L 12 AL 3504/06

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
12
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 20 AL 8055/04
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 12 AL 3504/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufungen der Klägerin und der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 21.3.2006 werden zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin ein Achtel ihrer außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten. Im übrigen werden Kosten nicht erstattet.

Tatbestand:

Streitig ist die teilweise Aufhebung der Bewilligung und die Rückforderung von Arbeitslosengeld.

Die 1965 geborene Klägerin, die damals in B.-B. wohnte, bezog erstmalig vom 1.9.2001 bis zum 27.2.2002 Arbeitslosengeld nach einem Bemessungsentgelt von 830 DM bzw. (ab 1.1.2002) 425 EUR und einem wöchentlichen Leistungssatz von zuletzt 164,05 Euro. Vom 1.3.2002 bis 31.3.2003 war die Klägerin als Empfangssekretärin im Schlosshotel B. beschäftigt und danach vom 1.4.2003 bis 15.10.2003 als Verkaufsleiterin bei der C. GmbH Hotel- und Gaststättenbetrieb. Im Schlosshotel B. verdiente die Klägerin in den letzten Monaten etwa 1700 EUR brutto, bei der C. GmbH zuletzt 1850 EUR brutto.

Am 16.9.2003 meldete sich die Klägerin arbeitslos und beantragte Arbeitslosengeld. Mit Bescheid des (damals noch) Arbeitsamts R. vom 13.10.2003 wurde der Klägerin Arbeitslosengeld ab dem 16.10.2003 bewilligt. Zugrundegelegt wurde ein wöchentliches Bemessungsentgelt von 830 EUR, was zu einem wöchentlichen Leistungsentgelt von 438,24 EUR und einem wöchentlichen Leistungssatz von 262,92 EUR führte. Mit Änderungsbescheid vom Januar 2004 wurde der Leistungssatz auf 269,22 EUR wöchentlich erhöht. Mit Bewilligungsbescheid vom 5.5.2004 wurde Arbeitslosengeld bewilligt auf gleicher Bemessungsgrundlage mit einem wöchentlichen Leistungssatz von 269,22 EUR. Nach ihrem Umzug nach B. am 14.5.2004 und nach erneuter Arbeitslosmeldung und Antragstellung wurde ihr von der Beklagten (Arbeitsamt W.) mit Bescheid vom 2.6.2004 für die Zeit ab 15.5.2004 erneut Arbeitslosengeld für noch 28 Kalendertage auf gleicher Bemessungsgrundlage mit einem wöchentlichen Leistungssatz von 269,22 EUR bewilligt.

Mit Anhörungsschreiben vom 17.6.2004 wurde der Klägerin mitgeteilt, dass sie zu viel Arbeitslosengeld erhalten habe, weil bei der Leistungsbewilligung das dem Leistungsbezug 2001 zu Grunde liegende Bemessungsentgelt nicht von DM in Euro umgerechnet worden sei. Sie habe deshalb 2003 ein wöchentliches Arbeitslosengeld in Höhe von 262,92 EUR und 2004 in Höhe von 269,22 EUR erhalten, obwohl ihr nur Leistungen in Höhe von 163,52 EUR für 2003 und in Höhe von 167,09 EUR für 2004 zugestanden hätten.

Die Klägerin führte daraufhin mit Schreiben vom 30.6.2004 aus, nach ihren letzten Nettoverdiensten von im Schnitt 1550 EUR ohne die im Hotelgewerbe üblichen Trinkgelder sei sie davon ausgegangen, dass das bewilligte Arbeitslosengeld mit ca. 60 Prozent ihres bisherigen Einkommens rechtens gewesen sei. Dem Bewilligungsbescheid mit dem für sie unverständlichen Zahlenwerk habe sie natürlich Glauben geschenkt. Sie sei zu der Zeit ohnehin gesundheitlich angeschlagen gewesen und habe starke Depressionen gehabt, sie sei in ständiger ärztlicher Behandlung gewesen. Sie habe es zuhause oft nicht mehr ausgehalten und sei drei- bis viermal in der Woche in Restaurants essen gewesen und habe einige Wochenendausflüge unternommen. Damit habe sie das ganze Arbeitslosengeld konsumiert. Sie habe dann nach ihrem Umzug nach B. sich zur Entspannung einen zweiwöchigen Urlaub gegönnt. Sie habe nach drei Bescheiden von zwei verschiedenen Arbeitsämtern mit ähnlichen Zahlungen von zirka 1000 EUR im Monat auf deren Richtigkeit vertraut. Sie besitze im übrigen keinerlei Vermögen und keine Sparguthaben.

Mit Bescheid vom 6.7.2004 nahm die Beklagte die Entscheidung über die Bewilligung von Arbeitslosengeld für die Zeit vom 16.10.2003 bis 31.12.2003 in Höhe von 99,40 Euro wöchentlich zurück, für die Zeit vom 1.1. bis 11.6.2004 in Höhe von 102,13 Euro wöchentlich. Durch einen Berechnungsfehler seien die der Leistung zu Grunde liegenden Berechnungsdaten nicht von DM-Beträgen in Euro-Beträge umgerechnet worden. Deswegen habe die Klägerin eine zu hohe Leistung erhalten. Die Klägerin hätte auf Grund der Höhe der bewilligten Leistung mit einfachsten und ganz naheliegenden Überlegungen erkennen können, dass ihr Arbeitslosengeld in dieser Höhe nicht zustehe. Denn die ihr weiterbewilligte Leistung könne nicht ohne Grund fast doppelt so hoch sein wie die ihr vorher aus ihrem Anspruch gewährte Leistung. Es sei Arbeitslosengeld in Höhe von 3471,57 EUR zu Unrecht gezahlt worden, dieser Betrag sei zu erstatten.

Dagegen hat die Klägerin (anderweitig anwaltlich vertreten) am 13.7.2004 Widerspruch eingelegt mit der Begründung, es sei für einen Laien nicht erkennbar gewesen, dass es hier zu einer Überzahlung gekommen sei. Im übrigen sei, wie bei dem relativ geringen Arbeitslosengeld üblich, das Arbeitslosengeld vollständig verbraucht worden. Die Klägerin sei nicht in der Lage, nennenswerte Beträge zu bezahlen. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 12.7.2004 zurück mit der Begründung, es sei ab 16.10.2003 zu hohes Arbeitslosengeld gezahlt worden. Der Bemessungszeitraum umfasse im Falle der Klägerin die Entgeltabrechnungszeiträume vom 1.10.2002 bis 30.9.2003. In diesem Zeitraum sei in 47,6 Wochen ein Arbeitsentgelt von insgesamt 20.082,62 EUR erzielt worden. Hieraus ergebe sich ein durchschnittliches wöchentliches Entgelt von 420 EUR. Da die Klägerin innerhalb der letzten drei Jahre vor der Entstehung des Anspruchs Arbeitslosengeld bezogen habe, sei mindestens dieses letzte Bemessungsentgelt für den neuen Anspruch maßgebend. Bei der Festsetzung des Bemessungsentgelts sei versehentlich der bis Ende 2001 zu Grunde liegende DM-Betrag übernommen worden und nicht der ab Anfang 2002 zu Grunde liegende Euro-Betrag. Die Klägerin könne sich nicht auf schützenswertes Vertrauen berufen. Das Merkblatt für Arbeitslose enthalte verständliche Hinweise, z. B., dass das Arbeitslosengeld etwa 60 Prozent des vorherigen Nettoentgelt betrage. Auch der Bewilligungsbescheid erläutere die Berechnung und die Höhe des Leistungssatzes. Der Klägerin sei ab 16.10.2003 Arbeitslosengeld in Höhe von 321,72 EUR wöchentlich, 1394,12 EUR monatlich gezahlt worden. Dies entspreche etwa 76 Prozent des letzten Bruttoentgelts im Bemessungszeitraum und mehr als 96 Prozent des durchschnittlichen Nettoentgelts der letzten drei Monate vor der Arbeitslosigkeit. Die Klägerin hätte also erkennen müssen, dass das Arbeitslosengeld zu hoch sei. Die Erstattungspflicht ergebe sich aus § 50 Abs. 1 SGB X.

Dagegen hat die Klägerin am 3.12.2004 beim Sozialgericht Stuttgart (SG) Klage erhoben. Die Klägerin habe nicht erkannt, dass mit den verschiedenen Bescheiden etwas nicht in Ordnung gewesen sei. Sie sei von einer zutreffenden Berechnung ausgegangen. Nach ihrer Auffassung habe die Höhe des Arbeitslosengeldes zu der Höhe ihres früheren Einkommens gepasst. Das Arbeitslosengeld sei vollständig verbraucht worden. Es treffe nicht zu, dass die Klägerin mit einfachsten und ganz naheliegenden Überlegungen hätte erkennen können, dass ihr Arbeitslosengeld in der bewilligten Höhe nicht zustehe, sie könne bis heute nicht nachvollziehen, weshalb die bewilligte Leistung zu hoch gewesen sei. An den Erhalt des Merkblatts könne sie sich nicht erinnern. Es sei auch unverständlich, dass im Widerspruchsbescheid ein wöchentliches Arbeitslosengeld in Höhe von 321,72 EUR genannt werde, zunächst sei ihr nämlich eine wöchentliche Leistung von 262,82 EUR bewilligt worden. Die Klägerin wiederholt ihr Vorbringen, sie habe seinerzeit unter Depressionen gelitten und sei in ärztlicher Behandlung gewesen. Die Klägerin legte dazu eine ärztliche Bescheinigung des Internisten Dr. H. vom 2.2.2006 vor, wonach diese sich bei ihm im September 2003 wegen einer schweren Bronchitis und nachfolgend wegen einer schweren depressiven Störungen in laufender hausärztlicher Behandlung befunden habe, ab Dezember 2003 sei die Verordnung eines Antidepressivums notwendig geworden. Die Klägerin bringt noch vor, die alte Arbeitslosigkeit sei für sie bereits abgehakt gewesen, sie habe dazwischen so viel gearbeitet. Sie habe nur an eine neue Arbeit gedacht und nicht mehr darüber nachgedacht, wie viel sie früher in der Arbeitslosigkeit bezogen habe.

Auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 21.3.2006 hat das SG durch Urteil vom selben Tage den "Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.11.2004" aufgehoben, soweit die Bewilligung von Arbeitslosengeld für die Zeit vom 15.5.2004 bis 11.6.2004 in Höhe von 408,52 Euro zurückgenommen werde und in dieser Höhe Erstattung geltendgemacht werde, im übrigen hat es die Klage abgewiesen. Der "Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.11.2004" sei rechtmäßig, soweit die Bewilligung für den Zeitraum vom 16.10.2003 bis zum 14.5.2004 aufgehoben worden sei. Soweit die Bewilligung auch für den Zeitraum 15.5.2004 bis 11.6.2004 aufgehoben worden sei, sei der Bescheid rechtswidrig. Nach ausführlicher Zitierung der hier anzuwendenden Rechtsnorm des § 45 Abs. 1, Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X hat das SG ausgeführt, die Bewilligungsbescheide vom 13.10.2003, Januar 2004, 5.5.2004 und 2.6.2004 seien insofern rechtswidrig gewesen, als sich die Berechnung des zu bewilligenden Arbeitslosengeldes auf ein Bemessungsentgelt von 830 EUR monatlich an Stelle von 425 EUR gestützt habe. Dem habe zu Grunde gelegen, dass die Klägerin bereits im Zeitraum 1.9.2001 bis 27.2.2002 Arbeitslosengeld bezogen habe und damals die Bemessungsgrundlage (ab 2002) 425 EUR betragen habe. Nachdem für die Zeit der Arbeitslosigkeit ab 16.10.2003 das Bemessungsentgelt im Bemessungszeitraum nach § 130 SGB III von Oktober 2002 bis September 2003 gemäß § 132 SGB III aber (nur) 420 EUR betragen habe, sei vorliegend gem. § 133 Abs. 1 SGB III das frühere höhere Bemessungsentgelt der Berechnung des neuerlichen Arbeitslosengeldanspruch zugrundezulegen. Auf Grund des fälschlicherweise zugrundegelegten Bemessungsentgelts von 830 EUR seien der Klägerin im Jahr 2003 an Stelle von wöchentlich 163,52 EUR dann 262,92 EUR gewährt worden und im Jahr 2004 an Stelle von 167,09 Euro wöchentlich 269,22 EUR.

Die Beklagte habe auch die Bewilligungsbescheide teilweise zurücknehmen dürfen, denn die Klägerin habe die Rechtswidrigkeit der Bescheide nur infolge grober Fahrlässigkeit nicht gekannt. Ihr hätte sich aufdrängen müssen, dass ihr Arbeitslosengeld in der bewilligten und ausgezahlten Höhe nicht zustehen könne. Die Klägerin habe nahezu doppelt so viel Arbeitslosengeld bezogen wie im Jahr 2001 bzw. 2002 bzw. war der Betrag des gewährten Arbeitslosengeldes monatlich nahezu in der Höhe des früher in DM gewährten Arbeitslosengeldes und dies, obwohl der Verdienst der Klägerin vor der früheren Arbeitslosigkeit mit dem Verdienst vor der nunmehr streitgegenständlichen Arbeitslosigkeit recht vergleichbar gewesen sei. Dazukomme, dass das Bemessungsentgelt die gleiche Höhe gehabt habe wie im Jahr 2001 das Bemessungsentgelt in DM, obwohl grundsätzlich die Einkommensverhältnisse vor den Zeiten der Arbeitslosigkeit ziemlich ähnlich gewesen seien. Bei Zugrundelegung eines Bemessungsentgelt von 830 EUR wöchentlich würde sich ein Bruttoarbeitsentgelt in Höhe von 3500 EUR ergeben und damit wesentlich mehr, als die Klägerin jemals verdient habe. Weiter sei das bewilligte Arbeitslosengeld monatlich sogar fast so hoch gewesen wie der von der Klägerin zuvor erzielte Nettoverdienst. So habe die Klägerin bei ihrer letzten Arbeitsstelle Nettobezüge in Höhe von 1190,56 Euro bis 1489,88 EUR erhalten. Bei der Bühlerhöhe sei ihr Nettoentgelt noch niedriger gewesen. Der Klägerin hätte daher klar sein müssen, dass ihr Arbeitslosengeld nicht in etwa in Höhe ihres früheren Nettoverdienstes zustehen könne. So ergebe sich auch aus den Bewilligungsbescheiden und dem der Klägerin ausgehändigten Merkblatt, dass das Arbeitslosengeld in etwa 60 Prozent des früheren Nettoentgelt entsprechen werde. Die Klägerin habe eine Ausbildung im Einzelhandel gemacht und in den vergangenen Jahren auf verantwortlichen Positionen auch bei renommierten Häusern gearbeitet und sei daher mit Zahlen und Berechnungen so weit vertraut gewesen, dass sie bei einfachsten naheliegenden Überlegungen hätte erkennen müssen, dass die Berechnung des Arbeitslosengeldes nicht stimmen könne. Angesichts des derart gravierenden Missverhältnisses zwischen dem zuvor erzielte Entgelt und dem dann gewährten Arbeitslosengeld, das keineswegs zirka 60 Prozent des früheren Nettoarbeitsentgelts entspreche und der aus den Bescheiden ersichtlichen Abhängigkeit der Lohnersatzleistung vom Arbeitsentgelt, hätte der Klägerin die Unrichtigkeit der Arbeitslosengeldberechnung nach ihren subjektiven Kenntnismöglichkeiten geradezu ins Auge springen müssen. Insbesondere nachdem ihr konkrete Vergleichsmöglichkeiten zur Verfügung gestanden hätten auf Grund der früheren, noch nicht sehr lange zurückliegenden Arbeitslosengeldbewilligung im Jahr 2002. Nach den Angaben der Klägerin sei es ihr jedoch während des Arbeitslosengeldbezuges möglich gewesen, mehrmals in der Woche außer Haus essen zu gehen, umzuziehen und in Urlaub zu fahren. Auf Grund der früheren Arbeitslosigkeit und der allgemein bekannten Tatsache, dass Arbeitslosengeld grundsätzlich nicht in Höhe des vorherigen Nettoentgelt gewährt werde, habe der Klägerin trotz Vorliegens von Depressionen bewusst sein müssen, dass Arbeitslosigkeit und Arbeitslosengeldbezug mit finanziellen Einschränkungen einhergingen. Die Klägerin könne sich auf schützenswertes Vertrauen daher nicht berufen.

Die Voraussetzungen für eine Aufhebung der Leistung ab 15.5.2004 lägen dagegen nicht vor. Nach dem Umzug der Klägerin nach Backnang hatte ihr die Beklagte mit Bescheid vom 2.6.2004 wie zuvor Arbeitslosengeld unter Zugrundelegung eines Bemessungsentgelt von 830 EUR wöchentlich bewilligt. Nachdem die Klägerin beim Arbeitsamt B. einen Antrag auf Gewährung von Arbeitslosengeld unter Vorlage von Unterlagen gestellt hatte und dann nach bereits drei Bescheiden des Arbeitsamts R. nunmehr ein zweites Arbeitsamt Arbeitslosengeld weiter unter Zugrundelegung eines Bemessungsentgelt von 830 EUR wöchentlich bewilligt habe, habe die Klägerin davon ausgehen können, dass es mit der Höhe der Bewilligung doch seine Richtigkeit haben würde. Die Klägerin sei daher ab dem Bewilligungszeitraum im Bereich des Arbeitsamts W. nicht mehr grobfahrlässig davon ausgegangen, dass die Bewilligung in richtiger Höhe ergangen sei. Der Rücknahmebescheid sei damit aufzuheben, soweit die Beklagte die Bewilligung für den Zeitraum 15.5.2004 bis 11.6.2004 teilweise aufgehoben habe und die Erstattung von 408,52 EUR überzahlten Arbeitslosengeldes geltend mache. Im übrigen sei die Klage dagegen abzuweisen.

Gegen dieses am 14.6.2006 zugestellte Urteil hat die Klägerin, vertreten durch ihren jetzigen Bevollmächtigten, am 12.7.2006 Berufung eingelegt. Die Klägerin habe nicht schuldhaft gehandelt. Das Maß der Fahrlässigkeit sei nach der persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit und dem Einsichtsvermögen der Klägerin sowie den besonderen Umständen des Falles zu beurteilen. Das SG verkenne die Vorbildung der Klägerin. Diese habe eine Ausbildung als Verkäuferin bei einer Parfümerie gemacht, ihre Stärken lägen im emotionalen Bereich, in der Ausstrahlung ihrer Persönlichkeit und der Fähigkeit, auf Leute zuzugehen. Deswegen sei ihr im Hotelgewerbe die Betreuung von Gästen übertragen worden. Mit Zahlen und Berechnungen habe die Klägerin nichts zu tun gehabt, insbesondere habe sie nie gelernt, mit Arbeitslosengeldbewilligungsbescheiden oder Vergleichbarem umzugehen.

Es stimme auch nicht, dass das der Klägerin gewährte Arbeitslosengeld mehr als 96 Prozent des durchschnittlichen Nettoentgelt der letzten drei Monate vor der Arbeitslosigkeit ausgemacht habe. Die diesbezügliche Berechnung im Widerspruchsbescheid sei fehlerhaft und sei vom SG ungeprüft übernommen worden. Nicht berücksichtigt worden seien auch die von der Klägerin bezogenen Trinkgelder. Dass die Klägerin in dieser Zeit wiederholt Gaststätten aufgesucht habe, sei ihrem psychisch labilen Zustand, ihrer "Fresssucht" und ihrer Depression geschuldet. Auch die vom SG angesprochenen Reisen dienten im wesentlichen Vorstellungsterminen und der Stellensuche, so z. B. eine Reise nach P. während dieser Zeit. Ein Merkblatt für Arbeitslose habe die Klägerin nie erhalten, eine Unterschrift im Antragsformular beweise dies nicht. Das Studium des Merkblatts für Arbeitslose hätte der Klägerin aber auch Probleme gemacht. Die Klägerin habe auf die Richtigkeit der diversen Arbeitslosengeldbewilligungen vertraut. Selbst wenn sie beim ersten Bescheid vom 16.10.2003 noch Bedenken gehabt haben könnte, so wären diese Bedenken durch die in der Sache gleich lautenden Bescheide vom Januar 2004 und vom 15.5.2004 restlos zerstreut worden. Zu berücksichtigen sei, dass die Klägerin bei gekürztem Arbeitslosengeld Sozialhilfe bzw. Wohngeld hätte beziehen können und dass diese Bezüge nachträglich nicht mehr gewährt werden könnten.

In einem Erörterungstermin am 28.11.2008 hat die Klägerin nochmals geschildert, dass sie den Fehler im ersten Bewilligungsbescheid nicht erkannt habe. Sie habe den Zahlbetrag mal vier hochgerechnet und in Beziehung zu ihrem letzten Nettogehalt, das etwa 1500 EUR und nicht 1110 EUR betragen habe (der Differenzbetrag sei später nachgezahlt worden), gesetzt. Das sei ihr mit etwa 75 Prozent plausibel erschienen. Die Klägerin hat nochmals darauf hingewiesen, dass sie ihren Lebensstil natürlich angepasst habe, der Flug nach P. sei vor dem Arbeitslosengeldbezug gewesen, den Urlaub habe sie von ihren Eltern geschenkt bekommen. Der Bevollmächtigte der Klägerin hat darauf hingewiesen, dass das Vorbringen der Klägerin im Widerspruchsverfahren darauf beruhe, dass sie von einem anderen Anwalt dahingehend beraten worden sei, sie solle gutgläubige Entreicherung geltend machen. Die Klägerin weist darauf hin, dass sie von Arbeitslosengeld II lebe, keinerlei Vermögen und stattdessen hohe Schulden habe und so oder so auf absehbare Zeit nichts zurückzahlen können. In weiteren Schriftsätzen vom 16.2.2009 und 14.9.2009 vertieft die Klägerin ihr Vorbringen, die zahlreichen Fehler, die der Beklagten unterlaufen seien, sprächen schon gegen eine Rücknahme der Bewilligungsbescheide, im übrigen liege eine grobfahrlässige Unkenntnis nach den subjektiven Gegebenheiten nicht vor. Schließlich sei der Rückforderungsbescheid allein schon wegen fehlender Ermessensausübung durch die Beklagte aufzuheben.

Die Klägerin stellt den Antrag,

das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 21.3.2006 abzuändern und den Bescheid vom 6.7.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.11.2004 in vollem Umfang aufzuheben, ferner, die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Die Beklagte, die mit Schriftsatz vom 18.10.2006, eingegangen am 20.10.2006 unselbstständige Anschlussberufung eingelegt hat, stellt den Antrag,

die Berufung der Klägerin zurückzuweisen, ferner, das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 21.3.2006 abzuändern und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und vertritt die Auffassung, die Klägerin habe auch bezüglich des Bewilligungsbescheides vom 2.6.2004 infolge grober Fahrlässigkeit nicht erkannt, dass ihr zu viel Arbeitslosengeld bewilligt worden sei. Sie verweist darauf, dass es bei der Prüfung im Rahmen des § 45 SGB X nicht erheblich sei, ob oder welchen Verwaltungsfehler die Beklagte gemacht habe. Auch sei wegen § 330 Abs. 2 SGB III eine Ermessensentscheidung nicht zu treffen gewesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten und auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin ist zulässig, jedoch in der Sache nicht begründet. Ebenfalls nicht begründet ist die unselbstständige Anschlussberufung der Beklagten. Das angefochtene Urteil des SG ist nicht zu beanstanden.

Verfahrensrechtliche Grundlage für die Teilrücknahme eines Verwaltungsaktes ist hier § 45 SGB X. Soweit ein begünstigender Verwaltungsakt rechtswidrig ist, darf er, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 der Vorschrift ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden (vgl. Abs. 1). Auf Vertrauensschutz unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme (vgl. Abs. 2 Satz 1 und 2) kann sich gemäß Abs. 2 Satz 3 der Begünstigte nicht berufen, soweit (Nr. 3) er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. Eine Ermessensausübung ist - auch etwa bei fehlerhaftem Verwaltungshandeln - unter diesen Voraussetzungen im Bereich des Arbeitsförderungsrechts entbehrlich (vgl. § 330 Abs. 2 SGB III).

Grobe Fahrlässigkeit im Sinne von § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X ist dahingehend zu verstehen, dass die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt, wer schon einfachste, ganz nahe liegende Überlegungen nicht anstellt und daher nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss (BSGE 42, 184, 187, BSGE 62, 32,35). Dabei ist das Maß der Fahrlässigkeit insbesondere nach der persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit, dem Einsichtsvermögen des Beteiligten sowie den besonderen Umständen des Falles zu beurteilen (subjektiver Fahrlässigkeitsbegriff; BSGE 35,1 108,1 112). Das Außerachtlassen von Hinweisen in einem Merkblatt ist im allgemeinen grob fahrlässig, es sei denn, dass der Betroffene nach seiner Persönlichkeitsstruktur und seinem Bildungsstand die Erläuterungen nicht verstanden hat (BSGE 44, 264, 273).

Das SG hat im angefochtenen Urteil unter zutreffender Zugrundelegung der hier anzuwendenden Rechtsnormen des SGB III ausführlich dargestellt, dass und in welcher Höhe die Arbeitslosengeld für die Zeit ab 16.10.2003 bewilligenden Bescheide deshalb rechtswidrig waren, weil die Beklagte fälschlicherweise ein wöchentliches Bemessungsentgelt von 830 EUR an Stelle von 425 EUR zugrundegelegt hat. Der Senat nimmt nach eigener Überprüfung zur Vermeidung von Wiederholungen hierauf Bezug und verzichtet insoweit auf eine nochmalige Darstellung (§ 153 Abs. 2 SGG).

Der Klägerin ist auch nach der Überzeugung des Senats grob fahrlässige Unkenntnis der teilweisen Rechtswidrigkeit der Bewilligung vorzuhalten. Der Klägerin hätte bei Erhalt des ersten Bewilligungsbescheides vom 13.10.2003 sowohl das fehlerhafte hohe Bemessungsentgelt als auch der fehlerhafte hohe wöchentliche Leistungssatz ins Auge springen müssen. Dies bereits deshalb, weil die Klägerin gerade einmal anderthalb Jahre zuvor bereits Arbeitslosengeld nach einem Bemessungsentgelt von gerade nicht 830 EUR, sondern von 425 EUR immerhin über einen Zeitraum von zwei Monaten bezogen hat. Immerhin hatte sie seinerzeit einen Bescheid über diese Euro-Umstellung erhalten und diese Umstellung auch nachvollzogen. Es ist, was bereits das SG überzeugend ausgeführt hat, angesichts der in etwa vergleichbaren Höhe der Erwerbsbezüge vor der ersten und vor der zweiten Arbeitslosigkeit kein Grund ersichtlich, der die Klägerin dazu hätte berechtigen können, das Bemessungsentgelt von wöchentlich 830 EUR für zutreffend zu halten.

Hinzu kommt, dass die Klägerin auf Grund ihres früheren Arbeitslosengeldbezuges positiv wusste, dass das Arbeitslosengeld etwa 60 Prozent des letzten Nettoeinkommens beträgt. Dann konnte und durfte aber die Klägerin, wenn sie das ihr bewilligte Arbeitslosengeld für die Zeit ab 16.10.2003 überschlägig auf etwa 75 Prozent ihres letzten Nettoeinkommens berechnete, dieses keinesfalls für plausibel oder gar rechtmäßig halten.

Schließlich ist auch zu beachten, dass die Klägerin (auch nicht zum ersten Mal) das Merkblatt für Arbeitslose erhalten und zur Kenntnis genommen hat, was sie unterschriftlich bestätigt hat. Dass die Klägerin zunächst vorgebracht hat, sie habe keine Merkblatt erhalten, und später vorgebracht hat, sie könne sich nicht daran erinnern, ein Merkblatt erhalten zu haben, ist insoweit unerheblich. Schließlich hat die Klägerin während ihrer ersten Arbeitslosigkeit das Merkblatt für Arbeitslose ebenfalls erhalten, an der Systematik der Berechnung des Arbeitslosengeldes und den Hinweisen hierzu im Merkblatt hat sich zwischenzeitlich nichts wesentliches geändert. In diesem Merkblatt ebenso wie auf der Rückseite der Bewilligungsbescheide wird die Berechnung des Arbeitslosengeldes, der Zusammenhang zwischen der Höhe der vorangegangenen Erwerbsbezüge und der Höhe des Arbeitslosengeldes und die überschlägige Höhe des Arbeitslosengeldes dargestellt. An der Klägerin war es dann, die wesentlichen Daten des Bescheides zur Kenntnis zu nehmen und auf Plausibilität zu prüfen. Hierzu war die Klägerin verpflichtet. Die Klägerin hat nach eigenen Angaben das Arbeitslosengeld auch für plausibel gehalten. Der Senat ist allerdings der Überzeugung, dass der Klägerin sich ohne weiteres hätte aufdrängen müssen, dass das in Euro ausgewiesene Bemessungsentgelt unmöglich zutreffend sein könne. Dies vor allem deshalb, weil bereits während des Arbeitslosengeldbezuges im Jahr 2001/2002 das Bemessungsentgelt von 830 DM auf 425 EUR umgestellt wurde. Dann durfte die Klägerin anderthalb Jahre später ein Bemessungsentgelt von 830 EUR, das zudem zu einem überschlägigen Arbeitslosengeld von 75 Prozent der letzten Nettobezüge führte, keinesfalls für plausibel halten. Wenn die Klägerin angesichts dessen den Bewilligungsbescheid nur oberflächlich und nicht sorgfältig gelesen hat, kann dies den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit nicht entkräften, sondern begründet ihn.

Einschränkungen der Urteils- und Kritikfähigkeit der Klägerin sind nicht ersichtlich. Die Klägerin ist ausgebildete Einzelhandelskauffrau und hat zuletzt jahrelang in gehobener Stellung im Hotelgewerbe gearbeitet. Dass die Klägerin vorbringt, ihre Stärken lägen im Umgang mit Menschen und im kommunikativen Bereich, mit Berechnungen und "Zahlenwerk" habe sie sich nie befasst, ist nicht geeignet, eine Einschränkung der Urteils- und Kritikfähigkeit zu begründen. Sowohl als Einzelhandelskauffrau als auch im Hotelgewerbe hatte die Klägerin sowohl in der Ausbildung als auch in der Berufsausübung mit Rechnungen, Kassen und Belegen zu tun.

Dass die Fehlerhaftigkeit der Bewilligung vom Arbeitsamt verursacht worden ist, hindert, da nach § 330 Abs. 2 SGB III Ermessenserwägungen auch bei grobem Verschulden der Behörde nicht geboten sind, nicht den Vorhalt grober Fahrlässigkeit.

Schließlich vermochte sich der Senat wie schon das SG nicht davon zu überzeugen, dass die Klägerin etwa aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage gewesen wäre, die Fehlerhaftigkeit des Bewilligungsbescheides zu erkennen. Dass die Klägerin in der Zeit, als der erste Bewilligungsbescheid erging, wegen einer Bronchitis und einer Depression in hausärztlicher Behandlung stand, vermag nicht zu begründen, dass die Klägerin etwa nicht in der Lage gewesen wäre, den Bewilligungsbescheid mit der gebotenen Sorgfalt zu lesen und nachzuvollziehen. Die Klägerin hat schließlich auch angegeben, sie habe den Bewilligungsbescheid gelesen und für plausibel erachtet.

Das SG hat im übrigen auch zutreffend begründet, dass die Klägerin zu dem Zeitpunkt, als sie vom Arbeitsamt W. nach Umzug und erneuter Antragstellung den Bescheid vom 2.6.2004 über die Bewilligung des Arbeitslosengeldes für die Zeit ab 15.5.2004 erhielt, schutzwürdiges Vertrauen in die Richtigkeit dieses Bescheides haben durfte. Anders als bei den vorangegangenen Bescheiden des Arbeitsamts R. hat nämlich das Arbeitsamt W. auf Grund eines neuen Antrags und auf Grund eigener Sachprüfung über die Bewilligung des Arbeitslosengeldes entschieden. Wenn nun ein zweites Arbeitsamt bei den gleichen Angaben der Klägerin zum gleichermaßen falschen Ergebnis kommt, kann es der Klägerin nicht als grob fahrlässig angelastet werden, dies nicht als unrichtig erkannt zu haben. Aus diesem Grund ist auch die Anschlussberufung der Beklagten nicht begründet.

Das SG hat auch den gem. § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X zu erstattenden Betrag zutreffend errechnet, ebenso den Betrag, um dem sich die Rückforderung für die Zeit ab 15.5.2004 vermindert. Auf (gutgläubigen) Verbrauch der Leistung oder auf die Fähigkeit oder Unfähigkeit zur Erstattung kommt es vorliegend nicht an; über deren Modalitäten ist hier nicht zu entscheiden (ständige Rechtsprechung). Sollte die Klägerin angesichts ihrer sozialen und finanziellen Situation zur Rückzahlung der Erstattungsforderung nicht in der Lage sein, bleibt es ihr unbenommen, Stundung, Niederschlagung oder Erlass der Forderung zu beantragen, diese sind jedoch nicht Gegen-stand des Rechtsstreits.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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