S 9 AS 6261/08

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Freiburg (BWB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
9
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 9 AS 6261/08
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
§ 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II i. V. m. § 330 Abs. 1 SGB III steht der Rücknahme einer rechtswidrigen, aber bestandskräftigen Regelleistungskürzung wegen stationärem Aufenthalt im Zugunstenverfahren nach § 44 SGB X nicht entgegen.
1. Der Bescheid der Beklagten vom 05.11.2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 08.12.2008 wird aufgehoben. 2. Die Beklagte wird verurteilt, ihren Bescheid vom 18.05.2006 gem. § 44 SGB X zurückzunehmen und der Klägerin für die Zeit vom 20.02.2006 bis zum 19.05.2006 die volle Regelleistung nach dem SGB II zu gewähren. 3. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten. 4. Die Berufung wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Erteilung eines Zugunstenbescheids im Zusammenhang mit Leistungen nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB II).

Die Klägerin, geboren am xxx bezog laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Vom 20.2.2006 bis zum 19.5.2006 befand sie sich in vollstationärer, anschließend noch bis zum 9.6.2006 in teilstationärer Behandlung in einer Klinik. Die Beklagte verfügte daher ihrer damaligen Praxis entsprechend mit Bescheid vom 18.5.2006 einen anteiligen Einbehalt der Regelleistung wegen der häuslichen Verpflegungsersparnis. Diese Bescheide wurden bindend.

Mit Schreiben vom 5.11.2008 beantragte die Klägerin die Überprüfung des Bescheides vom 18.5.2006 gem. § 44 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) und nahm zur Begründung auf ein inzwischen ergangenes Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) Bezug, wonach die Praxis der Kürzung des Regelsatzes wegen Krankenhausaufenthalts zumindest nach der bis zum 31.12.2007 geltenden Rechtslage rechtswidrig war. Mit Bescheid vom 5.11.2008 lehnte die Beklagte dies mit der Begründung ab, dass - anders als von § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X gefordert - bei der damaligen Entscheidung wieder das Recht unrichtig angewandt noch von einem falschen Sachverhalt ausgegangen worden sei. Auf den Widerspruch der Klägerin mit Schreiben vom 11.11.2008 bestätigte die Beklagte ihre Entscheidung mit Widerspruchsbescheid vom 8.12.2008. Darin führte sie ergänzend aus: Selbst wenn die in § 44 Abs. 1 SGB X genannten Voraussetzungen für die Rücknahme eines bindenden, rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsakts vorliegen, weil er auf einer Rechtsnorm beruhe, die nach Erlass des Verwaltungsakts in ständiger Rechtsprechung anders als durch die Behörde ausgelegt worden sei, so könne der Verwaltungsakt nur mit Wirkung für die Zeit ab dem Bestehen der ständigen Rechtsprechung zurückgenommen werden. Dies ergebe sich aus § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II i. V. m. § 330 Abs. 1 des Dritten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB III). Hinsichtlich der fraglichen Anrechnung von Krankenhausverpflegung auf die Regelleistung habe erst das die Rechtslage bis zum 31.12.2007 betreffende Urteil des BSG vom 18.6.2008 (Az.: B 14 AS 22/07 R) zu einer ständigen Rechtsprechung geführt. Zuvor sei die Rechtsprechung der Landessozialgerichte uneinheitlich gewesen. Der unanfechtbare Bescheid vom 18.5.2006 betreffe einen Zeitraum vor der ständigen Rechtsprechung, seine Rücknahme sei daher zu Recht abgelehnt worden.

Am 11.12.2008 erhob die Klägerin Klage zum Sozialgericht Freiburg.

Die Klägerin verfolgt ihr Begehren aus dem Widerspruchsverfahren weiter. Sie ist der Auffassung, das Urteil vom 18.6.2008 sei sinnlos, wenn nicht auf seiner Grundlage rechtswidrige Bescheide aus dem Zeitraum, auf die es sich beziehe, rückgängig gemacht werden könnten.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 5.11.2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 8.12.2008 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihren Bescheid vom 18.5.2006 gem. § 44 SGB X zurückzunehmen sowie der Klägerin für die Zeit vom 20.2.2006 bis zum 19.5.2006 die volle Regelleistung nach dem SGB II zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Die die Klägerin betreffende Verwaltungsakte der Beklagten (xxx) lag vor und war Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Verfahrens sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die genannte Verwaltungsakte sowie die Akte des Gerichts, Az. S 9 AS 6261/08, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist form- und fristgerecht erhoben. Sie ist auch im Übrigen zulässig und als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage gem. § 54 Abs. 4 SGG statthaft.

Die Klage ist auch begründet.

Gemäß § 44 Abs. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind hier hinsichtlich des Bescheids vom 18.5.2006 unstreitig und offensichtlich erfüllt. Bei der dadurch verfügten Kürzung der Regelleistung für die Dauer des stationären Aufenthalts wurde das Recht unrichtig angewandt, wie sich aus den Gründen des BSG-Urteils vom 18.6.2008 (Az.: B 14 AS 22/07 R, veröff. in (juris)) ergibt. Infolgedessen wurden Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht, nämlich die Kürzungsanteile der der Klägerin zustehenden Regelleistung.

Entgegen der Auffassung der Beklagten ist die Rücknahme des Bescheides vom 18.5.2006 nicht gem. § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II i. V. m. § 330 Abs. 1 SGB III ausgeschlossen.

Dies wäre lediglich dann der Fall, wenn die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts vom 18.5.2006 daher rührte, dass er auf einer Rechtsnorm beruht, die nach Erlass des Verwaltungsaktes für nichtig oder für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt wurde (was hier ersichtlich nicht der Fall ist) oder in ständiger Rechtsprechung anders als durch die Agentur für Arbeit ausgelegt worden ist. Es muss also festgestellt werden können, dass der Bescheid, dessen Rücknahme im Streit steht, mit einer Rechtsnorm begründet wird, die später in ständiger Rechtsprechung anders ausgelegt wurde.

Eine solche Rechtsnorm vermag das Gericht nicht zu erkennen.

Grundlage des Bescheids vom 18.5.2006 waren die seinerzeitigen Hinweise der Bundesagentur für Arbeit zu § 9 SGB II, Stand 10.1.2006, Ziff. 9.14 (im Internet noch abrufbar unter: http://www.tacheles-sozialhilfe.de/aktuelles/2008/HW 9 2006-01-10.pdf). Danach wurde ohne Bezugnahme auf eine rechtliche Grundlage angeordnet, bereitgestellte Verpflegung mit einem Wert von 35 v. H. der Regelleistung zu berücksichtigen. Dies wurde damit begründet, dass der Bedarf des Hilfebedürftigen insoweit als gedeckt anzusehen sei (sog. Bedarfsdeckungsargument). Im wesentlichen textgleich lauteten auch noch die am 1.6.2007 von der Bundesagentur für Arbeit veröffentlichten Hinweise (vgl. http://www.tacheles-sozialhilfe.de/aktuelles/2008/HW 9 2007-01-06.pdf). Das BSG, das am 18.6.2008 (B 14 AS 22/07 R) gerade über eine auf diesen Hinweisen beruhende Verwaltungsentscheidung entschied, befand hierzu:

"Nach § 31 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil - (SGB I) dürfen Rechte und Pflichten in den Sozialleistungsbereichen dieses Gesetzbuches nur begründet, festgestellt, geändert oder aufgehoben werden, soweit ein Gesetz es vorschreibt oder zulässt (Vorbehalt des Gesetzes). Der belastende Verwaltungsakt - Kürzung der Regelleistung durch ersparte Aufwendungen in Höhe von 35 v. H. der Regelleistung - bedarf mithin einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage. Für das Vorgehen der Beklagten jedenfalls im Jahre 2006 ist eine Rechtsgrundlage nicht ersichtlich, die den Anforderungen des § 31 SGB I genügen könnte. Dies dürfte für den Verordnungsgeber Anlass gewesen sein, mit Wirkung zum 1. Januar 2008 in § 2 Abs 5 Alg II-V eine Rechtsgrundlage für ein solches Vorgehen erstmals zu schaffen ( ...)"

Mit anderen Worten: Für die von der Bundesagentur für Arbeit vorgenommenen Regelleistungskürzungen fehlte es zumindest in den Jahren 2006 und 2007 an einer sie legitimierenden Rechtsnorm. Selbst in den derartigen Bescheiden zugrunde liegenden Hinweisen der Bundesagentur für Arbeit wurde eine derartige Rechtsnorm nicht benannt. Dann kann aber auch keine Rede davon sein, dass derartige Verwaltungsakte auf einer Rechtsnorm beruht hätten, die später in ständiger Rechtsprechung anders ausgelegt worden sei, wie dies von § 330 Abs. 1 SGB III vorausgesetzt wird.

Als derartige Rechtsnorm kann insbesondere auch nicht § 11 Abs. 1 S. 1 SGB II angesehen werden. Zwar haben sich einige SGB II-Leistungsträger in sozialgerichtlichen Verfahren auf diese Rechtsnorm berufen, nachdem einzelne Sozialgerichte das Bedarfsdeckungsargument verworfen hatten, und argumentiert, die bereitgestellte Verpflegung während stationärer Aufenthalte stelle zu berücksichtigendes Einkommen dar. Der hier zu beurteilende Bescheid vom 18.5.2006 wurde aber (wie die meisten derartigen Bescheide der Beklagten im Jahre 2006, zumindest nach dem Eindruck des Kammervorsitzenden) gerade nicht auf diese Auslegung des § 11 Abs. 1 S. 1 SGB II gestützt. Er "beruht" somit nicht i. S. von § 330 Abs. 1 SGB III auf dieser Rechtsnorm. Auch ließ das BSG in seiner Entscheidung vom 18.6.2008 (S 14 AS 22/07 R) die Frage, ob es sich bei bereitgestellter Verpflegung um Einkommen i. S. des § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II handelt, ausdrücklich offen und zitierte insoweit lediglich exemplarisch die hierzu ergangene kontroverse Rechtsprechung der Instanzgerichte (Rnr. 14 des BSG-Urt. in der (juris)-Version). Eine ständige Rechtsprechung i. S. des § 330 Abs. 1 SGB III, durch die § 11 SGB II anders ausgelegt worden wäre als zuvor durch die Bundesagentur für Arbeit, wurde durch dieses Urteil des BSG somit gerade nicht begründet.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Die Berufung war gem. § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen, da die Rechtsfrage der Anwendung des § 330 Abs. 1 SGB III auf Fälle der vorliegenden Art höchstrichterlich nicht geklärt ist und nach Auskunft der Beklagten dort eine Vielzahl vergleichbarer Anträge vorliegt. Auch wird die Rechtsfrage öffentlich rege diskutiert (vgl. z. B. http://www.tacheles-sozialhilfe.de/aktuelles/2008/Krankenhausaufenthalt2.aspx).
Rechtskraft
Aus
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