L 6 U 69/06

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Magdeburg (SAN)
Aktenzeichen
S 8 U 37/05
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 6 U 69/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Feststellung, dass Regelwidrigkeiten seiner Psyche Folge des Arbeitsunfalls vom 30. Juni 1971 sind und die Zahlung einer Verletztenrente.

Der 1948 geborene Kläger erlitt am 30. Juni 1971 als Fahrer eines LKW einen Verkehrsunfall. Nach der am 6. Juli 1971 beim Bezirksvorstand des FDGB eingegan-genen Unfallanzeige hatte er den Auftrag, Formereisand zu transportieren. Auf der Landstraße sei ihm ein Bus mit Anhänger entgegengekommen. Dieser habe bremsen müssen, so dass der Anhänger zur Fahrbahnmitte ausgeschert sei. Um einen Zusam-menstoß zu vermeiden, habe er den Kipper nach rechts gezogen, so dass er gegen einen Baum gefahren und aus dem Wagen geschleudert worden sei. Hierbei habe er Prellungen an Hüfte und Hinterkopf erlitten, die im Krankenhaus Altstadt Magdeburg behandelt worden seien. Nach späteren eigenen Angaben wurde er noch am selben Tag entlassen und am nächsten Tag durch den Werksarzt eine 14-tägige Arbeitsunfä-higkeit festgestellt. Therapien seien nicht erfolgt.

Mit einem am 19. März 2004 eingegangenen Schreiben wandte sich der Kläger an die Berufsgenossenschaft für Fahrzeughaltungen (BGF), die den Vorgang später zustän-digkeitshalber an die Beklagte abgab. Der Kläger berichtete in seinem Schreiben über den Unfall sowie in der Folge auftretende Schlafstörungen mit Träumen vom Unfallge-schehen und Angstgefühlen. Da das Unternehmen zunächst keinen neuen LKW für ihn gehabt habe, sei er vorerst zu Hilfsarbeiten eingeteilt worden. Nach einem Dreiviertel-jahr sei er als Zweitfahrer für einen Schwerlasttransport eingesetzt worden. Wenige Minuten nach erstmaliger Übernahme des Fahrzeugs sei es zu einem stetig zuneh-menden Gefühl der Unsicherheit und Angst gekommen, sodass er die Fahrt habe unterbrechen müssen. Einige Zeit später sei ihm ein LKW im Fernverkehr anvertraut worden. Anfänglich habe es keine Probleme gegeben, jedoch sei es nach einigen Monaten wieder zu Gefühlen der Unsicherheit und Angst gekommen. Er habe dann einen Parkplatz aufgesucht und nach einigen Minuten seine Fahrt fortsetzen können. Da sich diese Episoden verstärkt hätten, habe er 1978 beschlossen, nicht mehr im Fernverkehr, sondern erneut "Kipper" im Magdeburger Umland zu fahren. Anfänglich sei es ihm besser gegangen, er habe aber auch hier Tage gehabt, an denen er kaum zu fahren in der Lage gewesen sei. Nach der Abwicklung des Unternehmens 1989 sei er einige Monate arbeitslos gewesen und habe dann eine Anstellung im Fernverkehr gefunden. Nach einigen Wochen habe er eine zunehmende Nervosität und schnelle Abnahme seiner Konzentration bemerkt. Auch innere Unruhe und Schlafstörungen seien wiedergekehrt. Zuletzt – nach späteren Angaben im Mai 1998 – habe er sein Fahrzeug auf der A 2 anhalten und abstellen müssen. Nach 14-tägiger Arbeitsunfähig-keit sei es auf der PKW-Fahrt in den Urlaub zu einem ähnlichen Zusammenbruch gekommen. Nunmehr bestehe Arbeitsunfähigkeit seit Mai 1998. Bereits seit 1990 habe er sich mehrfach im Krankenhaus zu therapeutischen Maßnahmen aufgehalten und in der Zwischenzeit vier Suizidversuche unternommen. Dem Schreiben beigefügt war u.a. ein Arztbrief des Psychologen Dr. P. vom 30. Juli 1999, wonach sich aufgrund testpsychologischer Untersuchungen Hinweise auf das Vorliegen einer zerebralen Insuffizienz ergeben hätten, sowie ein Unterbringungsbeschluss des Amtsgerichts Magdeburg vom 3. September 2001 aufgrund eines Suizidversuchs am 5. August 2001.

Zur Aufklärung des Sachverhalts versuchte die BGF Unterlagen über den Unfall des Klägers 1971 und der daraufhin durchgeführten Behandlungen beizuziehen. Diese Bemühungen blieben bis auf die genannte Unfallanzeige erfolglos. Ferner befragte die BGF behandelnde Ärzte: Die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. habil. G. gab unter dem 12. Mai 2004 an, den Kläger erst seit dem 24. März 1999 zu behandeln. Von einem Unfall habe ihr der Kläger nicht berichtet. Prof. Dr. K. berichtete unter dem 20. Juli 2004, sie habe den Kläger im Zeitraum von Juli bis Dezember 1998 ambulant behandelt. Dies sei wegen einer neurotischen Persönlichkeitsstörung mit massiver Fehlentwicklung mit Angst- und Panikattacken erfolgt. Über ein Unfallge-schehen sei aus ihren Unterlagen nichts zu entnehmen. Ferner zog die BGF ein vom Priv. Doz. Dr. B. und Dr. K. erstelltes ärztliches Zeugnis zum Unterbringungs-verfahren vom 6. August 2001 bei. Darin wird über einen Suizidversuch des Klägers am 5. August 2001 mittels Tabletten bei einem Blutalkoholspiegel von 3,2 Promille berichtet. Der Kläger habe angegeben, seit 1995 an Nervenzusammenbrüchen zu leiden. Bereits 1996 und 1998 habe er Suizidversuche unternommen, die durch seine Ehefrau verhindert worden seien. Es bestehe ein suizidales Syndrom. Auslöser für diese Symptomatik seien finanzielle Sorgen, die Ablehnung einer Erwerbsunfähigkeitsrente sowie die Unfähigkeit Auto zu fahren. Nach Angaben des Klägers bestand seit etwa drei Jahren eine depressive Symptomatik.

Nach Übernahme des Vorgangs zog die Beklagte Unterlagen eines Verfahrens über die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bei. Eine solche Rente wurde aufgrund eines gerichtlichen Vergleichs vom Oktober 2001 zunächst ab Mai 2001 befristet und ab Mai 2004 unbefristet gezahlt. Teil dieser Unterlagen war ein Gutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. G. vom 7. September 1999. Dieser diagnostizierte eine neurotische Fehlentwicklung bei einfacher Persönlichkeitsstruktur, leichten Alkoholabusus sowie erheblichen Nikotinabusus. Der Kläger könne vollschichtig Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verrichten, solle jedoch bis zu einer Nachbegutachtung in etwa sechs Monaten nicht als Kraftfahrer eingesetzt werden. In der Anamnese wird angegeben, der Kläger habe 1995 aus Unzufriedenheit über die Entlohnung selbst gekündigt und sei bis Juni 1996 arbeitslos gewesen. Danach sei es ihm nicht gut gegangen. In der Zusammenfassung wird ergänzend ausgeführt, 1997 hätte sich der Kläger als Kraftfahrer krank gefühlt. Er hätte sich fertig gefühlt, es seien auch Ängste hochgekommen, vordergründig habe aber körperliches Versagen bestanden. In diesem Gutachten, das auch verschiedene Vorbefunde zitiert, findet der Unfall von 1971 keine Erwähnung. Insbesondere werden auch keine Ängste im Zusammenhang mit der Kraftfahrertätigkeit vor 1997 erwähnt.

Bei den Unterlagen des Rentenverfahrens befand sich weiter ein Gutachten des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. D. und des Dr. B. vom 7. Dezember 2000. Darin werden die Diagnosen bipolare Depression (ICD-10: F 34.1) und Angststörung mit Panikattacken (ICD-10: F 41.0) genannt. Die Schilderung der für die Begutachtung relevanten Beschwerden beginnt mit der Kündigung des Klägers wegen Unregelmäßigkeiten bei der Lohnzahlung im Mai 1995. Ferner berichtet dieser über einen Vorfall im Juli 1995, als es auf einer Fahrt mit dem PKW zu Unwohlsein mit Schweißausbrüchen und Ängsten vor einem Unfall gekommen sei. Danach habe er für 1 ½ Jahre immer beim Autofahren starke Angstgefühle gehabt. Im Jahre 1997 hätten sich diese Beschwerden gebessert, so dass er ab November 1997 wieder als LKW-Fahrer gearbeitet habe. Im Mai 1998 sei es zu einem "Zusammenbruch" gekommen: Wegen starker Konzentrationsstörungen, Schweißausbrüchen und Unsicherheit habe er eine Fahrt unterbrechen müssen und nur auf Drängen seines Chefs mit langsamer Geschwindigkeit fortsetzen können. Einige Wochen später habe auf einer Urlaubsfahrt mit dem PKW ein ähnliches Ereignis stattgefunden. Nach vorübergehender Besserung fahre er nur noch selten Auto, verschiebe Fahrten auf verkehrsarme Zeiten und mache dann viele Pausen. Zur beruflichen Entwicklung hat der Kläger angegeben, 1969 habe er einen schweren LKW-Unfall gehabt, bei dem er aus dem Fahrzeug geschleudert worden sei. Außer Prellungen an der Wirbelsäule und einer Kopfplatzwunde habe er aber keine Verletzungen erlitten. Über dieses Unfallereignis habe er nicht nachdenken können, er habe es wohl verdrängt. Bereits im Jahre 1977 oder 1978 habe er schon kurze Phasen gehabt, wo er sich für ca. 15 Minuten beim LKW-Fahren schlecht gefühlt habe. Ein Zusammenhang zwischen dem geschilderten Unfall, den Beschwerden in den 70er Jahren und den aktuellen Beschwerden des Klägers wird im Rahmen des Gutachtens nicht diskutiert.

Ebenfalls im Rahmen des Rentenverfahrens gelangte die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dipl.-Med. F. vom ärztlichen Gutachterdienst des Rentenversi-cherungsträgers in zwei Gutachten vom 16. April und 24. Oktober 2003 zu den Diagnosen rezidivierende depressive Störung (reaktiv) – gegenwärtig leichte Episode, Alkoholmissbrauch – Abhängigkeit nicht sicher auszuschließen, alkoholtoxischer Leberschaden und Nikotinabhängigkeit. Im späteren Gutachten lauteten die Diagnosen rezidivierende depressive Störung – gegenwärtig leicht bis mittelgradige Episode, sekundäre Alkoholabhängigkeit und alkoholtoxischer Leberschaden. Dabei wurde eine Verschlechterung der Symptomatik gegenüber der Vorbegutachtung im April 2003 festgestellt. Ausweislich der Anamnese hat der Kläger auch über seinen Unfall 1971 berichtet, ohne dass hierzu jedoch Einzelheiten festgehalten worden sind. Gleichzeitig hat der Kläger angegeben, seit 1995 unter Angstzuständen beim Autofahren zu leiden und nach der Wiederaufnahme seiner Tätigkeit als LKW-Fahrer im Mai 1998 während einer Fahrt nach Kassel einen großen Zusammenbruch erlitten zu haben. In der Epikrise des Gutachtens vom 16. April 2003 schildert Dipl.-Med. F. , der Kläger sei von 1974 bis zur Erkrankung 1998 durchgängig als Berufskraftfahrer tätig gewesen. In den letzten Jahren seiner Berufstätigkeit wären zunehmend Ängste aufgetreten, die schließlich zur Berufsaufgabe geführt hätten. Bereits vor 1995 etwa bestehende Ängste werden nicht erwähnt. Auch ein Zusammenhang zwischen dem Unfall 1971 und den später auftretenden Krankheitssymptomen wird nicht diskutiert.

Ferner hat die Beklagte eine Aufstellung über die Zeiten der Arbeitsunfähigkeit des Klägers von dessen Krankenkasse abgefordert. Diese umfasste die Zeit ab 1. Novem-ber 1993. Die erste Arbeitsunfähigkeit aufgrund psychischer Leiden ist für den 7. Mai 1998 dokumentiert (Angstzustände). Auch die vom Kläger eingereichten Kopien seines DDR-Ausweises für Arbeit und Sozialversicherung enthalten keine Hinweise auf eine nervenärztliche Behandlung in der Zeit von 1971 bis 1990.

In einer zusammenfassenden neurologisch-psychiatrischen Stellungnahme nach Aktenlage für die Beklagte vom 22. November 2004 kam Dr. B. zu dem Ergebnis, dass es keinen begründeten Anhaltspunkt für einen Zusammenhang zwischen der in den neunziger Jahren in Erscheinung getretenen psychischen Symptomatik und dem Unfall 1971 gebe. Bereits die Latenz von 20 Jahren zwischen dem Unfall und der psychischen Symptomatik schließe diesen Zusammenhang aus. Auch weise die psychische Symptomatik keine Merkmale auf, die als unfallspezifisch anzusehen seien. Es bestehe in erster Linie eine depressive Symptomatik sowie Alkohol- und Nikotin-missbrauch. Letztere könnten eine hirnorganische Beeinträchtigung bewirken, die damit verletzungsunabhängig sei.

Mit Bescheid vom 9. Dezember 2004 lehnte die Beklagte die Gewährung von Entschä-digungsleistungen aus Anlass der beim Kläger bestehenden Persönlichkeitsstörung ab, erkannte jedoch einen Arbeitsunfall am 30. Juni 1971 sinngemäß an. Dabei habe der Kläger sich Prellungen an Hüfte und Hinterkopf zugezogen. In den 90er Jahren seien eine neurotische Persönlichkeitsstörung, eine hirnorganische Leistungsbeeinträchti-gung sowie Alkoholmissbrauch festgestellt worden. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Unfall und diesen Erkrankungen bestehe jedoch nicht.

Seinen am 5. Januar 2005 bei der Beklagten eingegangenen Widerspruch begründete der Kläger mit nach dem Unfall bestehenden Schlafstörungen und einem Ereignis wenige Monate nach dem Unfall: Damals habe er sich auf seiner ersten Fernfahrt als Zweitfahrer auf der Rückfahrt von Riesa befunden. Nach Übernahme des Fahrzeugs sei er bei einsetzendem Regen so unsicher geworden, dass er auf einem Rastplatz eine Pause habe einlegen müssen. Ferner kritisierte er, dass es sich bei den herangezogenen Gutachten um solche in einem Rentenverfahren, jedoch nicht in einem unfallversicherungsrechtlichen Verfahren gehandelt habe. Auch sei zu berücksichtigen, dass er nach seinem Unfall schwer traumatisiert gewesen sei, es jedoch 1971 noch keine Traumabehandlung gegeben habe. Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 4. März 2005 zurück.

Seine am 21. März 2005 vor dem Sozialgericht Magdeburg erhobene Klage hat der Kläger im Wesentlichen darauf gestützt, dass er seit dem ersten Tag nach dem Unfall unbewusst Probleme gehabt habe, die lange Zeit weder diagnostiziert noch behandelt worden seien und die Ursache der späteren Persönlichkeitsstörung seien.

Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch Einholen eines psychiatrisch-neurologischen Gutachtens des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Neurologie und Psychiatrie Priv. Doz. Dr. G. vom 30. Januar 2006. Dieser hat folgende Diagnosen gestellt: Rezidivierende depressive Störung – gegenwärtig remittiert, bei Medikamentenfreiheit (ICD-10-GM-2005 F 33.4), Alkoholabhängigkeits-syndrom mit gegenwärtigem Substanzgebrauch (ICD-10-GM-2005 F 10.24), alkohol-bedingte psychische Verhaltensstörungen unter Einschluss eines diskreten psychoor-ganischen Syndroms bei alkoholtoxischer Hirnschädigung (ICD-10-GM-2005 F10.8). Weiter hat er ausgeführt, diese Gesundheitsstörungen bestünden unabhängig vom Unfall. Durch den Arbeitsunfall verursachte Gesundheitsstörungen seien fachpsychiat-risch und fachneurologisch nicht feststellbar. Dieses Ergebnis hat er im Wesentlichen darauf gestützt, dass ausweislich der Unfallanzeige bei dem Unfall nur Prellungen an Hüfte und Hinterkopf festgestellt worden seien. Aufgrund des weiteren Behandlungs-verlaufs sei davon auszugehen, dass der Kläger ausschließlich eine Schädelprellung ohne jedwede Hirnbeteiligung erlitten habe. Die vom Kläger beschriebene psychische Veränderung mit Nachhallerinnerungen und Alpträumen könne auch ohne nachfolgen-des Vermeidungsverhalten als kurzzeitige posttraumatische Belastungsstörung gedeutet werden. Diese sei dem Kläger zufolge dann vollständig abgeklungen. Hierfür spreche auch der weitere berufliche Werdegang des Klägers, der es Ende der achtzi-ger Jahre sogar zum Meister gebracht habe. Psychiatrisch-psychotherapeutischer Handlungsbedarf habe erst seit Mitte der neunziger Jahre bestanden. Im Beschwerdezentrum habe eine affektive Störung, wiederholt als Depression bezeichnet, gestan-den. Zwischen der depressiven Symptomatik und dem Unfall bestehe aus fachpsych¬iatrischer Sicht keinerlei Zusammenhang. Eine computertomographisch nachgewiese-ne, leicht den Durchschnittsbereich überschreitende Hirnatrophie stehe in keinem Zusammenhang zum Unfall. Vielmehr sei sie als Folge eines langjährigen Alkoholmissbrauchs und nunmehr süchtigen Alkoholgebrauchs einzuordnen. Gleichzeitig bestünden Wechselwirkungen zwischen den depressiven Stimmungsschwankungen, den Suizidversuchen sowie dem Alkoholkonsum. Auch die vom Kläger geltend ge-machten episodisch auftretenden Ängste in Verbindung mit Unruhe seien in diesem Rahmen zu erklären, könnten jedoch auch durch eine erhebliche klinisch fassbare Herzrhythmusstörung verursacht sein. Psychopathologisch hätten sich keine gerichte-ten Ängste nachweisen lassen, die das klinische Bild einer Panikattacke erreichten. Auch die vom Kläger angegebenen Ängste bei Autobahnfahrten mit 200 km/h seien nicht als Unfallfolge einzuordnen.

Gegenüber dem Gutachter hat der Kläger ausführlich über den Unfallhergang sowie über etwa ein Vierteljahr andauernde Schlafstörungen mit Erinnerungen an den Unfall berichtet. Auch den Vorfall auf der Rückfahrt von Riesa hat er beschrieben, ferner ein zeitlich nicht näher eingegrenztes, jedoch vor 1990 liegendes Ereignis auf der Auto-bahn bei Eisenberg. Auch die Ereignisse im Mai 1998 auf der Fahrt nach Kassel und auf der späteren Urlaubsreise nach Schweden hat er beschrieben, beides jedoch dem Januar 1997 zugeordnet. Er selbst hat die beim LKW-Fahren auftretenden Ängste auf den Unfall zurück geführt. Daneben sei es auch bei einer zeitlich nicht eingeordneten Fahrt mit seinem BMW mit etwa 200 km/h zu Ängsten gekommen, so dass er die Geschwindigkeit auf 80 km/h habe reduzieren müssen (nach den Angaben im Gutach-ten hat der Kläger den BMW von 1995 bis 2002 besessen).

Mit Urteil vom 6. April 2006 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und in der Begründung ausgeführt, es lasse ausdrücklich offen, ob der Kläger am 30. Juni 1971 einen Arbeitsunfall erlitten habe. Jedenfalls seien die psychischen Beeinträchtigungen, die erstmals Mitte der neunziger Jahre behandlungsbedürftig geworden seien, nicht als Folge des Unfalls anzusehen. Nach dem Gutachten des Priv. Doz. Dr. G. handle es sich bei den beim Kläger vorliegenden psychischen Störungen um unfallunabhängige krankhafte Veränderungen. Dagegen habe der Unfall vom 30. Juni 1971 keinerlei Gesundheitsstörungen auf fachpsychiatrischem bzw. fachneurologischem Gebiet verursacht. Es bestehe kein zeitlicher Zusammenhang zwischen den psychischen Störungen und dem Arbeitsunfall. Gegen einen solchen Zusammenhang spreche auch, dass der Kläger den Unfall gegenüber seinen behandelnden Ärzten nicht erwähnt habe. Auch habe der Kläger selbst dem Unfall über Jahrzehnte keine Bedeutung zugemessen. Erst eine Nachfrage einer Mitarbeiterin seiner Krankenkasse habe ihn zur Antragstellung veranlasst. Daneben kämen auch unfallunabhängige Faktoren für die Entstehung der psychischen Beeinträchtigung in Betracht, insbesondere der von Priv. Doz. Dr. G. benannte Alkoholmissbrauch.

Gegen das ihm am 3. Mai 2006 zugestellte Urteil hat der Kläger noch im selben Monat Berufung zum Landessozialgericht Sachsen-Anhalt eingelegt. Er ist der Auffassung, durch die Verwertung der Gutachten aus dem Rentenverfahren ergebe sich ein falsches Bild. Zudem behauptet er, Ängste und Schlafstörungen nicht nur unmittelbar nach dem Unfall und insbesondere bei der ersten LKW-Fahrt nach Riesa gehabt zu haben. Vielmehr hätten sich die Ängste der ersten Fahrt häufig wiederholt. Seit 1971 leide er aufgrund damals unzureichender Untersuchungen und Diagnosen unbewusst an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Diese habe sich bis zu seinem Zu-sammenbruch 1998 stetig verstärkt. Ergänzend hat der Kläger mehrere Internet-Veröffentlichungen zu posttraumatischen Belastungsstörungen, insbesondere nach Unfällen, vorgelegt (auf Blatt 246 bis 260 d. A. wird Bezug genommen). Ferner hat er ein Privatgutachten des Facharztes für Psychiatrie L. vom 7. Mai 2008 nebst ergänzender Stellungnahme vom 15. Dezember 2008 sowie ein Privatgutachten des Facharztes für Nervenheilkunde G. vom 11. Februar 2009 vorgelegt. Hinsichtlich deren Einzelheiten wird auf Blatt 166 bis 173, 205 bis 207, 216 bis 226 Bezug genom-men. Herr L. hat die Diagnosen einer rezidivierenden Depression (ICD-10: F 33.1) und einer Persönlichkeitsveränderung nach Unfalltrauma (ICD-10: F 62.0) gestellt. Ein Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis 1971 und dem aktuellen psychischen Zustand sei eindeutig zu bejahen. Zwar sei der Verlauf der Erkrankung "sicherlich ungewöhnlich, aber insgesamt doch schlüssig". Wenn man bedenke, dass 1971 eine adäquate Versorgung von Unfallopfern im heutigen Sinne auf psychiatrischem Fach-gebiet nicht erfolgt sei und der Kläger glaubhaft schildere, die Behörden hätten damals ein Interesse daran gehabt, die Ereignisse zu vertuschen, sei es sehr wohl möglich, ohne direkt feststellbare posttraumatische Belastungsstörung die beschriebene Persönlichkeitsveränderung zu erleiden und zu erleben. Auch die Latenz spreche nicht dagegen. Zum Beispiel erlitten auch kriegstraumatisierte Menschen oftmals erst im Rentenalter schwere psychische Störungen und Veränderungen aufgrund der Ereig-nisse. Herr G. hat eine posttraumatische Belastungsstörung (F 43.10 – G), Angst und depressive Störung gemischt (F 41.2 – G) und eine Alkoholabhängigkeit (F 10.2 – G) diagnostiziert. Der Kläger habe bei dem Unfall am 30. Juni 1971 eine posttraumati-sche Belastungsstörung erlitten, vor deren Hintergrund eine gemischte Angst- und depressive Störung mit Panikattacken entstanden sei. Der unkontrollierte Alkoholkon-sum ab 2002 sei Folge einer zunehmenden psychischen Dekompensation und als frustraner Coping-Versuch zu werten. Laut Anamnese hatte der Kläger angegeben, nach dem Unfall habe er zunehmende Angst entwickelt, bei Regenwetter Auto zu fahren. Auch bei trockenen Straßen sei er mit zunehmender Entfernung unsicherer geworden. Nach dem Unfall habe er Probleme gehabt, "Kipper" zu fahren und habe deshalb 1972 angefangen, als Fernfahrer zu arbeiten. Anfänglich habe dies gut geklappt, später habe er wieder zunehmende Angst entwickelt, auf nasser Fahrbahn zu fahren. Da er dies auf die langen Fahrstrecken zurückgeführt habe, sei er wieder zu seinem früheren Arbeitsplatz zurückgekehrt, wo er zunächst besser zurecht gekommen sei.

Einen Antrag nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf Begutachtung durch den Facharzt für Neurologie/Psychiatrie Dr. D. hat der Kläger zurückgezogen. Zuvor hatte dieser aufgrund einer ersten Aktendurchsicht mit Schreiben vom 1. Februar 2007 mitgeteilt, er werde auch zu keiner anderen nervenärztlichen Einschätzung kommen, als im Gutachten des Priv. Doz. Dr. G ...

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts vom 6. April 2006 aufzuheben und den Bescheid der Beklagten vom 9. Dezember 2004 in der Fassung des Widerspruchsbeschei-des vom 4. März 2005 abzuändern sowie

die Beklagte zu verurteilen, ihm wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 30. Juni 1971 eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um mindes-tens 20 v.H. zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil weiterhin für zutreffend. Die vorgelegten Privatgutach-ten vermöchten nicht zu überzeugen. Insbesondere genügten sie nicht den Anforde-rungen der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes zur Prüfung des Zusammen-hangs zwischen einem Unfall und späteren Erkrankungen.

Der Senat hat Beweis erhoben durch das Einholen ergänzender Stellungnahmen des Priv. Doz. Dr. G. vom 9. Juli 2008, 26. September 2008 und vom 26. Juli 2009. Bezüglich der Einzelheiten wird auf Blatt 185 bis 189, 200 f. und 266 bis 269 d. A. Bezug genommen. Priv. Doz. Dr. G. hält auch angesichts der vorgelegten Privat-gutachten die Ergebnisse seines Gutachtens vom 30. Januar 2006 weiter für zutref-fend. Die Einschätzung des Herrn L. widerspreche den diagnostischen Kriterien nach der ICD–10. Herr G. verkenne, dass der Kläger seit Mitte der neunziger Jahre bei mehreren Nervenärzten sowie in fachpsychiatrisch-stationärer Behandlung war, ohne ein Unfalltrauma auch nur zu erwähnen. Herr G. bleibe die Antwort schuldig, ob es bei über 20-jähriger völliger Symptomfreiheit überhaupt zu einer Reaktualisierung eines kurzzeitig nach dem Unfall bestehenden posttraumatischen Syndroms kommen könne. Alternativen diskutiere er nicht. Das Fehlen von Brückensymptomen über Jahrzehnte könne nicht durch rückblickende, dem Lebenslauf widersprechende sthenische (= kraftvolle) Behauptungen des Klägers ersetzt werden.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts, insbesondere der Ergebnisse der medizinischen Ermittlungen wird auf die Verfahrensakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und haben dem Senat bei der Beratung vorgelegen.

Entscheidungsgründe:

Die nach §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und auch im übrigen zulässige Berufung ist unbegründet.

Darüber konnte der Senat in entsprechender Anwendung von §§ 111 Abs. 1 Satz 2, 126 SGG in Abwesenheit des Klägers entscheiden, da dieser in der Terminsmitteilung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist.

Der Bescheid der Beklagten vom 9. Dezember 2004 in der Fassung des Wider-spruchsbescheides vom 4. März 2005 beschwert den Kläger nicht im Sinne von §§ 157, 54 Abs. 2 Satz 1 SGG. Denn der Kläger hat keinen Anspruch auf Zahlung einer Rente aufgrund der Folgen des Arbeitsunfalls vom 30. Juni 1971. Dabei war das Vorliegen eines solchen Arbeitsunfalls durch den Senat nicht mehr zu prüfen, denn die Beklagte hat durch die angefochtenen Bescheide den Verkehrsunfall des Klägers vom 30. Juni 1971 als Arbeitsunfall mit den Folgen Prellungen an Hüfte und Hinterkopf anerkannt und nur die Gewährung von Entschädigungsleistungen abgelehnt.

Ein Anspruch des Klägers auf Zahlung einer Rente der gesetzlichen Unfallversicherung ist anhand der Voraussetzungen des § 56 Sozialgesetzbuch Siebentes Buch – Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII) zu prüfen. Denn nach § 215 Abs. 6 SGB VII ist für die Feststellung und die Zahlung bei Versicherungsfällen, die im Beitrittsgebiet vor dem 1. Januar 1991 eingetreten sind, § 1154 der Reichsversicherungsordnung (RVO) in der am Tag vor Inkrafttreten des SGB VII geltenden Fassung mit der Maßga-be weiter anzuwenden, dass an die Stelle der dort genannten Vorschriften der RVO die §§ 56 und 81 bis 91 des SGB VII treten. Deshalb ist nach § 1154 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 RVO für die Bemessung des Körperschadens für Arbeitsunfälle, die vor dem 1. Januar 1992 eingetreten sind, § 56 SGB VII anzuwenden, wenn die Renten nach dem 31. Dezember 1991 erstmals festgestellt werden. Dies ist vorliegend der Fall, da sich der Kläger erstmalig am 19. März 2004 mit dem Begehren einer Entschädigung der Folgen des Unfalls vom 30. Juni 1971 an einen Träger der Gesetzlichen Unfallversicherung gewandt hat und damit der genannte Unfall erstmalig einem solchen Träger bekannt geworden ist.

Der Kläger hat jedoch keinen Anspruch auf Verletztenrente aufgrund von Folgen des Unfalls vom 30. Juni 1971, weil die Voraussetzungen des § 56 SGB VII nicht erfüllt sind. Nach § 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VII haben Anspruch auf eine Verletztenrente aus der Gesetzlichen Unfallversicherung Versicherte, wenn ihre Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalles (Arbeitsunfall oder Berufskrankheit) über die 26. Woche nach dem Eintritt des Versicherungsfalls hinaus um mindestens 20 v. H. gemindert ist. Dies erfordert das Entstehen von länger andauernden Unfallfolgen aufgrund des unmittelbar durch das Unfallereignis erlittenen Gesundheitserstschadens. Zur Feststel-lung einer gesundheitlichen Beeinträchtigung infolge eines Versicherungsfalls muss zwischen dem Unfallereignis und den geltend gemachten Unfallfolgen entweder vermittelt durch den Gesundheitserstschaden oder direkt ein Ursachenzusammenhang bestehen (vgl. BSG, Urteil vom 9. Mai 2006 – B 2 U 1/05 RBSGE 96, 196 = SozR 4 2700 § 8 Nr. 17 m.w.N.). Für den insoweit erforderlichen ursächlichen Zusammen-hang zwischen dem Gesundheitsschaden und dem Arbeitsunfall gilt der Beweismaß-stab der hinreichenden Wahrscheinlichkeit. Diese liegt vor, wenn mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht und ernste Zweifel ausscheiden. Die reine Möglichkeit genügt nicht (BSG a. a. O.). Im Gegensatz zu diesem erleichterten Be-weismaß für den Ursachenzusammenhang zwischen Arbeitsunfall und möglicher Unfallfolge ist für den Nachweis des Vorliegens einer als Unfallfolge in Betracht kommenden Gesundheitsstörung der Vollbeweis, also eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der zu beweisenden Tatsache, erforderlich. Soweit die Anerkennung einer psychischen Störung als Unfallfolge in Rede steht, ist eine exakte Diagnose der Krankheit nach einem der international anerkannten Diagnose-systeme (ICD-10 oder DSM IV) notwendig (BSG, a. a. O.).

Nach diesem Maßstab ist das Vorliegen der vom Kläger vorrangig als Unfallfolge geltend gemachten posttraumatischen Belastungsstörung (ICD-10 F 43.1), wie auch einer andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung (ICD-10 F 62.0) bereits nicht bewiesen. Die posttraumatische Belastungsstörung (F 43.1) gehört nach der aktuellen ICD-10-GM Version 2010 (Quelle: Deutsches Institut für medizinische Dokumentation und Information – www.dimdi.de; im Folgenden kurz: ICD-10) zur Gruppe der Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen (F 43.-). Kennzeichnend hierfür ist die Angabe von ein oder zwei ursächlichen Faktoren: Ein außergewöhnlich belastendes Lebensereignis, das eine akute Belastungsreaktion hervorruft, oder eine besondere Veränderung im Leben, die zu einer anhaltenden unangenehmen Situation geführt hat und eine Anpassungsstörung hervorruft. Im Gegensatz zu anderen Störungen des fünften Kapitels der ICD-10 entstehen die Störungen dieses Abschnitts immer als direkte Folge der akuten schweren Belastung oder des kontinuierlichen Traumas. Das belastende Ereignis oder die andauernden, unangenehmen Umstände sind primäre und ausschlaggebende Kausalfaktoren, und die Störung wäre ohne ihre Einwirkung nicht entstanden. Die Störungen dieses Abschnittes werden insofern als Anpassungsstörungen bei schwerer oder kontinuierli-cher Belastung angesehen, als sie erfolgreiche Bewältigungsstrategien behindern und aus diesem Grunde zu Problemen der sozialen Funktionsfähigkeit führen. Dabei entsteht die posttraumatische Belastungsstörung (F 43.1) als eine verzögerte oder protrahierte (= verzögert oder über eine längere Zeit hinweg wirkende) Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außerge-wöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Prädisponierende Faktoren wie bestimmte, z. B. zwanghafte oder asthenische Persönlichkeitszüge oder neurotische Krankheiten in der Vorgeschichte können die Schwelle für die Entwicklung dieses Syndroms senken und einen Verlauf erschweren, aber die letztgenannten Faktoren sind weder notwendig noch ausreichend, um das Auftreten der Störung zu erklären. Typische Merkmale sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks), Träumen oder Alpträumen, die vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls des Betäubtseins und emotionaler Stumpfheit auftreten. Ferner finden sich Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber, Freudlosigkeit sowie Vermeidung von Aktivitäten und Situatio-nen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. Meist tritt ein Zustand von vegetativer Übererregtheit, mit Vigilanzsteigerung, einer übermäßigen Schreckhaftig-keit und Schlafstörungen auf. Angst und Depression sind häufig mit den genannten Symptomen und Merkmalen assoziiert, und Suizidgedanken sind nicht selten. Der Beginn folgt dem Trauma mit einer Latenz, die wenige Wochen bis Monate dauern kann. In wenigen Fällen nimmt die Störung über viele Jahre einen chronischen Verlauf und geht dann in eine andauernde Persönlichkeitsänderung (F 62.0) über.

Die andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung (F 62.0) ist nach der ICD-10 als eine wenigstens über zwei Jahre bestehende Persönlichkeitsänderung nach einer Belastung katastrophalen Ausmaßes definiert. Die Belastung muss so extrem sein, dass die Vulnerabilität der betreffenden Person als Erklärung für die tiefgreifende Auswirkung auf die Persönlichkeit nicht in Erwägung gezogen werden muss. Die Störung ist durch eine feindliche oder misstrauische Haltung gegenüber der Welt, durch sozialen Rückzug, Gefühle der Leere oder Hoffnungslosigkeit, ein chroni-sches Gefühl der Anspannung wie bei ständigem Bedrohtsein und Entfremdungsge-fühl, gezeichnet. Eine posttraumatische Belastungsstörung (F 43.1) kann dieser Form der Persönlichkeitsänderung vorausgegangen sein. Hierunter fallen Persönlichkeitsän-derungen nach andauerndem Ausgesetztsein lebensbedrohlicher Situationen, etwa als Opfer von Terrorismus, andauernder Gefangenschaft mit unmittelbarer Todesgefahr, Folter, Katastrophen oder Konzentrationslagererfahrungen.

Soweit Herr G. bezüglich des Klägers eine posttraumatische Belastungsstörung nach ICD-10 F 43.1 und Herr L. gar eine Persönlichkeitsveränderung nach Unfalltrauma nach ICD-10 F 62.0 diagnostizieren, vermag der Senat ihnen nicht zu folgen. Vielmehr hält er die von Priv. Doz. Dr. G. an diesen Gutachten geübte Kritik für zutreffend. So stützt Herr G. seine Diagnose ausschließlich auf die anamnesti-schen Angaben des Klägers, die er im Punkt "Zusammenfassung und Beurteilung" über weite Strecken wörtlich wiederholt. Dabei unterlässt er es, die auffälligen Abwei-chungen in der Darstellung des Lebenslaufs gegenüber den beiden ihm vorliegenden Vorgutachten des Priv. Doz. Dr. G. und des Herrn L. kritisch zu würdigen. So hat der Kläger gegenüber Herrn G. erstmalig angegeben, 1972 eine Tätigkeit im Fernverkehr angenommen zu haben, weil er nach dem Unfall Probleme gehabt habe, Kipper zu fahren. Demgegenüber hatte er noch bei Priv. Doz. Dr. G. angegeben, nach dem Unfall zunächst Hofarbeiten ausgeführt und dann Sand mit Treckern geholt zu haben, da der Kipper zerstört gewesen sei. Auch setzt sich Herr G. nicht mit dem Umstand auseinander, dass der Kläger während seines gesamten weiteren Berufslebens bis Mai 1998 sowohl im Fernverkehr als auch zeitweise in der Umgebung von Magdeburg als LKW-Fahrer tätig war. Zudem beachtet er nicht, dass der Kläger nach seinen Angaben gegenüber Priv. Doz. Dr. G. die Chance ausschlug, im Zusammenhang mit seinem Aufstieg zum Meister die Tätigkeit als LKW-Fahrer beenden zu können. Stattdessen hat er in dieser Situation mit Nachdruck darauf bestanden, weiterhin als Kipper-Fahrer tätig sein zu können. Auch nach dem Wechsel des Wirtschaftssystems und der Abwicklung seines alten Betriebs hat der Kläger erneut langjährig als Fernfahrer gearbeitet und zu keinem Zeitpunkt geschildert, sich jemals um eine andere Beschäftigung bemüht zu haben. Insoweit fehlt jeder Anhaltspunkt für das nach der ICD-10 F 43.1 im Zusammenhang mit einer posttraumatischen Belastungsstörung zu erwartende Vermeideverhalten, dem auch Priv. Doz. Dr. G. zumindest für die Zeit nach Abklingen der unfallnah aufgetretenen Symptome eine wesentliche Bedeutung beimisst.

Zudem erscheint es dem Senat zweifelhaft, dass der Verkehrsunfall vom 30. Juni 1971 überhaupt geeignet ist, der Umschreibung eines auslösenden Ereignisses nach der ICD-10 F 43.1 als außergewöhnlicher Bedrohung mit katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde, zu genügen. Hiergegen spricht zunächst, dass der Kläger bei diesem Unfall nachweislich nur leichte körperli-che Verletzungen ohne Folgeschäden davongetragen hat, die zwar zu einer Arbeitsun-fähigkeit von 14 Tagen, jedoch nicht zu einem stationären Aufenthalt oder therapeuti-schen Maßnahmen jedweder Art geführt haben. Zudem hat der Senat ernsthafte Zweifel am tatsächlichen Auftreten der allein vom Kläger im Zusammenhang mit dem Unfallereignis angegebenen Bewusstlosigkeit. So hat Priv. Doz. Dr. G. darauf hingewiesen, dass aufgrund der mangelnden diagnostischen Möglichkeiten 1971 bei Angabe einer Bewusstlosigkeit zumindest mit einer mehrtätigen stationären Beobach-tung zu rechnen gewesen wäre. Auch wird in der Unfallmeldung keine Bewusstlosigkeit angegeben, obwohl der Kläger dort sogar beschreibt, aus dem Wagen geschleudert worden zu sein. Zudem hat der Kläger selbst bis zum Jahr 2004 dem Unfallereignis keine der genannten Umschreibung der ICD-10 F 43.1 entsprechende Bedeutung beigemessen. Denn trotz eingehender Begutachtung im Unterbringungsverfahren und im Verfahren über die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente wird dieser Unfall bis zur Begutachtung durch Dr. D. und Dr. B. im Dezember 2000 weder gegenüber den Vorgutachtern, noch gegenüber den behandelnden Ärzten erwähnt. Gleichzeitig wird dieser Unfall im genannten Gutachten fälschlich dem Jahr 1969 zugeordnet, was daraufhin deutet, dass das Ereignis den Kläger gerade nicht mehr in lebhafter Erinnerung ist. Darüber hinaus wird sowohl hier als auch in den Gutachten der Dipl.-Med. F. weder durch die Ärzte noch durch den Kläger selbst ein Zusammenhang des Unfalls mit den damals diagnostizierten psychischen Erkrankun-gen des Klägers diskutiert. Erstmals mit seinem an die BGF gerichteten Schreiben vom März 2004 wird dem Unfall vom Juni 1971 durch den Kläger eine wesentliche Bedeu-tung für die Verursachung seiner aktuellen Erkrankungen zugeschrieben. Diese nach Angaben des Klägers auf den Hinweis einer Mitarbeiterin seiner Krankenkasse zurückgehende Zuschreibung hat sich ausweislich der nachfolgenden Schriftsätze und Gutachten während des gesamten Verwaltungs- und Gerichtsverfahrens stetig ver-stärkt und verfestigt. Vor diesem Hintergrund hält der Senat die Interpretation des Priv. Doz. Dr. G. , dass es sich hierbei um eine nachträgliche Zuschreibung aktueller psychischer Veränderungen zu einem zuvor bedeutungslosen weit zurückliegenden Ereignis handelt, für sehr wahrscheinlich.

Gegen eine Erkrankung des Klägers an einer posttraumatischen Belastungsstörung über einen Zeitraum von 26 Wochen nach dem Unfallereignis hinaus spricht weiterhin die Latenz von annähernd 27 Jahren zwischen dem Unfall des Klägers im Jahre 1971 und der Erstdiagnose einer behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung im Jahre 1998. Demgegenüber ist bei einer posttraumatischen Belastungsstörung im Sinne der ICD-10 F 43.1 lediglich von einer Latenz, die wenige Wochen bis Monate dauern kann, auszugehen. Zwar beschreibt die ICD-10 auch einen dann häufig wechselhaften Verlauf, der in wenigen Fällen über viele Jahre zu einem chronischen Verlauf mit Übergang in eine andauernde Persönlichkeitsstörung (F 62.0) führen kann, doch sieht der Senat keinerlei objektive Anhaltspunkte für ein solches Geschehen. So stützen sich sowohl Herr G. als auch Herr L. allein auf die Angabe des Klägers, er habe während seines gesamten Berufslebens als LKW-Fahrer immer wieder Angsterlebnis-se sowie mit Erinnerungen an den Unfall verbundene Befindlichkeitsstörungen gehabt. Zu Recht weist jedoch Priv. Doz. Dr. G. darauf hin, dass sich diese Ärzte insoweit nicht mit dem Lebenslauf des Klägers auseinandersetzen und auch die zuvor durchge-führten Behandlungen und Begutachtungen, deren Ergebnisse ihnen aus der Darstel-lung im jeweils vorliegenden Gutachten des Priv. Doz. Dr. G. bekannt gewesen sein müssen, übergehen. So gibt es weder aufgrund der objektiv bekannten Tatsachen zum Lebenslauf des Klägers, noch aufgrund seiner eigenen Schilderungen Hinweise auf das Vorliegen der nach der ICD-10 F 43.1 für eine posttraumatische Belastungsstö-rung typischen Symptome vor Beginn der 90er Jahre. Zwar behauptet der Kläger mit sich im Laufe des Verfahrens steigender Intensität, seit 1971 durchgängig Nachhaller-innerungen und Träume vom Unfallgeschehen gehabt zu haben, jedoch fehlen Schilderungen eines nach der ICD-10 hiermit verbundenen Gefühls von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit. Im Gegenteil spricht die weitere berufliche Tätigkeit des Klägers mit seinem Aufstieg zum Meister Ende der 80er Jahre deutlich gegen das Vorliegen solcher Symptome, denn gerade eine Tätigkeit als LKW-Fahrer im Fernver-kehr, wie sie bis 1978 und danach wieder ab 1990 ausgeübt worden ist sowie der mit der Unterstellung von mehr als 60 Mitarbeitern dokumentierte berufliche Aufstieg in eine verantwortungsvolle Vorgesetztenposition erscheinen kaum vorstellbar, sollte der Kläger tatsächlich die in der ICD-10 F 43.1 genannten Symptome wie Teilnahmslosig-keit gegenüber der Umgebung, Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Angst und manifeste Depressionen gezeigt haben. Unterstrichen wird die Annahme einer weitgehenden Symptomfreiheit des Klägers zumindest bis zum Beginn der 90er Jahre durch seine Angaben im August 2001 gegenüber Priv. Doz. Dr. B. und Dr. K., erst seit 1995 an Nervenzusammenbrüchen zu leiden und erst danach, nämlich 1996 und 1998 erste Suizidversuche unternommen zu haben.

Fehlt es somit am medizinischen Nachweis einer posttraumatischen Belastungsstörung im Sinne der ICD-10 F 34.1, so gilt dies um so mehr für die von Herrn L. diagnosti-zierte andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung (ICD-10 F 62.0). Dem steht allerdings nicht schon der nach dem Vorstehenden fehlende Nachweis einer vorausgegangenen posttraumatischen Belastungsstörung entgegen, da diese auch nach der ICD-10 F 62.0 entbehrlich ist. Jedoch fehlt es darüber hinaus an einem auslösenden Ereignis, wie es die ICD-10 umschreibt. So muss die auslösende Belas-tung so extrem sein, dass die persönliche Vulnerabilität, also Empfänglichkeit, der betreffenden Person als Erklärung für die durch das Ereignis hervorgerufenen tiefgrei-fende Auswirkung auf die Persönlichkeit nicht in Erwägung gezogen werden muss. Dennoch beruft sich Herr L gegenüber der von Priv. Doz. Dr. G. an seinem Gutachten geäußerten Kritik, die konkrete Unfallerfahrung des Herrn Kolditz reiche in der Regel nicht aus, um eine bleibende Persönlichkeitsveränderung herbeizuführen, gerade auf die Umstände des Einzelfalles. Da aber auch nach der Schilderung des Klägers der Unfall in keiner Weise mit den in der ICD-10 F 62.0 genannten Situationen wie andauerndem Ausgesetztsein lebensbedrohlicher Situationen, andauernder Gefangenschaft mit unmittelbarer Todesgefahr, Folter, Katastrophen oder gar Konzen¬trationslagererfahrungen vergleichbar ist, könnte die von Herrn L. angenommene Reaktion des Klägers gerade nur auf dessen Vulnerabilität beruhen. Gleichzeitig ist sowohl Herrn L. als auch Herrn G. entgegenzuhalten, dass sie aufgrund der Schilderungen des Klägers über einen so nicht dokumentierten Krankheitsverlauf und der jeweils von ihnen zum Zeitpunkt der Begutachtung erhobenen Befunde im Jahre 2008 bzw. 2009 auf eine Schwere des Unfallgeschehens im Jahre 1971 rückschließen, die im Widerspruch zu den hierüber vorliegenden Unterlagen steht.

Demnach ist der Senat nur davon überzeugt, dass bei dem Kläger krankhafte psychi-sche Veränderungen in Form einer rezidivierenden depressiven Störung, einer Alko-holabhängigkeit sowie hierdurch bedingter psychischer Verhaltensstörungen im Sinne der von Priv. Doz. Dr. G. gestellten Diagnosen bestehen. So wird eine rezidivie-rende depressive Störung oder zumindest eine depressive Symptomatik durchgängig in allen Gutachten seit dem Jahr 2000 einschließlich des Privatgutachtens des Herrn L. diagnostiziert und – in der Form der Angst und depressiven Störung gemischt (ICD-10 F 41.2) – auch im Gutachten des Herrn G. im Ansatz bestätigt. Auch ein Alko-holmissbrauch wird bereits im Gutachten des Dr. G. vom 7. September 1999 festgestellt. Eine Alkoholabhängigkeit wird sodann im Oktober 2003 durch Dipl.-Med. F. und nachfolgend durch Priv. Doz. Dr. G. sowie Herrn G. diagnosti-ziert, was insbesondere aufgrund der von Dipl.-Med. F. beschriebenen Leberwer-te und der eigenen Angaben des Klägers gegenüber Priv. Doz. G. zu seinen Trinkgewohnheiten als zutreffend erscheint.

Ein Zusammenhang dieser Erkrankungen mit dem Unfallereignis im Jahre 1971 wird – Herr Lietz gibt keine Ursache der Depression an – nur durch Herrn G. ange-nommen. Dem liegt die von ihm gestellte Diagnose einer posttraumatischen Belas-tungsstörung zugrunde, die im Folgenden zur Entstehung einer Angst und depressiven Störung sowie einer Alkoholabhängigkeit geführt habe. Dem kann jedoch nicht gefolgt werden, da bereits die von Herrn G. diagnostizierte posttraumatische Belastungs-störung infolge des Unfalls 1971 nach Überzeugung des Senats nicht vorliegt. Viel-mehr folgt der Senat den Ausführungen des Priv. Doz. Dr. G. , wonach ein Zu-sammenhang zwischen der depressiven Symptomatik und dem Unfall aus fachpsychi-atrischer Sicht nicht herzustellen ist. Dementsprechend nennt auch der Kläger gegen-über Priv. Doz. Dr. B. und Dr. K. als Auslöser der Symptomatik noch im Jahr 2001 finanzielle Sorgen, die Ablehnung einer Erwerbsunfähigkeitsrente sowie die Unfähigkeit Auto zu fahren, nicht jedoch Ängste und andauernde Beschwerden aufgrund des später angeschuldigten Unfalls.

Soweit beim Kläger aufgrund der Unfallanzeige vom 6. Juli 1971 eine Prellung an Hüfte und Hinterkopf als bewiesene Unfallfolge anzusehen ist, führt dies nicht zu einem Anspruch auf eine Verletztenrente. Denn nach den eigenen Angaben des Klägers führten diese Gesundheitsschäden lediglich zu einer Akutbehandlung im Krankenhaus Altstadt Magdeburg, aus dem er noch am Unfalltag entlassen worden ist, und zu einer 14-tägigen Arbeitsunfähigkeit. Über die 26. Woche nach dem Unfall hinaus verbleiben de gesundheitliche Beeinträchtigungen im Zusammenhang mit diesen Unfallfolgen hat der Kläger selbst nicht geltend gemacht. Insbesondere aufgrund der Eintragungen im Ausweis des Klägers für Arbeit und Sozialversicherung bestehen hierfür auch keine Anhaltspunkte.

Die Berufung hat auch keinen Erfolg, soweit beim Kläger nach dem, insoweit allein auf die bisher durch keinen weiteren Anhaltspunkt belegte Beschwerdeschilderung des Klägers gestützten, Gutachten des Priv. Doz. Dr. G. für die Dauer von etwa einem viertel Jahr nach dem Unfall eine posttraumatische Belastungsstörung vorgelegen hat. Denn für die isolierte Feststellung dieser Unfallfolge fehlt dem Kläger bereits das Rechtsschutzbedürfnis. Es ist nämlich nicht erkennbar, dass der Kläger durch diese Feststellung in rechtlicher oder wirtschaftlicher Hinsicht bessergestellt würde, als er jetzt steht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da es sich um eine Einzelfallentscheidung auf gesicherter Rechtsgrundlage handelt.
Rechtskraft
Aus
Saved