L 6 AL 154/07

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 7 AL 1514/04
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 AL 154/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die Ersetzung eines Verwaltungsaktes stellt sich als Aufhebung des ursprünglichen Verwaltungsaktes und Erlass eines neuen Verwaltungsaktes dar.

Rechtsgrundlage für die Aufhebung eines Verwaltungsaktes im Rahmen einer Ersetzung sind die §§ 44 ff SGB X (BSG, Großer Senat, Bschluss v. 6. Oktober 1994, - GS 1/91 -).
Bei der Aufhebung eines Verwaltungsakt mit untrennbarer Doppelwirkung, der zugleich sowohl begünstigend als auch belastend wirkt, müssen die Voraussetzen des § 44 SGB X und § 45 SGB X gleichzeitig beachtet werden.

Bei einem Abzweigungsentscheidung nach § 48 SGB I handelt es sich um einen Verwaltungsakt mit untrennbarer Doppelwirkung.
I. Die Bescheide der Beklagten vom 7. Januar 2008 werden aufgehoben.

II. Die Beklagte hat dem Kläger seine außergerichtlichen Kosten für beide Instanzen zu erstatten. Im Übrigen haben die Beteiligten einander keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten im vorliegenden Berufungsverfahren über die Rechtmäßigkeit einer Abzweigung von Unterhaltsbeträgen aus dem Arbeitslosengeld des Klägers für die Zeit vom 1. Mai 2004 bis 22. September 2004 in Höhe von insgesamt 10,09 EUR kalendertäglich an den Beigeladenen.

Der 1967 geborene Kläger war zum Zeitpunkt der Antragstellung bei der Beklagten (Januar 2004) verheiratet. Jedenfalls ab März 2004 lebte er von seiner Ehefrau getrennt. Aus der Ehe sind drei Kinder hervorgegangen (W., geboren 1995, X., geboren 1991 und Y., geboren 1989). Ab dem 27. Januar 2004 stand der Kläger im Bezug von Arbeitslosengeld bei der Beklagten für eine Anspruchsdauer von 240 Kalendertagen nach einem Bemessungsentgelt von 524,98 EUR wöchentlich in der Leistungsgruppe C zum erhöhten Leistungssatz. Aus den internen Berechnungen der Beklagten ergibt sich, dass das Arbeitslosengeld des Klägers im hier maßgeblichen Zeitraum monatlich 1.140,53 EUR betrug.

Mit Schreiben vom 5. April 2004 (Sozialamt des Beigeladenen) und 5. Mai 2004 (Jugendamt des Beigeladenen), beide bei der Beklagten eingegangen am 6. Mai 2004, beantragte der Beigeladene jeweils die Auszahlung eines angemessenen Betrages aus den laufenden Leistungen des Klägers aufgrund § 48 Sozialgesetzbuch, Erstes Buch – Allgemeiner Teil - (SGB I). Diese Anträge begründete der Beigeladene damit, dass der Kläger gegenüber seinen drei minderjährigen Kindern und der Kindesmutter unterhaltspflichtig sei, dieser Unterhaltspflicht jedoch nicht nachkomme. Der Beigeladene erbringe daher Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz (UVG) für das Kind W. A. sowie für alle Kinder des Klägers und dessen Ehefrau weitere Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG). Hinsichtlich des Abzweigungsantrages für den Sohn W. wurde der Kläger mit Schreiben vom 6. Mai 2004 angehört, wobei der Kläger angab, dass er zahlungsunfähig sei. Der Abzweigungsantrag des Jugendamtes des Beigeladenen wurde mit Schreiben vom 19. Mai 2004 zurückgenommen, da die Unterhaltsansprüche insgesamt vom Sozialamt des Beigeladenen geltend gemacht werden würden. Mit an den Beigeladenen gerichteten Bescheid vom 24. Mai 2004 entsprach die Beklagte dem Antrag des Beigeladenen auf Auszahlung eines angemessenen Teils der laufenden Geldleistungen des Klägers und zweigte von diesen Geldleistungen täglich 10,09 EUR ab. Der jeweilige Geldbetrag wurde einbehalten und an den Beigeladenen überwiesen.

Dem Kläger wurde mit Schreiben vom 19. Mai 2004 eine Durchschrift dieses Bescheides übermittelt. Dieser erhob am 7. Juni 2004 (Eingang bei der Beklagten) gegen den Bescheid vom 24. Mai 2004 Widerspruch. Zur Begründung trug der Kläger im Wesentlichen vor, dass er aufgrund ehebedingter Verbindlichkeiten nicht leistungsfähig sei und schon ohne Abzweigung nicht wisse, wovon er leben solle.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 29. Juni 2004 als unbegründet zurück. Hiergegen hat der Kläger am 2. August 2004 (Eingang bei Gericht) Klage erhoben. Zur Begründung hat der Kläger im Wesentlichen weiter verdeutlicht, dass er nicht leistungsfähig sei. Die Beklagte habe bei ihrer Berechnung zu Unrecht seine ehebedingten Verbindlichkeiten nicht berücksichtigt.

Das Sozialgericht hat mit Beschluss vom 29. April 2005 den Werra-Meißner Kreis zum Verfahren beigeladen.

Mit Urteil vom 5. Juli 2007 hob das Sozialgericht den Bescheid der Beklagten vom 24. Mai 2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29. Juni 2004 auf und verpflichtete die Beklagte, die Folgen der Vollziehung des angefochtenen Bescheides rückgängig zu machen und dem Kläger für die Zeit ab Mai 2004 das an den Beigeladenen abgezweigte Arbeitslosengeld in Höhe von 10,09 EUR kalendertäglich auszuzahlen. Zur Begründung hat das Sozialgericht im Wesentlichen ausgeführt, dass sich der Streitgegenstand auf die Zeit vom 1. Mai 2004 bis 22. September 2004 begrenze, da zum 22. September 2004 der Arbeitslosengeldanspruch des Klägers geendet habe. Soweit auch darüber hinaus eine Abzweigung stattgefunden habe, betreffe dies nicht den vorliegenden Streitgegenstand, da die hierzu ergangenen Bescheide der Beklagten nicht mit der hiesigen Klage angefochten seien. Weiterhin sei der Kläger wohl unterhaltsverpflichtet und seiner Unterhaltsverpflichtung nicht nachgekommen, so dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 48 SGB I erfüllt seien. Dennoch sei der Bescheid der Beklagten rechtswidrig, da dieser inhaltlich nicht hinreichend bestimmt sei. Es erfolge in diesen Bescheiden keine ausdrückliche Aufteilung des Abzweigungsbetrages bezogen auf die jeweils einzelnen Kinder des Klägers. Der Abzweigungsbetrag werde vielmehr nur in seiner Gesamtheit dargestellt. Der erforderliche Akt der Teilung des Abzweigungsbetrages sei, wie die Abzweigung insgesamt, ein Ermessensakt, der es auch ermögliche, wegen des gegenüber dem Kind erbrachten Unterhaltes unterschiedliche Abzweigungsbeträge festzusetzen, so dass nicht als selbstverständlich unterstellt werden könne, dass bei einem einheitlich verfügten Abzweigungsbetrag jeweils ein Drittel auf den Unterhalt jedes Kindes entfalle. Vielmehr müsse die Abzweigungsentscheidung deutlich erkennen lassen, in welcher Höhe welcher Unterhaltsanspruch im Einzelnen betroffen sei.

Die Beklagte hat gegen dieses, ihr am 23. August 2007 zugestellte Urteil am 19. September 2007 Berufung eingelegt. Zur Begründung trägt die Beklagte vor, dass dem Urteil des Sozialgerichts zwar inhaltlich zu folgen sei, die Beklagte jedoch den fehlerhaften Bescheid vom 25. Mai 2004 nunmehr durch Bescheide vom 7. Januar 2008 ersetzt habe, die gemäß §§ 153, 96 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zum Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden seien. Diesen Bescheiden lasse sich entnehmen, welcher Teil des Abzweigungsbetrages welchem Kind zuzuordnen sei. Auch ergebe sich aus diesen Bescheiden, welche Ermessenserwägungen der Entscheidung der Beklagten hinsichtlich der Abzweigung zu Grunde gelegen hätten. Nach Auffassung der Beklagten ist die Ersetzung von Bescheiden, die im Rahmen einer Anfechtungsklage durch das Gericht aufgehoben wurden, zulässig, soweit die Aufhebung auf einem Ermessensfehler beruhe. Dem erneuten Erlass von Bescheiden stehe in diesem Fall die gerichtliche Entscheidung nicht entgegen.

Im Rahmen der mündlichen Verhandlung haben die Beteiligten übereinstimmend erklärt, dass infolge der Ersetzung der Ursprungsbescheide durch die Bescheide vom 7. Januar 2008 das Berufungsverfahren erledigt ist und der Streit nunmehr im Klageverfahren fortgesetzt werde.

Der Kläger beantragt dementsprechend,
die Bescheide vom 7. Januar 2008 aufzuheben.

Der Vertreter der Beklagten beantragt,
die Klage abzuweisen.

Der Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.

Der Kläger bezieht sich insoweit im Wesentlichen auf die Gründe der Entscheidung des Sozialgerichts Kassel. Auch habe er Bedenken, ob es zulässig sei, den rechtswidrigen Bescheid zu ersetzen. Die ersetzenden Bescheide seien auch formell rechtswidrig, da eine Anhörung nicht erfolgt sei. Durch die Ersetzung im hiesigen Verfahren sei dies auch nicht nachgeholt worden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Behördenakte des Beklagten (ein Band) verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen waren.

Entscheidungsgründe:

Die aufgrund der Erledigungserklärungen der Beteiligten hinsichtlich der Berufung nunmehr allein noch anhängige Anfechtungsklage gegen die Bescheide vom 7. Januar 2008 ist zulässig.

Gegenstand der im vorliegenden Verfahren (nach der Erledigungserklärung hinsichtlich des Berufungsverfahrens) allein noch verfolgten und insoweit auch statthaften Anfechtungsklage sind allein die Ersetzungsbescheide vom 7. Januar 2008, nicht mehr hingegen der ursprüngliche Abzweigungsbescheid vom 24. Mai 2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29. Juni 2004. Insoweit hat die Beklagte mit den Bescheiden vom 7. Januar 2008 den zunächst hier angefochtenen Bescheid ersetzt, so dass der ursprüngliche Bescheid wirkungslos geworden ist. Die Bescheide vom 7. Januar 2008 sind aufgrund ihres ersetzenden Charakters gemäß §§ 153 Abs. 1, 96 SGG zum Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden. Insoweit verlangt das Bundessozialgericht (BSG) in ständiger Rechtsprechung für das Vorliegen einer Änderung oder Ersetzung, dass durch den neuen Bescheid in die Regelung - den Verfügungssatz - des alten Bescheides eingegriffen und damit die Beschwer des Betroffenen vermehrt oder vermindert wird (vgl. BSG, Urt. v. 20. November 2003, B 13 RJ 43/02 R -, BSGE 91, 277 ff m w. N.). Dies ist vorliegend der Fall, da jeder der drei Ersetzungsbescheide (bezogen auf jeweils ein Kind des Klägers) für sich gesehen eine andere Regelung enthält als der Ursprungsbescheid vom 24. Mai 2004, nämlich einen jeweils geringeren Abzweigungsbetrag für nur ein Kind des Klägers. Da jeder Verwaltungsakt insoweit eigenständig ist und sein eigenes Schicksal nehmen kann, verbietet sich hier eine Gesamtbetrachtung im dem Sinne, dass im Ergebnis die Belastung für den Kläger gleich geblieben sei. Im Übrigen hat sich der Inhalt der insgesamt getroffenen Regelungen auch insoweit verändert und die Beschwer des Klägers vermehrt, als nunmehr mit Wirkung für den Kläger eine Festlegung hinsichtlich der Aufteilung des abgezweigten Unterhaltes vorgenommen wird, ohne dass der Kläger darauf Einfluss nehmen kann. Über die streitgegenständlichen Bescheide vom 7. Januar 2008 entscheidet der Senat aufgrund der entsprechenden, spätestens in der mündlichen Verhandlung erhobenen Klage (BSG, Urteil v. 30. Januar 1963 - 2 RU 35/60 -, SozR Nr 3 zu § 541 RVO; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 96 SGG, Rn. 7), da die Berufung eine erstinstanzliche Entscheidung voraussetzt und es keine Berufung unmittelbar gegen Verwaltungsakte gibt. Diese findet nur gegen Urteile des Sozialgerichts statt (BSG. Urt. v. 13. Mai 1987 – 7 Rar 13/86 -, SozR 1200 § 48 Nr. 11). Die nach Bescheiderlass nicht mehr weiter zu verfolgende Berufung berührt jedoch aufgrund § 96 SGG die Rechtshängigkeit der neuen Verwaltungsakte nicht (vgl. Meyer-Ladewig, a. a. O., Rn. 3).

Die Klage ist auch begründet. Die Bescheide vom 7. Januar 2008 sind rechtwidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten (§ 54 Abs. 2 SGG). Dabei richtet sich die Rechtmäßigkeit der ersetzenden Verwaltungsakte vom 7. Januar 2008, soweit damit der ursprüngliche Bescheid vom 24. Mai 2004 aufgehoben wird nach den § 44 ff. Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) und soweit damit - erneut - die Abzweigung von Leistungen des Klägers für den Beigeladenen festgesetzt wird nach § 48 Abs. 1 Sozialgesetzbuch SGB I. Denn durch die Ersetzung eines Verwaltungsakts wird zugleich der ursprünglich erlassene Verwaltungsakt aufgehoben und an dessen Stelle ein neuer Verwaltungsakt erlassen. Hierbei muss die Aufhebung eines Verwaltungsaktes im Rahmen einer Ersetzung auch dann, wenn sie im gerichtlichen Verfahren erfolgt, ihre Rechtsgrundlage in dem § 44 ff. SGB X, die getroffene Neuregelung demgegenüber ihrer Rechtsgrundlage im materiellen Recht finden (vgl. BSG, Großer Senat, Beschluss v. 6. Oktober 1994 – GS 1/91; zitiert nach Juris). Die Aufhebungsentscheidungen in den Bescheiden vom 7. Januar 2008 genügen jedoch schon den Voraussetzungen der §§ 44 und 45 SGB X nicht, wobei die Voraussetzungen beider Vorschriften vorliegen müssen, um den ursprünglichen Abzweigungsbescheid aufheben zu dürfen. Insoweit ist zu beachten, dass der ursprüngliche Abzweigungsbescheid vom 24. Mai 2004 ein Bescheid mit Doppelwirkung war. Während er sich für den Beigeladenen begünstigend auswirkt, da diesem damit die Empfangsberechtigung hinsichtlich der dem Kläger zustehenden Sozialleistung teilweise übertragen wurde, stellt er sich für den Kläger als belastend dar, da ihm damit die Empfangsberechtigung hinsichtlich der ihm zugesprochenen Leistungen im mit der Übertragung auf den Beigeladenen korrespondierenden Umfang entzogen wurde. Zu beachten ist insoweit auch, dass die Abzweigungsentscheidung eine untrennbare Doppelnatur besitzt, da die Abzweigung nur in der Form geschehen kann, dass dem Kläger ein Teil seiner Empfangsberechtigung entzogen und im gleichen Umfang auf den Beigeladenen übertragen wird. § 48 Abs. 1 SGB I lässt es nicht zu, dass die eine Entscheidung ohne die andere getroffen wird, da dies dem Sinn und Zweck der Abzweigung, Unterhaltsleistungen aus den laufenden Bezug des Leistungsberechtigten mit befreiender Wirkung ohne Umweg über den Zivilprozess direkt dem Unterhaltsberechtigten zufließen zu lassen, zuwiderlaufen würde. Aufgrund dieser untrennbaren Doppelnatur kann eine Aufhebung hier nur rechtmäßig sein, wenn sie die Voraussetzungen sowohl des § 44 SGB X als auch des § 45 SGB X erfüllt. Im vorliegenden Fall fehlt es an der Erfüllung der Voraussetzungen beider Normen, so dass es dahin stehen kann, ob der Senat auf die Klage des von der Abzweigung negativ Betroffenen hin berechtigt wäre, die Abzweigungsbescheide aufzuheben, wenn nur die Voraussetzungen des § 45 SGB X nicht gegeben sind, da diese Norm in der vorliegenden Konstellation zumindest überwiegend den Schutz des Beigeladenen als aus der Entscheidung der Beklagten Begünstigten bezweckt.

Die Ersetzungsentscheidungen der Beklagten erfüllen zunächst die Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 und 2 SGB X nicht. Nach dieser Norm ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Dies gilt nicht, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Betroffene vorsätzlich in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat. (Abs. 1) Im Übrigen ist ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen. Er kann auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden. (Abs. 2)

Der ursprüngliche Abzweigungsbescheid vom 24. Mai 2004 war - was für alle Beteiligten unstreitig ist - rechtswidrig, da das Recht falsch angewandt wurde. Insoweit wird auf die zutreffenden Ausführungen im Urteil des Sozialgerichts vom 10. Dezember 2007 hinsichtlich der mangelnden Bestimmtheit verwiesen (Bl. 10 bis 13 des Urteilsabdruckes). Jedoch wurden aufgrund dieses Verwaltungsaktes nicht Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben, so dass § 44 Abs. 1 SGB X nicht zur Anwendung kommt. Vielmehr wurden die dem Kläger zustehenden Sozialleistungen trotz der Abzweigung erbracht, sie wurden aufgrund des Abzweigungsbescheids vom 24. Mai 2004 lediglich nicht an diesen, sondern – soweit die Abzweigung reicht - an den Beigeladenen ausgezahlt. Es handelt sich bei diesem Bescheid daher um einen sonstigen rechtswidrigen, nicht begünstigenden Verwaltungsakt im Sinne des § 44 Abs. 2 SGB X. Da sich die Rücknahme dieses rechtswidrigen Abzweigungsbescheids allein auf einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum bezieht, kommt hier § 44 Abs. 2 S. 2 SGB X zur Anwendung, wonach ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden kann. Die Formulierung der Vorschrift zeigt, dass es sich hierbei um eine Ermessensentscheidung der Behörde handelt. Die ersetzenden Bescheide vom 7. Januar 2008 sowie die entsprechenden Anschreiben an den Kläger (Blatt 212 bis 223 der Gerichtsakte) lassen eine solche Ermessensausübung im Sinne des § 44 Abs. 2 S. 2 SGB X hinsichtlich einer Abwägung bezogen auf die Frage, ob der ursprüngliche Abzweigungsbescheid überhaupt aufgehoben werden soll, jedoch nicht erkennen. Insoweit wird auf Seite 3 der jeweiligen Bescheide nur mitgeteilt, dass der neue Bescheid den Bescheid vom 19. Mai 2004 bzw. 24. Mai 2004 und den Widerspruchsbescheid vom 29. Juni 2004 ersetze und gemäß §§ 153, 96 SGG zum Gegenstand des Berufungsverfahrens werde. Es fehlt insoweit an jeglicher Ausübung eines Entschließungsermessens und einer Ausübung des Ermessens hinsichtlich Art und Umfang der rückwirkenden Ersetzung. Hier hätte beispielsweise ausgeführt werden müssen, warum man sich dazu entschieden hat, trotz des langen Zeitablaufs eine Ersetzung des Bescheides aus dem Jahr 2004 vorzunehmen, obwohl sich das Gegenteil zur Herstellung des Rechtsfriedens aufdrängt.

Auch die Voraussetzungen für eine Rücknahme im Sinne des § 45 SGB X sind hinsichtlich der Bescheide vom 7. Januar 2008 nicht erfüllt. Nach dieser Vorschrift darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden, soweit er rechtswidrig ist (Abs. 1). Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt darf nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte nicht berufen, soweit 1. er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat, 2. der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder 3. er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (Abs. 2). Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung kann nach Absatz 2 nur bis zum Ablauf von zwei Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden. Satz 1 gilt nicht, wenn Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 der Zivilprozessordnung (ZPO) vorliegen. Bis zum Ablauf von zehn Jahren nach seiner Bekanntgabe kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung nach Absatz 2 zurückgenommen werden, wenn 1. die Voraussetzungen des Absatzes 2 Satz 3 Nr. 2 oder 3 gegeben sind oder 2. der Verwaltungsakt mit einem zulässigen Vorbehalt des Widerrufs erlassen wurde. In den Fällen des Satzes 3 kann ein Verwaltungsakt über eine laufende Geldleistung auch nach Ablauf der Frist von zehn Jahren zurückgenommen werden, wenn diese Geldleistung mindestens bis zum Beginn des Verwaltungsverfahrens über die Rücknahme gezahlt wurde. War die Frist von zehn Jahren am 15. April 1998 bereits abgelaufen, gilt Satz 4 mit der Maßgabe, dass der Verwaltungsakt nur mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben wird (Abs. 3). Nur in den Fällen von Absatz 2 Satz 3 und Absatz 3 Satz 2 wird der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen. Die Behörde muss dies innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen tun, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen (Abs. 4).

Die Ersetzungsbescheide vom 7. Januar 2008 erfüllen die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 45 SGB X in mehrfacher Hinsicht nicht und leiden auch noch an einem Ermessensnichtgebrauch. Hinsichtlich des Bescheides vom 24. Mai 2004 ist kein Fall des § 45 Abs. 4 S. 1 SGB X gegeben, da sich weder Beigeladener noch Kläger unlauter im Sinne des § 45 Abs. 2 S. 3 SGB X verhalten haben. Auch die Voraussetzung des § 45 Abs. 3 S. 2 SGB X, auf den § 45 Abs. 4 S. 1 SGB X ebenfalls verweist, liegen - wie sogleich darzustellen ist - nicht vor. Schon aus diesem Grund scheidet eine rückwirkende Aufhebung des ursprünglichen Abzweigungsbescheids aus. Hinzu kommt, dass die Frist für die Aufhebung dieses Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung gemäß § 45 Abs. 3 S. 1 SGB X nicht eingehalten wurde. Nach dieser Vorschrift kann ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung nur bis zum Ablauf von zwei Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden. Bei dem ursprünglichen Abzweigungsbescheid handelte es sich um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung. Dies ergibt sich daraus, dass dieser sich nicht in einem einmaligen Ge- oder Verbot oder in einer einmaligen Gestaltung der Rechtslage erschöpft, sondern für einen längeren Zeitraum (hier: mehrere Monate) die Abzweigung anordnet. Die Rücknahme des am 24. Mai 2004 erlassenen Ursprungsbescheids erfolgte vorliegend am 7. Januar 2008, mithin nach mehr als drei Jahren und damit außerhalb der Frist des § 45 Abs. 3 S. 1 SGB X. Von der gemäß § 45 Abs. 3 S. 1 SGB X einzuhaltenden Frist ist vorliegend auch nicht aufgrund § 45 Abs. 3 S. 2 oder 3 SGB X eine Ausnahme zu machen. Insoweit liegen die Voraussetzungen für die Annahme von Wiederaufnahmegründen entsprechend § 580 ZPO nicht vor (§ 45 Abs. 3 S. 2 SGB X). Nach dieser Vorschrift findet die Restitutionsklage statt: 1. wenn der Gegner durch Beeidigung einer Aussage, auf die das Urteil gegründet ist, sich einer vorsätzlichen oder fahrlässigen Verletzung der Eidespflicht schuldig gemacht hat; 2. wenn eine Urkunde, auf die das Urteil gegründet ist, fälschlich angefertigt oder verfälscht war; 3. wenn bei einem Zeugnis oder Gutachten, auf welches das Urteil gegründet ist, der Zeuge oder Sachverständige sich einer strafbaren Verletzung der Wahrheitspflicht schuldig gemacht hat; 4. wenn das Urteil von dem Vertreter der Partei oder von dem Gegner oder dessen Vertreter durch eine in Beziehung auf den Rechtsstreit verübte Straftat erwirkt ist; 5. wenn ein Richter bei dem Urteil mitgewirkt hat, der sich in Beziehung auf den Rechtsstreit einer strafbaren Verletzung seiner Amtspflichten gegen die Partei schuldig gemacht hat; 6. wenn das Urteil eines ordentlichen Gerichts, eines früheren Sondergerichts oder eines Verwaltungsgerichts, auf welches das Urteil gegründet ist, durch ein anderes rechtskräftiges Urteil aufgehoben ist; 7. wenn die Partei a) ein in derselben Sache erlassenes, früher rechtskräftig gewordenes Urteil oder b) eine andere Urkunde auffindet oder zu benutzen in den Stand gesetzt wird, die eine ihr günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würde; 8. wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder ihrer Protokolle festgestellt hat und das Urteil auf dieser Verletzung beruht.

Es fehlt insoweit an jeglichen Anhaltspunkten für das Vorliegen eines Verhaltens des Klägers oder des Beigeladenen, die es nahe legen könnten, dass eine der Alternativen des § 580 ZPO gegeben sein könnte.

Da – wie bereits dargestellt - die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 oder 3 SGB X ebenfalls nicht gegeben sind und der Verwaltungsakt nicht mit einem zulässigen Vorbehalt des Widerrufs erlassen wurde, kommt eine Verlängerung der Rücknahmefrist auf zehn Jahre aufgrund § 45 Abs. 3 S. 2 SGB X ebenfalls nicht in Betracht.

Letztlich fehlt es hinsichtlich der Rücknahme des ursprünglichen Abzweigungsbescheids auch an der Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens durch die Beklagte. Auch hier musste eine Ermessensausübung zumindest hinsichtlich der Frage, ob man den Verwaltungsakt aufhebt, erfolgen. Eine solche Ermessensausübung ist in den Bescheiden vom 7. Januar 2008 nicht zu erkennen. Insoweit wird auf die obigen Ausführungen zu § 44 Abs. 2 S. 2 SGB X verwiesen. Die Verpflichtung zur Ausübung des Ermessens entfällt im vorliegenden Fall hinsichtlich § 45 SGB X auch nicht aufgrund der Sondervorschrift des § 330 Abs. 2 SGB III. Nach dieser Norm ist ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 S. 3 SGB X für dessen Rücknahme vorliegen. Wie bereits ausgeführt, liegen die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 S. 3 SGB X in Bezug auf den Abzweigungsbescheid vom 24. Mai 2004 nicht vor.

Da hier hinsichtlich der Aufhebung des Bescheides vom 24. Mai 2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 29. Juni 2004 ein voll umfassender Ermessensausfall gegeben ist, mithin die Beklagte eine gebundenen Entscheidung traf, scheidet auch ein Nachschieben von Ermessenserwägungen insoweit aus. Die Verwaltungsakte vom 7. Januar 2008 würden hierdurch ihr Wesen verändern, was über die Möglichkeiten eines Ergänzens von Gründen (nicht: erstmaliges Einführen von Gründen) deutlich hinausgeht (vgl. Meyer-Ladewig, a.a.O., § 54 Rdnr. 36; BSG; Urteil v. 16.12.2008, - B 4 AS 48/07 R - m. w. N.; zitiert nach Juris).

Für die Entscheidung im vorliegenden Fall kommt es damit auf die Frage der Rechtmäßigkeit der Abzweigung nach § 48 Abs. 1 SGB I an sich nicht mehr an.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt der Entscheidung der Hauptsache.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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