumnisses einer Klarstellung und des interpretationsfähigen Inhalts des Schreibens kann jedenfalls nicht zu Lasten des Antragstellers eine so weitgehende Sanktionsregelung wie die Absenkung der Regelsätze um 30 % getroffen werden, da insoweit das Tatbestandsmerkmal der Weigerung nicht festgestellt werden kann.

Bei dieser Sachlage kann es dahingestellt bleiben, ob die in der Eingliederungsvereinbarung ins Auge gefasste Arbeitsgelegenheit gegebenenfalls auch wegen ihres zeitlichen Umfangs nicht zumutbar war. Das Bundesverwaltungsgericht hatte zu den entsprechenden Regelungen im Bundessozialhilfegesetz (§§ 19, 25 BSHG) die Auffassung vertreten, nach dem Charakter der gemeinnützigen und zusätzlichen Arbeit als einer "Hilfe zur Arbeit" dürfe diese von ihrem Sinn und Zweck her keine vollschichtige Arbeit sein, die zusammen mit dem Regelsatz am Ende einen der Arbeit entsprechenden angemessenen "Stundenlohn" ergebe (vgl. BVerwG, Urteil vom 13.10.1983 – 5 C 67/82 -, BVerwGE 68, 91). In der sozialrechtlichen Literatur wird verbreitet nur eine Arbeitsgelegenheit mit einem zeitlichen Umfang von bis zu 20 Wochenstunden für zulässig gehalten (vgl. Niewald in LPK – SGB II, 2. Aufl., § 16, RdNr. 46; Eicher in Eicher/Spellbrink, SGB II, Komm., § 16, RdNr. 227). Demgegenüber deutet sich in der Rechtsprechung die Tendenz an, dass jedenfalls eine Tätigkeit im Umfang von 30 Wochenstunden als zulässig erachtet wird und dass sogar gegebenenfalls eine höhere Wochenstundenzahl denkbar wäre, soweit der Hilfebedürftige nach dem Stand seiner Fähigkeiten und Fertigkeiten für eine Tätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht ernsthaft in Betracht kommt (vgl. insoweit LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28.09.2006 – L 14 B 518/06 AS; Bayrisches LSG, Urteil vom 29.06.2007 – L 7 AS 199/06 -). Vor dem Hintergrund dieser Entscheidungen und der Tatsache, dass der Antragsteller seit fast 7 Jahren arbeitslos ist, wäre es unter der Voraussetzung einer Freistellung von der Arbeitsgelegenheit zur Wahrnehmung eines konkreten Vorstellungstermins durchaus nicht von vorn herein abwegig, auch eine mehr als 30 Stunden umfassende Wochenarbeitszeit zuzulassen. Andererseits muss beachtet werden, dass die Arbeitsgelegenheit ihren schon vom Bundesverwaltungsgericht beschriebenen Charakter behalten sollte und Maßnahmen zur Heranführung an einen geregelten Arbeitsablauf nach langjähriger Arbeitslosigkeit vielmehr im Rahmen der Möglichkeiten nach dem Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) durch die Bundesagentur für Arbeit eingeleitet werden sollten. Insgesamt handelt es sich hier um eine streitige Rechtsfrage, deren Beantwortung unter Berücksichtigung aller Aspekte dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben muss.

Nur zur Abrundung und als Hinweis an die Antragsgegnerin ist noch auszuführen, dass die der Eingliederungsvereinbarung beigefügte Rechtsfolgenbelehrung deshalb Bedenken begegnet, weil sie sich im Wesentlichen in der Wiederholung des Gesetzestextes erschöpft. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Arbeitsförderungsgesetz (vgl. BSG, 10.12.1981 – 7 RAr 24/81 – SozR 4100, § 119 AFG, Nr. 18 und 31.05.1987 – 7 RAr 90/85 – SozR 4100, § 119 AFG Nr. 31) hat die Rechtsfolgenbelehrung eine Warn- und Erziehungsfunktion, die dem Hilfebedürftigen konkret, eindeutig und verständlich die Auswirkungen eines bestimmten Handelns vor Augen führen und erkennen lassen muss, was von dem Hilfebedürftigen verlangt wird, um eine Absenkung der Bezüge zu vermeiden. Auf die nähere Untersuchung dieser Frage kommt es im vorliegenden Fall aber aufgrund der vorstehenden Ausführungen nicht mehr an.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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