L 4 P 4515/09 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 18 P 3999/09 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 P 4515/09 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Freiburg vom 2. September 2009 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Antragstellerin begehrt "Leistungen" der Pflegeversicherung der Pflegestufe I.

Die 1947 geborene Antragstellerin leidet an einem im März 2005 diagnostizierten Rektumkarzinom mit Metastasen der Lendenwirbelkörper, Leber, Knochen, Lunge und Nebennieren sowie an einer hypertensiven Herzkrankheit mit Herzinsuffizienz. Sie war selbstständig tätig und vom 1. Juli 1977 bis 15. Oktober 1999 freiwilliges Mitglied der IKK Baden-Württemberg und Hessen bzw. deren Rechtsvorgängerinnen und demgemäß ab 1. Januar 1995 auch Mitglied der Antragsgegnerin. Vom 1. September 2004 bis 1. März 2008 war sie bei der A. Krankenversicherung AG privat krankenversichert und pflegepflichtversichert. Diese kündigte am 27. Februar 2008 zum 29. Februar 2008 den Versicherungsvertrag wegen der Nichtzahlung von Folgebeiträgen. Gegenüber der IKK Baden-Württemberg und Hessen gab die Antragstellerin unter dem 1. März 2009 an, sie sei seit Februar 2009 nicht mehr selbstständig tätig. Daraufhin führten die IKK Baden-Württemberg und Hessen und die Antragsgegnerin die Antragstellerin ab 20. Februar 2009 als familienversichertes Mitglied.

Vom 25. Mai bis 2. Juni 2009 sowie vom 30. Juli bis 8. August 2009 befand sich die Antragstellerin wegen des Rektumkarzinoms in stationärer Behandlung. Die Antragstellerin beantragte am 26. Mai 2009 bei der Antragsgegnerin Pflegesachleistungen für Durchführung der Pflege durch die Katholische Sozialstation F. N. sowie Pflegegeld für Durchführung der Pflege durch ihren Ehemann. Dieser ist u.a. am Guillian-Barré-Syndrom erkrankt und bezieht von der Antragsgegnerin Pflegegeld nach der Pflegestufe I. Dem Antrag beigefügt war die Bescheinigung der Sozialberatung der Klinik für Tumorbiologie F. (C. W.) vom 28. Mai 2009, wonach die Antragstellerin aufgrund der fortgeschrittenen Tumorerkrankung in einem geschwächten Zustand und in erheblichem Maße auf pflegerische Hilfe und Betreuung angewiesen sei. Pflegefachkraft G. nannte in ihrem Gutachten vom 25. Juni 2009 einen Hilfebedarf bei den Verrichtungen der Grundpflege von insgesamt 71 Minuten täglich (Körperpflege 43 Minuten, Ernährung fünf Minuten, Mobilität 23 Minuten) sowie von 60 Minuten täglich für die Hauswirtschaft. Die häusliche Versorgung könne nur bedingt als sichergestellt betrachtet werden, da der Ehemann an einer neurologischen Krankheit (Guillian-Barré-Syndrom) leide und nur eingeschränkt die Pflege übernehmen könne.

Die Antragsgegnerin lehnte mit Bescheid vom 13. Juli 2009 die Gewährung von Leistungen der Pflegeversicherung ab, weil die Versicherungszeit nicht erfüllt sei. Da die Mitgliedschaft erst seit 20. Februar 2009 bestehe, beginne der Leistungsanspruch frühestens mit dem 20. Februar 2011. Hiergegen erhob die Antragstellerin Widerspruch. Über den Widerspruch ist bislang nicht entschieden.

Am 11. August 2009 beantragte die Antragstellerin beim Sozialgericht Freiburg (SG) den Erlass einer einstweiligen Anordnung, ihr Pflegegeld nach der Pflegestufe I zu zahlen. Sie sei schwerstpflegebedürftig. Sie könne sich nicht selbst versorgen und sei auf Hilfe ihres Ehemannes angewiesen. Falls erforderlich sei ihr für die Zeit vom 3. August 2008 bis 20. Februar 2009 die Nachzahlung von Beiträgen zu gestatten. Sie habe kein Einkommen und sei auf das Pflegegeld zur Sicherstellung ihrer Pflege angewiesen.

Die Antragsgegnerin trat dem Antrag unter Verweis auf ihren Bescheid vom 13. Juli 2009 entgegen.

Das SG lehnte den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ab (Beschluss vom 2. September 2009). Es fehle ein Anordnungsgrund. Die Klägerin sei zwar wegen ihrer schweren Krebserkrankung erheblich pflegebedürftig. Allerdings habe sie nicht ausreichend dargelegt, weshalb und wofür die Auszahlung von Pflegegeld zeitnah unbedingt notwendig sei und die erforderliche Pflege bis zur Entscheidung in der Hauptsache nicht sichergestellt sei. Auch ein Anordnungsanspruch sei nicht glaubhaft gemacht. Die erforderliche Vorversicherungszeit von zwei Jahren in den letzten zehn Jahren sei nicht gegeben.

Gegen den ihr am 4. September 2009 zugestellten Beschluss hat die Antragstellerin am 28. September 2009 beim SG Beschwerde eingelegt. Die A. Krankenversicherung AG habe zu Unrecht gekündigt. Hinzugekommen seien damals der Rückfall der Krebserkrankung und wirtschaftliche Schwierigkeiten. Sie lebe von der Rente (EUR 595,85; Zahlbetrag seit 1. Dezember 2008) und dem Pflegegeld (EUR 215,00) ihres Ehemannes.

Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,

den Beschluss des Sozialgerichts Freiburg vom 2. September 2009 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihr vorläufig Leistungen nach der Pflegestufe I zu zahlen.

Die Antragsgegnerin beantragt sinngemäß,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie hält den angefochtenen Beschluss für zutreffend. Sie geht nunmehr aber davon aus, dass wegen der freiwilligen Versicherung der Antragstellerin bis zum 15. Oktober 1999 als Vorversicherungszeit eine zusätzliche Versicherungszeit von vier Monaten 21 Tagen berücksichtigt werden könne, sodass die Antragstellerin einer Leistungsanspruch bereits zum 30. September 2010 habe.

II.

Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde der Antragstellerin ist zulässig. Sie ist insbesondere nicht nach § 172 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ausgeschlossen. Denn die Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes Leistungen für einen Zeitraum von voraussichtlich mehr als einem Jahr, mithin in einer Hauptsache die Berufung statthaft wäre (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).

Die zulässige Beschwerde der Antragstellerin ist nicht begründet. Das SG hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Recht abgelehnt.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist Voraussetzung, dass ein dem Antragsteller zustehendes Recht oder rechtlich geschütztes Interesse vorliegen muss (Anordnungsanspruch), das ohne Gewährung des vorläufigen Rechtsschutzes vereitelt oder wesentlich erschwert würde, sodass dem Antragsteller schwere, unzumutbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (Anordnungsgrund). Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund müssen glaubhaft gemacht sein. Glaubhaftmachung liegt vor, wenn das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs und eines Anordnungsgrunds überwiegend wahrscheinlich sind. Je schwerer die Belastungen des Betroffenen wiegen, die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbunden sind, desto weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Regelung oder Sicherung der geltend gemachten Rechtsposition zurückgestellt werden. Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) verlangt auch bei Vornahmesachen jedenfalls dann vorläufigen Rechtsschutz, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre.

1. Aufgrund des derzeitigen Sach- und Streitstandes besteht ein Anordnungsanspruch nicht, weil davon auszugehen ist, dass die Antragstellerin jedenfalls derzeit keinen Anspruch gegen die Antragsgegnerin auf "Leistungen" nach der Pflegestufe I hat. Zum einen ist die Wartezeit nicht erfüllt, zum anderen ist nicht erkennbar, welche Leistungen der Pflegeversicherung die Antragstellerin begehrt.

1.1. Leistungen werden nach § 33 Abs. 1 Satz 2 SGB XI ab Antragstellung gewährt, frühestens jedoch von dem Zeitpunkt an, in dem die Anspruchsvoraussetzungen vorliegen. Nach § 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 SGB XI besteht Anspruch auf Leistungen in der Zeit ab 1. Juli 2008, wenn der Versicherte in den letzten zehn Jahren vor der Antragstellung mindestens zwei Jahre als Mitglied versichert oder nach § 25 SGB XI familienversichert war. Zeiten der Weiterversicherung nach § 26 Abs. 2 werden bei der Ermittlung der nach Satz 1 erforderlichen Vorversicherungszeit mitberücksichtigt (§ 33 Abs. 2 Satz 2 SGB XI). Personen, die wegen des Eintritts von Versicherungspflicht in der sozialen Pflegeversicherung aus der privaten Pflegeversicherung ausscheiden, ist nach § 33 Abs. 3 SGB XI die dort ununterbrochen zurückgelegte Versicherungszeit auf die Vorversicherungszeit nach Absatz 2 anzurechnen.

Da die Antragstellerin am 26. Mai 2009 Leistungen beantragt hat, ist die Zehnjahresfrist der Zeitraum vom 26. Mai 1999 bis 25. Mai 2009. In dieser Zeit war sie vom 26. Mai bis 15. Oktober 1999 (vier Monate und 21 Tage) freiwilliges Mitglied der Antragsgegnerin. Seit 20. Februar 2009 ist sie familienversichertes Mitglied der Antragsgegnerin. Bis zur Antragstellung am 26. Mai 2009 ist dies ein Zeitraum von drei Monaten und vier Tagen, sodass insgesamt sieben Monate und 23 Tage Vorversicherungszeit bei der Antragsgegnerin vorliegen. Die Versicherungszeit bei der A. Krankenversicherung AG dürfte nicht zu berücksichtigen sein, da die Versicherung dort nicht wegen Eintritts der Versicherungspflicht in der sozialen Pflegeversicherung endete, sondern durch Kündigung der AXA Krankenversicherung AG wegen Nichtzahlung der Folgebeiträge.

1.2. Nicht erkennbar ist, welche konkrete Leistung der Pflegeversicherung die Antragstellerin begehrt. Auf die entsprechende Anfrage des Senats mit der Bitte um entsprechende Angabe hat die Antragstellerin nicht geantwortet. Auch der Antrag vom 26. Mai 2009 ist nicht insoweit eindeutig, weil sowohl Pflegesachleistungen (§ 36 SGB XI) für die Durchführung der Pflege durch die Katholische Sozialstation als auch Pflegegeld (§ 37 SGB XI) für Durchführung der Pflege durch den Ehemann beantragt wurden. Versicherte könne nicht allgemein Leistungen der Pflegeversicherung beantragen, sondern müssen diese auf eine der verschiedenen Leistungsarten konkretisieren. Denn es bestehen teilweise Unterschiede in den Anspruchsvoraussetzungen bei den verschiedenen Leistungen.

1.3. Sollte die Antragstellerin Pflegesachleistungen begehren, hat sie - trotz entsprechender Aufforderung des Senats - nicht dargelegt, wie die Pflege zur Zeit durchgeführt wird sowie welche Kosten ihr gegebenenfalls entstanden sind und/oder noch entstehen. Sollte die Antragstellerin Pflegegeld begehren, wofür sprechen könnte, dass sie im Beschwerdeverfahren vorgetragen hat, die Pflege werde durch ihren Ehemann durchgeführt, wäre fraglich, ob die Pflege sichergestellt ist. Nach § 37 Abs. 1 Satz 1 SGB XI können Pflegebedürftige anstelle der häuslichen Pflegehilfe ein Pflegegeld beantragen. Nach Abs. 1 Satz 2 dieser Vorschrift setzt der Anspruch voraus, dass der Pflegebedürftige mit dem Pflegegeld dessen Umfang entsprechend die erforderliche Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung in geeigneter Weise selbst sicherstellt. Sollte der Ehemann der Antragstellerin die Pflegeperson sein, dürfte die Pflege nicht sichergestellt sein, weil dieser selbst Pflegegeld nach der Pflegestufe I von der Antragsgegnerin bezieht und deshalb selbst Hilfe bei den zur Grundpflege gehörenden Verrichtungen der Körperpflege, der Ernährung und/oder der Mobilität benötigt. Es ist nicht nachvollziehbar, wie er die Verrichtungen aus diesen Bereichen bei der Antragstellerin ganz oder teilweise durchführen kann, wenn ihm dies selbst schon nicht vollständig möglich ist. Im Gutachten der Pflegefachkraft G. wird zwar auch eine weitere Person als Pflegekraft genannt. In welchem Umfang diese die Pflege durchführt, ist nicht erkennbar, weil auch insoweit auf entsprechende Nachfrage des Senats eine Äußerung der Antragstellerin nicht erfolgte.

2. Des Weiteren ist auch ein Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht. Denn die Antragstellerin hat nicht glaubhaft gemacht, dass sie bis zur Entscheidung der Hauptsache nicht in der Lage ist, ihre notwendige Pflege ohne die Leistungen der sozialen Pflegeversicherung durchzuführen. Bei häuslicher Pflege ergänzen die Leistungen der Pflegeversicherung die familiäre, nachbarschaftliche oder sonstige ehrenamtliche Pflege und Betreuung (§ 4 Abs. 2 Satz 1 SGB XI) und können damit von vornherein nicht die gesamten Kosten der erforderlichen Pflege abdecken. Die Antragstellerin muss deshalb einen Teil der gegebenenfalls anfallenden Kosten selbst bestreiten. Zu ihren Einkommens- und Vermögensverhältnissen hat sie keine ausreichenden Angaben gemacht. Sie hat zwar auf Anfrage des Senats behauptet, sie lebe von der Altersrente ihres Ehemanns in Höhe von rund EUR 600,00 und dem Pflegegeld ihres Ehemanns in Höhe von EUR 215,00 sowie ihre Rücklagen seien aufgebraucht. Dieser Vortrag reicht allerdings nicht aus. Auch wenn die Antragstellerin selbstständig tätig war, kann sie gleichwohl eine Altersvorsorge aufgebaut haben (z.B. private Rente, Lebensversicherung).

Des Weiteren hat die Antragstellerin trotz entsprechender Aufforderung des Senats nicht dargelegt, weshalb nach der Kündigung durch die AXA Krankenversicherung AG dort nicht die Fortsetzung des Versicherungsverhältnisses nach § 206 Abs. 4 des Versicherungsvertragsgesetzes (VVG) erklärt wurde oder die Mitgliedschaft dort aufgrund der Bestimmung des § 20 Abs. 1 Nr. 12 SGB XI weitergeführt wurde. Hierdurch hätten möglicherweise Nachteile vermieden werden können, weil die gesetzliche Wartefrist nicht eingegriffen hätte.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist mit der weiteren Beschwerde nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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