L 15 VG 17/05

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
15
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 30 VG 31/03
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 15 VG 17/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9 VG 14/09 B
Datum
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Liegen in einem Verfahren nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) keine ausreichenden Nachweise hinsichtlich des anspruchsbegründenden Sachverhalts vor, können die Angaben des Antragstellers nach Maßgabe von § 6 Abs. 3 OEG i.V.m. § 15 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOV-VFG) zu Grunde gelegt werden. Bei erheblich voneinander divergierenden Sachverhaltsschilderungen ist jedoch kein Glaubwürdigkeitsgutachten zur Frage einzuholen, welcher der vorgetragenen Sachverhaltsalternativen zutreffend ist. Einem entsprechenden "Beweisermittlungsantrag" ist nicht stattzugeben, weil Antragsteller bei Beweisnot gemäß § 15 KOV-VFG ausreichend geschützt sind.
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 12.04.2005 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die 1959 geborene Klägerin begehrt Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) in Verbindung mit den Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen einer nach ihren Angaben am 11.12.1992 gegen sie verübten Gewalttat in B ...

Die Bevollmächtigte der Klägerin hat mit Erstantrag vom 13.05.2002 unter anderem die Zeugeneinvernahme der damals in B. wohnhaften Klägerin vom 15.12.1992 vorgelegt. Danach habe die Klägerin ca. einem Monat vor der Tat in regelmäßigen Abständen mysteriöse Telefonanrufe erhalten. Am Donnerstag, den 10.12.1992, sei sie mit Bekannten in einem Lokal in der U-Straße gewesen und zu Fuß nach Hause gegangen. Fast vor ihrer Haustüre K. Straße in B. habe sie noch aus dem Augenwinkel gesehen, wie jemand aus einem am Straßenrand geparkten Auto gestiegen sei. Diesem Mann seien noch andere Männer gefolgt. Plötzlich seien ihr die Augen zugehalten worden, kurz danach auch noch der Mund. Sie sei dann festgehalten und vermutlich in das Auto gezerrt worden, das dort am Straßenrand gestanden sei. Im Auto sei ihr die Tasche entrissen worden. Sie habe die ganze Zeit versucht sich zu wehren, sei aber machtlos gewesen. Die Männer hätten miteinander auf Russisch mit georgischem Akzent gesprochen. Sie habe verstehen können, dass diese schon am Mittwoch auf sie gewartet hätten, aber dass es nicht geklappt habe. Nach einer kurzen Fahrt sei sie mit den Worten "Auf Wiedersehen" (auf Russisch) aus dem Auto geschubst worden. Da man ihr das Halstuch um den Kopf gebunden habe, habe sie zunächst nicht reagieren können. Als sie dann ihr Kopftuch abgenommen habe, habe sie weder das Auto noch die Personen sehen können. Es seien aber bestimmt zwei Wagen gewesen. Da die Männer ihre Tasche mit Ausweis, Adressbüchern, Kosmetik und ihren Wohnungsschlüsseln mitgenommen hätten und sie sich selbst auch nicht nach Hause getraut habe, sei sie zunächst durch die Stadt gegangen. Sie sei bis Freitag bei einer Bekannten geblieben. Als sie am Samstag wieder zu ihrer Wohnung gekommen sei, sei ihre schwarze Tasche am Türgriff gehangen. Es habe nichts gefehlt. Sie habe jedoch gemerkt, dass jemand in ihrer Wohnung gewesen sei. Sie möchte noch anfügen, dass die Männer zu ihr gesagt hätten "Liegt Geld in die Wohnung, dann ist es vorbei". Am Montag habe sie dann bei ihrer Bank (D. Bank und D. Bank) insgesamt 25.000,00 DM abgehoben, die sie zusammengespart habe. Sie habe die 25.000,00 DM auf den Wohnzimmertisch gelegt und sei wieder zu ihrer Bekannten gegangen. Das sei am 14.12.1992 um 14.00 Uhr gewesen. Gegen 18.00 oder 19.00 Uhr sei sie in ihre Wohnung zurückgekommen und habe festgestellt, dass das Geld nicht mehr auf dem Tisch gelegen habe. Sie sei dann zunächst zu einem Lokal in der U-Straße gegangen, anschließend in den S. und habe sich in die Lobby gesetzt. Sie habe dort sofort das Gefühl gehabt, beobachtet zu werden. Sie sei nun in panischer Angst gewesen und habe den Portier und später einen Security-Mann angesprochen. Der Portier habe sie dann an die Polizei vermittelt.

Mit Erstantrag vom 13.05.2002 hat die Klägerin folgende Gesundheitsstörungen schädigungsbedingt geltend gemacht: Lumbalischialgie links bei Diskusprolaps L 3/4, L 4/5; HWS-Syndrom; psychovegetatives Syndrom (Schmerzstörungen, Depressionen); ISG
Syndrom; chronische Gastritis; Nervenwurzelreizerscheinungen; Migräne cervicale.

Das beklagte Land B. hat die Akten der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht B. beigezogen und ausgewertet. Entsprechend der Strafanzeige vom 15.12.1992 sei die Klägerin am Freitag, den 11.12.1992, gegen 2.00 Uhr auf dem Heimweg gewesen und sei vor ihrer Haustür von mehreren Russisch sprechenden Männern überfallen worden. Diese hätten der Klägerin ein Tuch über den Kopf gezogen, hätten zu ihr in einem georgischen Dialekt gesprochen und ihr bei heftiger Gegenwehr die mitgeführte Tasche entrissen. Über Anzahl, Aussehen und Fluchtrichtung der Männer habe die Klägerin keine Angaben machen können. Von dem Kampf am Boden habe die Klägerin erhebliche Blutergüsse an beiden Füßen, linker Augenbraue und linken Oberarm und Ellenbogen zurückbehalten. Da sich unter anderem die Haustürschlüssel in der geraubten Tasche befunden hätten, habe die Klägerin nach eigenen Angaben bei Freunden übernachtet und sei erst am Freitag, den 11.12.1992, gegen 22.00 Uhr zurückgekehrt. Dabei habe sie am Türknauf ihrer Wohnungstür die geraubte Handtasche mit sämtlichem Bargeld, Papieren und Schlüsseln entdeckt. Am 14.12.1992 sei die Klägerin gegen 15.00 Uhr in ihre Wohnung für einen Moment zurückgelehrt und habe dabei festgestellt, dass ca. 30.000,00 DM Bargeld, die auf dem Wohnzimmertisch gelegen hätten, verschwunden gewesen seien. Als die Klägerin nach kurzer Abwesenheit ihre Wohnung in der K. Straße in B. am gleichen Tage gegen 23.00 Uhr aufsuchen wollte, habe sie festgestellt, dass Licht in ihrer Wohnung brannte, obwohl sie mit Sicherheit wisse, keines habe brennen lassen. Sie habe es mit der Angst zu tun bekommen und sei mit einer Taxe vor einem großen roten PKW letztendlich in das Hotel S. geflohen. Von der dortigen Bar bzw. Rezeption habe sie zwei Männer ausmachen können, die sehr nervös nach etwas Ausschau hielten bzw. suchten. Nachdem einer dieser Männer aufgeregt telefoniert hatte, habe er fluchtartig den Ort verlassen.

Weitere Schilderungen der Tat erfolgten durch die Klägerin gegenüber der Polizei am
15. Dezember 1992 sowie am 16. Dezember 1992, die jeweils ausführlich protokolliert wurden. Dabei berichtete die Klägerin, dass die Männer sie nach der Entführung in ihre Wohnung gebracht hätten und sie von diesen gezwungen wurde, größere Geldbeträge abzuheben und diese den Männern auszuhändigen. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Protokolle der Polizei Bezug genommen. Außerdem wurde die Beschuldigte V. P. am 18. Dezember 1992 vernommen. Auf den Inhalt dieser Niederschriften wird Bezug genommen.

Nach umfassenden Ermittlungen unter anderem gegen V. P. hat das Amtsgericht B. mit Beschluss vom 05.12.1994 die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen diese tatsächlichen Gründen abgelehnt. Der Angeschuldigten wurde mit der Anklageschrift vom 11.07.1994 vorgeworfen, zu einem nicht näher feststellbaren Zeitpunkt Anfang Dezember 1992 in B. bislang unbekannten Tätern Informationen über die Lebensumstände, die Wohnanschrift und die Vermögensverhältnisse der Geschädigten und hiesigen Klägerin gegeben zu haben. Hierdurch solle sie den Unbekannten wissentlich dabei geholfen haben, von der Geschädigten unter Gewaltanwendung die Herausgabe von Geldbeträgen zu erzwingen. Ein hinreichender Tatverdacht sei nicht gegeben, weil unter Berücksichtigung der nach Aktenlage gegebenen Beweismöglichkeiten eine Verurteilung der Angeschuldigten nicht wahrscheinlich sei. Die Eröffnung des Hauptverfahrens sei deshalb gemäß § 204 Abs.1 der Strafprozessordnung (StPO) aus tatsächlichen Gründen abzulehnen.

Im Folgenden hat das beklagte Land B. den Antrag vom 13.05.2002 mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 02.01.2003 abgelehnt. Die Klägerin habe nach ihren Angaben Verletzungen wie Blutergüsse an beiden Füßen, der linken Augenbraue, dem linken Oberarm und dem Ellenbogengelenk erlitten. Weiterhin habe sie angegeben, dass das Tatgeschehen Angstzustände bei ihr verursacht habe. Sie habe eine Woche danach am 20.12.1992 eine Reise nach New York angetreten und sich wegen Magenbeschwerden in Amerika in ärztliche Behandlung begeben. Nach der Rückkehr nach Deutschland sei der Wohnortwechsel nach A-Stadt erfolgt. Seit 1998 leide die Klägerin an Bandscheibenvorfällen. Nach einem Autounfall im Jahre 1999 bestehe bei ihr ein HWS-Syndrom mit Schulter-Armbeschwerden. Die vorliegende Schmerzsymptomatik stünde im Zusammenhang mit den belastenden Lebensereignissen insgesamt sowie den Gesundheitsstörungen, die unabhängig vom Geschehen vom 11.12.1992 vorlägen. Der Antrag nach dem OEG sei erst im Mai 2002, also zehn Jahre nach dem Tatgeschehen gestellt worden, wodurch eine Feststellung erheblich erschwert werde. Die gemachten Angaben zum Tatgeschehen würden allein als Nachweis für die anspruchsbegründenden Voraussetzungen des § 1 OEG nicht ausreichen. Nach dem auch im OEG geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast habe die Folgen der Beweislosigkeit derjenige zu tragen, dem es nicht gelinge, die rechtserheblichen Tatsachen zu beweisen, aus denen er ein Recht herleiten wolle.

Der Widerspruch gegen den Bescheid vom 02.01.2003 ist mit Widerspruchsbescheid des Landesamtes für Gesundheit und Soziales B. vom 22.01.2004 aus den gleichen Gründen zurückgewiesen worden.

Zwischenzeitlich hatte die Bevollmächtigte der Klägerin bereits mit Schriftsatz vom 19.12.2002 Untätigkeitsklage zum Sozialgericht München eingereicht. Sie hat mit Schriftsätzen vom 03.02.2004 und 03.06.2004 hervorgehoben, dass nach dem Beweis des ersten Anscheins von einem bei der Klägerin mehrmals gutachterlich bestätigten posttraumatischen Belastungssyndrom auszugehen sei, das auf die geschilderte Gewalttat zurückführen sei. Die zu Gunsten der Klägerin geltende Beweislastumkehr könne nur durch eine sichere andere Kausalität widerlegt werden. Dafür komme der von der Beklagtenseite angeführte Verkehrsunfall vom 19.04.1999 schon allein deshalb nicht in Betracht, weil die Klägerin ausweislich der im Verwaltungsverfahren vorgelegten Befundberichte bereits spätestens im Jahr 1996 eine chronifizierte somatoforme Schmerzstörung entwickelt habe (vgl. Befundberichte des Dr. P. E. vom 24.09., 01.10. und 14.10.1996). Für die Klägerin spräche auch die Stellungnahme des die Klägerin behandelnden Psychotherapeuten C. S. vom 08.07.2003, wonach der Gesundheitszustand der Klägerin eindeutig auf die Gewalttat vom 11.12.1992 zurückzuführen sei. Es werde nochmals angeregt, eine entsprechende Begutachtung der Klägerin nunmehr nachzuholen.

Nach mündlichen Verhandlungen vom 12.08.2004 und 12.04.2005 hat das Sozialgericht München die Klage mit Urteil vom 12.04.2005 abgewiesen. Eigenartigerweise, so das Sozialgericht zur Begründung, würden hohe Geldabhebungen zwischen dem 12. und 14.12.1992 nicht nur in den geschilderten Tathergang, sondern auch in die Planung der am 20.12.1992 angetretenen Reise in die USA passen. Die drei frühesten Schilderungen der Klägerin vom 15. und 16.12.1992 würden bereits entscheidend voneinander abweichen. In der ersten Variante vom 15.12.1992 habe die Klägerin eine nur kurzfristige Entführung geschildert. Von einem gemeinsamen Betreten ihrer Wohnung zusammen mit den erpresserisch gesinnten Tätern sei damals keine Rede gewesen. Vielmehr habe die Klägerin detailreich erläutert, dass sie in ihrer Wohnung lediglich auf Grund von Veränderungen den Schluss auf den dortigen Aufenthalt fremder Personen gezogen habe und sodann dazu gezwungen worden sei, abgehobenes Geld in der Wohnung zu deponieren, wo es von den Tätern abgeholt worden sei. Noch am selben Tag habe die Klägerin ihre Darstellung gegenüber der Polizei deutlich abgeändert, indem sie eine Entführung nunmehr bis in die späten Abendstunden des 12.12.1992 geschildert habe. Nur einen Tag später am 16.12.1992 habe sie das Element "Geldhinterlegung" fallen gelassen und gemeinsame Szenen mit den Tätern in ihrer eigenen Wohnung und späterem Wege zu Banken in deren Begleitung geschildert. Selbst wenn man wie die Strafverfolgungsbehörden in B. ausschließlich auf die Beschreibung vom 16.12.1992 abstellen wollte, was wegen des Kontrastes zu den Einlassungen vom Vortag kaum möglich sei, würden große Zweifel an der Plausibilität dieser isoliert betrachteten Darstellungen bleiben. Sinngemäß: Vor diesem Hintergrund sei eine weitere medizinische Sachverhaltsaufklärung nicht veranlasst. Vor allem sei die angebotene Beweisfrage, ob die von der Klägerin behaupteten Ereignisse des Jahres 1992 ihrer Art nach generell geeignet seien, ihre derzeit vorliegenden Gesundheitsstörungen zu bemessen, nicht relevant.

Die hiergegen gerichtete Berufung vom 08.08.2005 ging am 09.08.2005 beim Bayer. Landessozialgericht (BayLSG) ein.

Die Bevollmächtigte der Klägerin hob in der Berufungsbegründung hervor, dass diese in der Zeit vom 10. bis zum 14.12.1992 an ihrem damaligen Wohnort B. Opfer einer schweren räuberischen Erpressung, einer Freiheitsberaubung mit Entführung, von Körperverletzungen sowie wiederholter Morddrohungen durch eine Bande tschetschenischer Gewaltverbrecher geworden sei. Durch die fortwährende Todesangst vor den skrupellosen und schwerkriminellen Tätern sowie dem durch die Tat erlittenen Schock seien die ersten zögerlichen Zeugenaussagen vor der Polizei als unzusammenhängend und hinsichtlich der Schlüssigkeit zweifelhaft bewertet worden. Erst am 16. und nochmals am 18.12.1992 habe sich die Klägerin dann umfassend der Polizei anvertraut, weil sie sich von dort Schutz erwartet habe. Weiterhin habe das erstinstanzliche Gericht den Sachverhalt entgegen §§ 103, 106 des Sozialgerichtsgesetz (SGG) nicht hinreichend erforscht und gegen das in § 128 Abs.1 SGG normierte Verbot der vorweggenommenen Beweiswürdigung verstoßen. Schließlich sei mit der dokumentierten Strafanzeige, den polizeilichen Ermittlungsergebnissen sowie der staatsanwaltschaftlichen Anklageschrift über die bloßen "Berichte" der Klägerin hinaus die von dem Ausgangsgericht vermisste erhebliche objektive Beweisgrundlage für das Tatgeschehen vorhanden. Dass es letztlich aus Rechtsgründen zu keinem Hauptverfahren und zu keiner strafgerichtlichen Verurteilung gekommen sei, gehe nicht zu Lasten der Klägerin. Zu Unrecht sei auch die im Erstverfahren beantragte medizinisch-psychologische Begutachtung der Klägerin sowohl zur Frage der haftungsbegründenden als auch der haftungsausfüllenden Kausalität unterblieben.

Mit weiterem Schriftsatz vom 31.07.2006 beantragte die Bevollmächtigte der Klägerin, mit dieser den Sachverhalt unter Vorhalt der beigezogenen Akten zu erörtern, den Sachverständigenbeirat beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales zu hören und ggf.
Dr. P. gemäß § 109 SGG mit der Erstellung eines Gutachtens zu beauftragen. Wegen Arbeitsüberlastung wurde für Dr. P. Prof. Dr. F. gemäß § 109 SGG zum ärztlichen Sachverständigen bestellt. Dieser hat mit Gutachten vom 20.08.2007 die gestellten Beweisfragen auf Grund unterschiedlicher hypothetischer Sachverhalte beantwortet. Wenn sich der Überfall so zugetragen habe, wie die Probandin schilderte, bestehe die Möglichkeit, dass sich die psychische Störung relativ bald nach dem Vorfall entwickelte, aber im Verlauf unbehandelt geblieben sei. Sie habe mit der Zeit zugenommen, sich auch in ihrer Form geändert und Ausmaße erlangt, die deutlich schwerwiegender seien als eine posttraumatische Belastungsstörung. Unter diesen Umständen hätten die prämorbide Persönlichkeit und ihre Vulnerabilität sowie die massive Verzögerung einer adäquaten Behandlung zumindest ebenso viel Anteil am Zustandekommen der heutigen Störung wie die Traumatisierung im Jahr 1992. Wenn man annähme, dass sich die Ereignisse in dem Jahr 1992 nicht so zugetragen hätten, wie sie die Probandin geschildert habe, sei davon auszugehen, dass die Symptomatik schon zum damaligen Zeitpunkt bestanden habe und die Schilderungen der Patientin ein Symptom der Erkrankung darstellen würden. Unter Zugrundelegung der sozialrechtlichen Kausalitätslehre entfalle dann aber die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Symptomatik und Ursache.

Die Bevollmächtigte der Klägerin rügte mit Schriftsatz vom 15.01.2008, dass das Gutachten nicht verwertbar sei. Nicht Prof. Dr. F. habe das Gutachten erstellt, sondern sein ärztlicher Mitarbeiter O ... Im Übrigen fehle gerade das hier wesentliche Glaubwürdigkeitsgutachten zu der Frage, welcher Sachverhalt einzig und allein als Gewalttat im Sinne von § 1 OEG nachweislich zu Grunde zu legen sei. Weiterhin sei das Ergebnis der gutachterlichen Untersuchung vom 20.07.2007 im Auftrag der Bundesagentur für Arbeit mitzuberücksichtigen. Danach sei die Klägerin vor allem wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung mit Depressionen und Panikattacken voraussichtlich auf Dauer täglich weniger als drei Stunden einsatzfähig.

Um Stellungnahme gebeten wiesen Prof. Dr. F. und O. mit ergänzenden Ausführungen vom 18.03.2007 darauf hin, dass das Gutachten zwar unter Mitarbeit von O. aber verantwortlich von Prof. Dr. F. gefertigt worden sei. Die Einholung oder die Durchführung eines Glaubwürdigkeitsgutachtens werde aus mehreren Gründen nicht für sinnvoll gehalten. Einer der Gründe sei die Diagnose, von der bei der Probandin auszugehen sei. Die Patienten, die an einer wahnhaften Störung leiden, seien in der Regel unverrückt von den Wahninhalten überzeugt. Die Wahninhalte würden für diese Patienten reelle Tatsachen darstellen, sodass in einer weiteren Verhaltensanalyse im Rahmen einer Begutachtung keine weiteren wesentlichen Erkenntnisse zu erwarten wären. Im Übrigen müsse es dahingestellt bleiben, ob Dr. R. (im Rahmen seiner Untersuchung vom 20.07.2007) Einsicht in das vorliegende Gutachten oder gar in die Gerichtsakten zum Zeitpunkt seiner Begutachtung gehabt habe.

Im Folgenden übermittelte das Referat für Gesundheit und Umwelt der Landeshauptstadt München seine Unterlagen. Die AOK B. stellte ihre Aktenauszüge zur Verfügung. Entsprechend den Hinweisen der Klägerin wurden Behandlungsunterlagen von Dr. D., Dr. G., Dr. I. und Dr. C. mit Fremdbefunden beigezogen.

Prof.Dr.F. und O. führten mit weiterer Stellungnahme vom 09.02.2009 vor allem aus, dass mit den heute gängigen Methoden der Glaubhaftigkeitsbeurteilung der Realitätsgehalt der Aussagen bezüglich des erlittenen Schadens vor 16 Jahren nicht mehr zu beweisen sei. Die Beurteilung sei unter Hinzuziehung von O. durch die persönliche Begegnung unter Einschluss eines explorierenden Gespräches mit der Klägerin durch Prof. Dr. F. erfolgt. Insgesamt hätten sich aus den neu vorgelegten ärztlichen Unterlagen und Befunden wenige neue Informationen ergeben. Die relevanten Informationen stünden wie bereits gesagt nicht im Widerspruch zum Ergebnis des bereits gefertigten Gutachtens, sodass keine Änderung der Beurteilung erfolgen müsse.

Die auf Hinweis der Bevollmächtigten der Klägerin beigezogenen Unterlagen (vor allem das für die Bundesagentur für Arbeit gefertigte Gutachten des Dr. H. vom 12.07.2007) haben ergeben, dass die Klägerin anamnestisch 1992 Opfer der "muslimischen organisierten Kriminalität" geworden sein will. Man habe ihr damals "die Wirbelsäule herausgeschlagen". Dr.G. hat mit Attest vom 09.03.2009 bestätigt, dass die Klägerin im Sommer 2002 wegen Lumboischialgie und Thorakalgie untersucht und behandelt worden sei. Dres. T. und I. berichteten nach Erstvorstellung am 21.05.2007 mit Arztbrief vom 30.03.2009 über ein Wiedererinnern des durchgemachten Traumas im Sinne von Flash-Backs sowie die Behandlungssituation der Klägerin auf Grund des laufenden Verfahrens.

Die Bevollmächtigte der Klägerin hat mit Schriftsatz vom 24.06.2009 vor allem gerügt, dass ein Glaubwürdigkeitsgutachten nach wie vor nicht erstellt worden sei. Der gleichzeitig gestellte Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wurde in der mündlichen Verhandlung vom 30.06.2009 mangels Erfolgsaussicht abgelehnt. Denn auf Befragen hat die Klägerin gemeinsam mit ihrer Bevollmächtigten erklärt, dass die Ärzte, bei denen die Klägerin seit 1992 in Behandlung war, bereits benannt worden seien und ihr keine weiteren Unterlagen mehr vorlägen (vgl. Schriftsatz vom 18.07.2008).

Die Bevollmächtigte der Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts München vom 12.04.2005 sowie den Bescheid der Beklagten vom 02.01.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.01.2004 aufzuheben und das beklagte Land zu verurteilen, der Klägerin Leistungen nach dem OEG auf Grund der gesundheitlichen Folgen des Vorfalles am 11.12.1992 ab dem frühest möglichen Zeitpunkt zu bewilligen. Dabei sind als Gesundheitsstörungen anzuerkennen: posttraumatische Belastungsstörung (ICD F43.1), undifferenzierte Somatisierungsstörung (ICD F45.1) sowie histrionische Persönlichkeitsstruktur, die erst mit Entwicklung der psychiatrischen Erkrankung bzw. parallel zu einer Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung Exazerbierungen zeigt.

Hilfsweise beantragt sie, ein Gutachten zu der Frage, ob bei der Klägerin Gesundheitsstörungen bestanden oder bestehen, die mit Wahrscheinlichkeit ursächlich im Sinne der Entstehung oder der Verschlimmerung (einmalig oder richtunggebend) auf ein schädigendes Ereignis im Sinne von § 1 OEG zuzuführen sind. Dabei möge im Rahmen eines Glaubwürdigkeitsgutachtens dargelegt werden, welcher Sachverhalt einzig und allein als Gewalttat im Sinne von § 1 OEG nachweislich zu Grunde zu legen ist. Dazu wird im Einzelnen verwiesen auf die im klägerischen Schriftsatz vom 31.07.2006 formulierten Beweisanträge.

Die Bevollmächtigte des Beklagten beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Bezüglich des weiteren Sachverhalts wird gemäß § 202 SGG i.V.m. § 540 der Zivilprozessordnung (ZPO) auf die Unterlagen des Beklagten, der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht B. sowie die erstinstanzlichen Streitakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist gemäß §§ 143, 144 und 151 SGG zulässig, jedoch unbegründet: Das Sozialgericht München hat die Klage gegen den Bescheid vom 02.01.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.01.2004 mit Urteil vom 12.04.2005 zutreffend abgewiesen.

Wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen gemäß § 1 Abs.1 Satz 1 OEG auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Hier ist das Vorliegen eines tätlichen Angriffes nicht nachgewiesen. Ebenso wie sonst im Sozialrecht müssen auch für eine Leistung nach dem OEG alle anspruchsbegründenden Tatsachen zur Überzeugung des erkennenden Gerichts erwiesen sein. Falls es wie hier daran
fehlt, geht dies zu Lasten der Klägerin (objektive Beweis- oder Feststellungslast).

Der Inhalt der Strafakten kann für die Entscheidung nach dem OEG wertvolle und wichtige Hinweise enthalten. Die Entscheidung über einen Versorgungsanspruch nach dem OEG ist allerdings nicht an die rechtskräftig gewordene Beurteilung des Strafgerichts (hier: Amtsgericht B. mit Beschluss vom 05.12.1994) gebunden.

Beweisschwierigkeiten rechtfertigen keine generelle Beweiserleichterung, etwa durch eine stets gebotene Annahme der Voraussetzungen des sog. Anscheinsbeweises oder durch geringere Anforderungen an die Beweiskraft. Denn den Beweisschwierigkeiten, die typischerweise in der sozialen Entschädigung vorkommen, hat der Gesetzgeber bereits durch begrenzte Regeln zu Gunsten der Geschädigten entsprochen. Vor allem braucht der ursächliche Zusammenhang zwischen einer Gesundheitsschädigung und einer bleibenden Gesundheitsstörung, die einen Entschädigungsanspruch begründen, nur wahrscheinlich zu sein (Kunz/Zellner, Opferentschädigungsgesetz, 4. Auflage, Rzn.74 und 75 m.w.).

Hiervon ausgehend liegen im Wesentlichen, wie das Sozialgericht München mit Urteil vom 12.04.2005 bereits zutreffend ausgeführt hat, drei unterschiedliche Sachverhaltsschilderungen der Klägerin vom 15. bis 16.12.1992 vor, die entscheidend voneinander abweichen. Fraglich ist vor allem, ob sie von den angeblich erpresserisch gesinnten Tätern in die eigene Wohnung begleitet worden ist und dort Geld hinterlegt hat oder nicht.

Weiterhin ist auch die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht B. vom 11.07.1994 nicht ausreichend, um einen anspruchsbegründenden Sachverhalt im Sinne von § 1 Abs.1 Satz 1 OEG als nachgewiesen anzusehen. Denn der dort zu Grunde
gelegte Sachverhalt basiert im Wesentlichen auf den Äußerungen der Klägerin vom 16.12.1992. Insoweit hat der gerichtlich bestellte Sachverständige Prof. Dr. F. mit Gutachten vom 20.08.2007 jedoch ausgeführt, dass es sich hierbei nur um eine mögliche Hypothese handele. Die Durchführung eines Glaubwürdigkeitsgutachtens zur Frage, welcher Sachverhalt zu Grunde zu legen ist, ist im Falle der Klägerin nicht sinnvoll. Denn diese leidet an einer wahnhaften Störung und ist somit entsprechend den Ausführungen von Prof. Dr. F. unverrückt von den Wahninhalten überzeugt. Die Wahninhalte stellen für die Patienten wie die Klägerin reelle Tatsachen dar, sodass in einer weiteren Verhaltensanalyse im Rahmen einer Begutachtung keine weiteren wesentlichen Erkenntnisse zu erwarten sind.

Es ergeben sich auch aus den Akten des Freistaates Bayern keine weiteren Erkenntnisse, wenn dort mit Bescheid des Amtes für Versorgung und Familienförderung A-Stadt vom 30.05.2005 der Grad der Behinderung (GdB) im Sinne von § 69 des Sozialgesetzbuches - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX) unverändert mit 50 festgestellt worden ist. Die dort unter anderem berücksichtigte Funktionsstörung "posttraumatische Belastungsstörung, seelische Störung mit Somatisierung" ist unabhängig von der Ursache mit einem Einzel-GdB von 30 mitberücksichtigt worden. Dies beruht auf den Angaben, die die Klägerin im Rahmen der versorgungsärztlichen Untersuchung vom 17.06.2002 gegenüber Dr. W. gemacht hat. Dort berichtet die Klägerin wiederum abweichend, sie sei in eine Wohnung geschleppt und dort bewacht worden: Die Männer wollten Geld. Sie habe so lange auf die Männer eingeredet, bis diese bereit waren, sie in ihre eigene Wohnung zu bringen. Die Männer haben diese Wohnung dann observiert und gedroht, eine Bombe auf dem Balkon zu zünden, falls die Klägerin nicht gehorche. Sie habe ihnen das Geld gegeben und nachfolgend einen Anwalt eingeschaltet. Sie sei dann zu Bekannten und Verwandten geflüchtet. Die Polizei habe nichts unternommen, sodass sie in die Schweiz geflüchtet sei. Als ihr die deutsche Polizei Zeugenschutz zugesagt habe, sei sie nach Deutschland zurück gekommen. Sie sei nicht zurück nach B. sondern nach A-Stadt gegangen. Die Kriminellen haben alles geleugnet und bekamen nur eine geringe Strafe.

In diesem Zusammenhang fällt auch auf, die Klägerin den Täterkreis unterschiedlich beschrieben hat bzw. beschreibt: Die Täter werden teils dem russisch-georgischen bzw. auch tschetschenischem Personenkreis zugerechnet. Andererseits will sie Opfer der "muslimischen organisierten Kriminalität" geworden sein, wie gegenüber Dr. H. am 12.07.2007 angegeben.

Der Senat musste daher auch dem Hilfsantrag, der in der mündlichen Verhandlung vom 30.06.2009 gestellt worden ist, nicht stattgegeben. Unabhängig davon, dass entsprechend den Ausführungen des Prof. Dr. F. der Sachverhalt im Rahmen eines weiteren Glaubwürdigkeitsgutachtens nicht aufgeklärt werden kann, handelt es sich um ein "Beweisermittlungsantrag" im Sinne eines Ausforschungsbeweises", dem nicht zu folgen gewesen ist (Meyer-Ladewig, 9. Auflage, Rz.18b zu § 160 SGG m.w.). Denn Antragsteller sind im Rahmen des sozialen Entschädigungsrechts gemäß § 15 KOV-VFG ausreichend geschützt, wenn Unterlagen nicht beschafft oder Beweise nicht ausreichend beigebracht werden können. Der in der mündlichen Verhandlung vom 30.06.2009 gestellte Hilfsantrag würde unzulässigerweise beinhalten, dass auch bei widersprüchlichen Angaben wie hier eine noch weitere Beweiserleichterung zu Gunsten von Antragstellern anzunehmen wäre, was nicht der Fall ist.

Angesichts der unterschiedlichen Sachverhaltsschilderungen der Klägerin unmittelbar nach der angeschuldigten Tat vom 11.12.1992 und knapp zehn Jahre später gegenüber Dr. W. im Rahmen der versorgungsärztlichen Untersuchung vom 17.06.2002 und auch gegenüber Dr. H. am 12.07.2007 ist auch für den erkennenden Senat das Vorliegen eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs im Sinne von § 1 Abs.1 OEG nicht nachgewiesen. Die Angaben der Klägerin können auf Grund ihrer Widersprüchlichkeit nicht gemäß § 6 Abs.3 OEG i.V.m. § 15 KOV-VFG zu Grunde gelegt werden. Dies gilt insbesondere auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der nach § 109 SGG bestellte gerichtliche Sachverständige Prof. Dr. F. mit Gutachten vom 20.08.2007 alternativ hypothetische Sachverhalte zu Grunde gelegt und mit ergänzender Stellungnahme vom 18.03.2003 auf die schwere psychische Erkrankung der Klägerin hingewiesen hat, auf Grund derer die Durchführung eines weiteren Glaubwürdigkeitsgutachtens nicht möglich ist.

Nachdem auf Befragen in der mündlichen Verhandlung vom 30.06.2009 die Klägerin gemeinsam mit ihrer Bevollmächtigten erklärt hat, dass die Ärzte, bei denen sie seit 1992 in Behandlung war, bereits benannt wurden und ihr keine weiteren Unterlagen mehr vorliegen, hat der Senat keine sachdienliche Möglichkeit mehr gesehen, den Sachverhalt gemäß §§ 103, 106 SGG weiter aufzuklären.

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 12.04.2005 ist daher zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich (§ 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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