L 6 U 7/06

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Magdeburg (SAN)
Aktenzeichen
S 3 U 100/05
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 6 U 7/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über einen Anspruch des Klägers auf eine Rente auf Dauer wegen des Teilverlustes zweier Finger.

Der 1957 geborene Kläger erlitt am 3. Mai 2004 bei der Ausübung seiner Beschäfti-gung als Werkzeugmacher durch ein Stanzgerät einen Teilverlust des Mittel- und Ringfingers der linken Hand jeweils im Endglied.

In dem Rentengutachten vom 6. September 2004 gelangte der Direktor der Klinik für Pl. und H. der Berufsgenossenschaftlichen Kliniken B. Priv.-Doz. Dr. St. , zu der Einschätzung, die Minderung der Erwerbsfähigkeit belaufe sich vom Beginn der Arbeitsfähigkeit an für ein halbes Jahr auf 20 v. H., danach 10 v. H ... Es bestünden noch derbe, gerötete Stümpfe und Gefühlsstörungen der Kuppen der amputierten Finger sowie eine Minderung der groben Kraft. Der Gutachter fand eine deutliche Blutumlaufstörung der linken Hand. Vor allem der Mittel- und Ringfinger waren bläulich livide verfärbt. Die Amputationskuppen wiesen eine deutlich rote Verfärbung der Narbe und der Weichteile auf. Die Narben waren gegen die Unterlage verwachsen. Am Ringfinger war die Weichteildecke verschmächtigt. Die Sensibilität im Bereich der Stumpfkuppen war herabgesetzt. Dort konnte der Kläger lediglich spitz und stumpf unterscheiden. Die Fingerstreckung in den Mittelgelenken der verletzten Finger war um 10 Grad vermindert. Der Nagelrandabstand zur queren Hohlhandfalte war für den Zeige- und kleinen Finger jeweils auf zwei Zentimeter, für den Mittel- und Ringfinger auf fünf bzw. vier Zentimeter eingeschränkt. Der Spitzgriff war zu allen Fingern mög-lich; das Aufheben kleiner Gegenstände im Spitzgriff mit dem Mittel- und Ringfinger war nicht möglich. Die grobe Kraft der linken Hand war gegenüber rechts auf weniger als zwei Drittel vermindert. Die Kraftentwicklung im Spitzgriff war für Mittel- und Ringfinger der linken Hand deutlich vermindert. Der Schlüsselgriff war annähernd seitengleich.

Nach einem Zwischenbericht des gleichen Arztes vom 25. Oktober 2004 hatte sich die Beugemöglichkeit im Mittelgelenk des Mittelfingers auf 70 Grad, im Mittelgelenk des Ringfingers auf 90 Grad vermindert. Die Streckung war frei. Der Kläger war nach einem Arbeitsversuch am 7./8. Oktober 2004 erneut bis zum 7. November 2004 arbeitsunfähig. Nach einem Nachschaubericht vom 2. November 2004 war die Beweg-lichkeit der Mittelgelenke des Mittel- und Ringfingers wieder deutlich auf 85 bzw. 95 Grad gebessert.

Mit Bescheid vom 22. November 2004 stellte die Beklagte eine Gesamtvergütung bezüglich der Verletztenrente für den Zeitraum vom 8. November 2004 bis zum 31. Mai 2005 in Höhe von insgesamt 1.885,13 EUR fest. Als Folgen des Versicherungsfalles erkannte sie an: Sensibilitätsstörungen im Bereich der Stumpfkuppen der Finger drei und vier der linken Hand, geringes Streckdefizit in den Mittelgelenken des dritten und vierten Fingers links, Minderung der groben Kraft der linken Hand nach Amputation des linken Mittel- und Ringfingers auf Endgelenkshöhe.

Mit Eingangsdatum bei der Beklagten vom 10. Dezember 2004 erhob der Kläger gegen den Bescheid Widerspruch bezüglich der Höhe und Dauer der Rentenzahlung. Er machte geltend, er könne körperlich schwere Arbeiten wegen der Hand nicht mehr über mehrere Stunden ausführen. Aufgaben an seinem Arbeitsplatz könne er nur noch mit Hilfe der Kollegen bewältigen.

Die Beklagte holte ein weiteres Gutachten des Chefarztes der Ch. Klinik des St. K. D. , Dr. med. Z. , vom 11. April 2005 ein. Dieser schätzte die Minderung der Erwerbsfähigkeit bis zum Tag vor seiner Untersuchung mit 20 v. H., danach bis zur Beendigung des dritten Jahres nach dem Unfall noch mit 10 v. H. ein.

Mit Widerspruchsbescheid vom 28. Juni 2005 wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten den Widerspruch zurück. In der Begründung folgte er den Gutachten.

Mit der am 27. Juli 2005 beim Sozialgericht Magdeburg eingegangenen Klage hat der Kläger geltend gemacht, er sei im täglichen und im Arbeitsleben stärker eingeschränkt, als es die Minderung der Erwerbsfähigkeit aussage. Auf die Ärzte der Klinik B. sei von Seiten der Beklagten Druck ausgeübt worden. Eine dort für drei Wochen angesetz-te Rehabilitation sei von der Beklagten untersagt worden, und er habe in eine andere Klinik umziehen müssen. Weiter hat er darauf verwiesen, er könne die verletzten Finger nicht mehr vollständig beugen.

Nach Anhörung der Beteiligten hat das Sozialgericht mit Gerichtsbescheid vom 12. Dezember 2005 die Klage abgewiesen und auf die nach seiner Auffassung zutreffende Begründung des Widerspruchsbescheides verwiesen.

Gegen den ihm am 14. Dezember 2005 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger mit Eingangsdatum vom 13. Januar 2006 Berufung eingelegt. Er schildert vorrangig Vorgänge aus dem Heilverfahren, die ihm eigenartig und für ihn nachteilig erscheinen. Weiter macht er geltend, ihm fehle durch einen anderen Arbeitsunfall auch ein Teil des Endgliedes des rechten Mittelfingers. Dort auftretende Schwierigkeiten beim Spitzgriff habe er mit der linken Hand ausgeglichen, was nun nicht mehr gehe. Die Festsetzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit wegen dieses früheren Unfalls habe er nicht betrieben, weil er von deren Geringfügigkeit ausgegangen sei.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Magdeburg vom 12. Dezember 2005 aufzuheben und den Bescheid der Beklagten vom 22. November 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Juni 2005 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm wegen des Arbeitsunfalls vom 3. Mai 2004 über Mai 2005 hinaus Verletztenrente auf unbestimmte Zeit nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um mindestens 20 v. H. zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verweist auf die in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden ärztlichen Erfah-rungswerte, die keine Einschätzung mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 20 v. H. zuließen. Dies gelte auch unter Berücksichtigung des bestehenden Vorschadens an der rechten Hand.

Die Akte der Beklagten – Az. 110104-200001859445 – GTM hat in der mündlichen Verhandlung und bei der Beratung vorgelegen.

Entscheidungsgründe:

Die gem. §§ 143, 144 Abs. 1 S. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Beru-fung hat keinen Erfolg. Der Bescheid der Beklagten vom 22. November 2004 in der Gestalt des Wider-spruchsbescheides vom 28. Juni 2005 beschwert den Kläger nicht im Sinne von §§ 157, 54 Abs. 2 S. 1 SGG, weil er rechtmäßig ist.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Gewährung einer Verletztenrente, weil die Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht im Sinne von § 56 Abs. 1 S. 1 des Siebten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VII) i. d. F. d. G. v. 7. 8. 1996 (BGBl. I S. 1254) einen Grad von 20 v. H. erreicht. Insoweit folgt das Gericht den Gutachten von Priv.-Doz. Dr. St. und von Dr. Z ...

Grundlage für die Bemessung der Minderung der Erwerbsfähigkeit in der gesetzlichen Unfallversicherung ist nach § 56 Abs. 2 S. 1 SGB VII der Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens. Die Bemessung ist eine Feststellung, die das Gericht gemäß § 128 Abs. 1 S. 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung unter Berücksichtigung der in der Rechtsprechung und im einschlägigen Schrifttum herausgearbeiteten allgemeinen Erfahrungssätze trifft (BSG, Urteil vom 18. März 2003 - B 2 U 31/02 R - Breithaupt S. 565; Urteil vom 2. November 1999 - B 2 U 49/98 R - SozR 3-2200 § 581 Nr. 6). Diese sind für die Entscheidung im Einzelfall zwar nicht bindend. Sie bilden aber die Grundlage für eine gleiche und gerechte Bewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis.

Danach ist die Minderung der Erwerbsfähigkeit mit unter 20 v. H. zu bemessen. Der Verlust der Endglieder des Mittel- und Ringfingers bedingt auf Dauer eine Minderung der Erwerbsfähigkeit um 10 v. H. (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Aufl. S. 643, Abb. 2.30). Funktionsbeeinträchtigungen, die den da-mit typischerweise verbundenen Funktionsausfall beim Kläger mit Auswirkungen auf die Erwerbsfähigkeit übersteigen, gehen aus den Gutachten nicht hervor. Soweit der Kläger geltend macht, er könne die verletzten Finger nicht mehr beugen, ist dies durch Dr. Z. nur für die Mittelgelenke bestätigt. Dieser Umstand kann keine Minderung der Erwerbsfähigkeit um 20 v. H. begründen, weil selbst der Verlust des Mittel- und Ringfingers im Mittelgelenk noch nicht zu einer Minderung der Erwerbsfähigkeit in dieser Höhe führt (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., Abb. 2.31). Dem von Dr. Z. erhobenen Druck- und Klopfschmerz und der Gefühlsherabsetzung der Amputations-kuppen kommt keine wesentliche funktionelle Bedeutung zu, die nicht durch die Amputation als solche schon bedingt wäre, weil die Amputationskuppen schon nach ihrer Lage im Verhältnis zu den unverletzten Fingerspitzen keine Funktionen mit Auswirkungen auf die Erwerbsfähigkeit übernehmen können. Ein Streckdefizit der Finger hat Dr. Z. nicht mehr erhoben. Auch wirkte sich ein solches in dem geringen, von Priv.-Doz. Dr. St. gemessenen Umfang nicht erwerbsmindernd aus, weil keine Verrichtungen ersichtlich sind, die eine glatt gestreckte Handfläche erfordern. Schließlich bedingt auch die mit dem Fingergliedverlust einhergehende Verminderung der groben Kraft der linken Hand keine rentenberechtigende Minderung der Erwerbsfähigkeit. So führt z. B. auch die Versteifung eines Daumengelenkes (mit Ausnahme einer ungünstigen Versteifung des Daumensattelgelenkes), teilweise sogar zweier Daumengelenke nicht zu einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 20 v. H. (Mehrhoff/Meindl/Muhr, Unfallbegutachtung, 11. Aufl., S. 166), obwohl sie ebenfalls die Möglichkeit zum Krafteinsatz beim Greifen deutlich vermindert.

Die Minderung der Erwerbsfähigkeit ist nicht unter dem Gesichtspunkt des am rechten Mittelfinger bestehenden Vorschadens im Falle des Klägers höher zu bewerten. Die dem Ansatz nach rechtlich bestehende Verpflichtung zur Berücksichtigung von Vorschäden führt im Falle des Klägers nicht zu der angestrebten höheren Bewertung, weil eine messbare Funktionsminderung durch die Verletzung des rechten Mittelfingers überhaupt nicht vorliegt. Die Verletzungsfolgen bestehen nach der Beschreibung des Gutachters Priv.-Doz. Dr. St. in einer Abflachung der Fingerkuppe auf der daumenwärts gelegenen Seite und einer überdurchschnittlichen Biegung des Finger-nagels. Gelenkbeweglichkeit, Griffarten, Kraftentwicklung und Sensibilität sind nach der Schilderung beider Gutachter völlig unauffällig.

Eine höhere Bewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit kommt auch nicht deshalb in Betracht, weil der Kläger seinen erlernten Beruf möglicherweise durch die Unfallfol-gen nicht mehr ausüben kann. Eine solche Möglichkeit besteht nach § 56 Abs. 2 S. 3 SGB VII nur im Falle der Beeinträchtigung bei der Nutzung besonderer beruflicher Kenntnisse und Erfahrungen. In diesem Sinne besonders sind nur ungewöhnliche Fertigkeiten, nicht die durch eine allgemeine Berufsausbildung vermittelten Fertigkeiten (BSG, Urt. v. 19.9.1974 – 8 RU 94/73SozR 2200 § 581 Nr. 2). Die berufliche Stel-lung des Klägers, die allein durch seine Facharbeiterausbildung zum Werkzeugmacher gekennzeichnet ist, fällt dementsprechend nicht darunter.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen gem. § 160 Abs. 2 Nr. 1, 2 SGG nicht vor.

gez. Eyrich gez. Dr. Ulrich RArbG Boldt ist durch Urlaub an der Unterschrift gehindert

gez. Eyrich
Rechtskraft
Aus
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