S 14 KR 1006/08 ER

Land
Schleswig-Holstein
Sozialgericht
SG Lübeck (SHS)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
14
1. Instanz
SG Lübeck (SHS)
Aktenzeichen
S 14 KR 1006/08 ER
Datum
2. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Beschluss In dem Antragsverfahren

S M 2 - Antragstellerin - Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwältin T 23552 Lübeck, gegen

die AOK Schleswig-Holstein, vertreten durch den Vorstand, Edisonstraße 70, 24145 Kiel, - Antragsgegnerin - beigeladen: Kreis Segeberg, vertreten durch die Landrätin, Hamburger Straße 30, 23795 Bad Segeberg,

hat die 14. Kammer des Sozialgerichts Lübeck durch die Richterin am Sozialgericht Sonnhoff ohne mündliche Verhandlung am 30. Januar 2009 beschlossen:
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 10. November 2008 wird angeordnet. Die Antragsgegnerin hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin zu erstatten.

Gründe:

I. Die Antragstellerin wendet sich im Rahmen eines Eilverfahrens gegen die Aufhebung des Bescheides vom 23. Oktober 2008, mit dem sie ab 4. Juli 2008 in der Kranken- und Pflegeversicherung aufgenommen worden war.

Die 1981 geborene Antragstellerin wurde am 4. Juli 2008 aus der Haft entlassen. Bei Entlassung erhielt sie ein Überbrückungsgeld in Höhe von EUR 1.589,07 und begann eine Drogenentwöhnungsmaßnahme. Vor ihrer Haft bezog sie Arbeitslosengeld II und war bei der Antragsgegnerin krankenversichert.

Am 25. August 2008 stellte die Antragstellerin bei der Antragsgegnerin einen Antrag auf Pflichtversicherung in der Krankenversicherung. Mit Bescheid vom 22. September 2008 lehnte die Antragsgegnerin eine Pflichtversicherung ab, weil die Antragstellerin einen Anspruch auf anderweitige Absicherung im Krankheitsfall habe, da sie Sozialhilfe beziehe.

Mit Bescheid vom 6. Oktober 2008 nahm der Beigeladene seinen Sozialhilfebescheid zurück, weil die Antragstellerin vorrangig ihr Entlassungsgeld für ihren Lebensunterhalt einzusetzen habe. Die Antragsgegnerin nahm die Antragstellerin darauf hin mit Bescheid vom 23. Oktober 2008 für die Zeit ab 4. Juli 2008 in die Kranken- und Pflegeversicherung auf. Die Mitgliedschaft werde "unter Vorbehalt" nach § 32 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) durchgeführt. Die Frage, ob ehemalige Häftlinge von der Krankenversicherungs-pflicht erfasst werden, werde derzeit in einem Rechtsstreit geklärt. Eventuell werde die Antragsgegnerin erbrachte Leistungen zurück fordern.

Der Beigeladene bewilligte der Antragstellerin mit Bescheid vom 28. Oktober 2008 Leistungen nach § 35 Abs. 2 Satz 2 SGB XII ab 1. August 2008. Mit Bescheid vom 10. November 2008 hob die Antragsgegnerin darauf hin ihren Bescheid vom 23. Oktober 2008 auf. Die Antragstellerin habe innerhalb von einem Monat nach der Haftentlassung Leistungen erhalten, daher sei die Versicherungspflicht analog § 5 Abs. 8 a SGB V abzulehnen.

Dagegen richtete sich die Antragstellerin mit Schreiben ihrer Prozessbevollmächtigten vom 2. Dezember 2008 und forderte die Antragsgegnerin unter Fristsetzung auf, sie in die Kranken- und Pflegeversicherung aufzunehmen. Die Antragsgegnerin teilte ihr mit, dass sie dieses Schreiben als Widerspruch ansehe.

Am 22. Dezember 2008 hat die Antragstellerin beim Sozialgericht Lübeck einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt. Sie habe vor ihrer Haft Leistungen nach dem SGB II und erst ab 1. August 2008 Leistungen nach § 35 SGB XII bezogen. Die Versicherungspflicht sei nicht nach § 5 Abs. 8 a SGB V ausgeschlossen.

Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,

die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 10. November 2008 anzuordnen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzuweisen.

Es bestehe jedenfalls kein Anordnungsgrund, da die Antragstellerin Hilfe zum Lebensunterhalt erhalte und somit über die Bestimmung des § 264 SGB V der Versicherungsschutz sichergestellt sei. Im Übrigen führe eine Unterbrechung des Sozialhilfebezuges von weniger als einem Monat nach § 5 Abs. 8 a Satz 3 SGB V nicht zur Versicherungspflicht.

Das Gericht hat den zuständigen Leistungsträger für Leistungen nach dem SGB XII mit Beschluss vom 14. Januar 2009 beigeladen.

II.

Das Rechtsschutzbegehren der Antragstellerin war durch Auslegung des Antrages zu ermitteln. Im Zweifel wird der Rechtsschutzsuchende den Antrag stellen wollen, der ihm am besten zum Ziel verhilft (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl., § 123 Rdnr. 3). Vorliegend begehrt die Antragstellerin die Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung und damit die Herbeiführung des Zustandes vor Erlass des Bescheides vom 10. November 2008.

Der Antrag ist zulässig und begründet. Gemäß § 86 b Abs. 1 Nr. 2 Sozialgesetzbuch (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in Fällen, in denen der Widerspruch keine aufschiebende Wirkung hat, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Nach § 86 a Abs. 2 Nr. 1 SGG entfällt die aufschiebende Wirkung bei der Entscheidung über Versicherungspflichten. So liegt der Fall hier, denn der Bescheid der Antragsgegnerin vom 10. November 2008 hebt den Bescheid vom 23. Oktober 2008 auf und trifft damit - ebenso wie der aufgehobene Bescheid - eine Entscheidung über das (Nicht-)bestehen der Versicherungspflicht in der Kranken- und Pflegeversicherung (vgl. LSG Rheinland-Pfalz 2. Oktober 2006 - L 5 ER 185/06 KR; LSG Hamburg 21. Februar 2006 - L 1 B 390/05 ER KR).

Nach der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Aufhebungsbescheides, so dass die durchzuführende Interessenabwägung zwischen dem öffentlichen Vollzugsinteresse einerseits und dem Aufschubinteresse andererseits zu dem Ergebnis führt, dass dem privaten Aufschubinteresse der Vorrang gebührt. Denn an der Vollziehung eines offensichtlich rechtswidrigen Verwaltungsaktes kann kein überwiegendes öffentliches Vollzugsinteresse bestehen.

Zu Unrecht hat die Antragsgegnerin ihren Bescheid vom 23. Oktober 2008 mit Bescheid vom 10. November 2008 aufgehoben. Der Bescheid vom 23. Oktober 2008 war ausweislich der Formulierung der Antragsgegnerin "unter Vorbehalt" nach "§ 32 SGB X" erlassen worden. § 32 SGB X regelt die Nebenbestimmungen zu einem Verwaltungsakt. In Betracht kommt hier allein der Erlass eines Bescheides mit dem Vorbehalt des Widerrufs nach § 32 Abs. 2 Nr. 3 SGB X. Zweifelhaft ist zunächst die Frage, ob einem Bescheid über die Feststellung der Kranken- und Pflegeversicherungspflicht ein Widerrufsvorbehalt ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung beigefügt werden kann. Nicht zulässig ist aber jedenfalls bei einem gebundenen Verwaltungsakt die Leistungsbewilligung unter dem Vorbehalt ermessensfreier Rücknahme, weil ansonsten die Voraussetzungen über die Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte unterlaufen werden würden (Engelmann in von Wulffen, SGB X, 4. Aufl., § 32 Rdnr. 18). Jedenfalls sind auch bei der Ausübung eines solchen Vorbehalts die im Rahmen des § 45 SGB X maßgeblichen Ermessenserwägungen vorzunehmen (vgl. BSG 17. Oktober 1990 - 11 RAr 3/88, SozR 3-1300 § 45 Nr. 5). Vorliegend handelt es sich bei der Feststellung der Versicherungspflicht nach § 5 SGB V um eine gebundene Entscheidung. Da die Beklagte in ihrem Aufhebungsbescheid vom 10. November 2008 kein Ermessen ausgeübt hat, ist der Bescheid bereits aus diesem Grunde rechtswidrig.

Darüber hinaus spricht nach summarischer Prüfung alles dafür, dass der Antragstellerin ein Anspruch auf gesetzliche Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V zusteht. Gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V sind Personen versicherungspflichtig, die keinen anderweitigen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall haben und zuletzt gesetzlich krankenversichert waren oder bisher nicht gesetzlich oder privat krankenversichert waren, es sei denn, dass sie zu den in Absatz 5 oder den in § 6 Abs. 1 oder 2 genannten Personen gehören oder bei Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit im Inland gehört hätten. Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Bei ihrer Haftentlassung am 4. Juli 2008 hatte die Antragstellerin keinen anderen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall. Sie ist auch zuletzt gesetzlich über den Arbeitslosengeld II -Bezug und nicht privat krankenversichert gewesen. Dabei ist auf die Art der letzten vor der Nichtabsicherung bestehenden Versicherung abzustellen (Peters in Kasseler Kommentar, § 5 SGB V Rdnr. 166; a. A. SG Aachen 31. März 2008 - S 20 SO 25/08 ER). Denn es geht bei dieser Regelung um die Zuordnung der bisher ungesicherten Personen zur gesetzlichen oder zur privaten Krankenversicherung. Daher kommt es auf den dazwischen liegenden Zeitraum der Haft, in dem gar keine Versicherung, sondern eine andere Form des Schutzes, nämlich die Gesundheitsfürsorge nach dem Strafvollzugsgesetz, bestand, nicht an (Peters in Kasseler Kommentar, § 5 SGB V Rdnr. 163, 165; a. A. SG Aachen, a. a. O.). Gemäß § 5 Abs. 8 a Satz 2 SGB V ist nicht versicherungspflichtig nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V, wer Empfänger laufender Leistungen nach dem Dritten, Vierten, Sechsten und Siebten Kapitel des Zwölften Buches oder Empfänger laufender Leistungen nach § 2 des Asylbewerberleistungsgesetzes ist. Es ist insoweit auf den Tag des möglichen Beginns einer Mitgliedschaft nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V abzustellen (vgl. SG Wiesbaden 25. Oktober 2007 – S 17 KR 248/07 ER). Gemäß § 186 Abs. 11 SGB V beginnt die Mitgliedschaft nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V mit dem ersten Tag ohne anderweitigen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall. Auszugehen ist daher von dem Zeitpunkt der Haftentlassung am 4. Juli 2008. Denn eine bestehende Pflichtversicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V wird durch den Bezug von Leistungen nach dem SGB XII nicht beendet (§ 190 Abs. 13 Satz 2 SGB V; Baier in Krauskopf, Soz. Krankenversicherung Pflegeversicherung, § 5 SGB V Rdnr. 104). Dass die Antragstellerin ab 1. August 2008 laufend Leistungen nach dem Dritten Kapitel des SGB XII bezieht, führt mithin nicht zu einem Ausschluss oder Ende der Versicherungspflicht.

Nichts anderes ergibt sich aus § 5 Abs. 8 a Satz 3 SGB V. Danach gilt der Ausschluss gemäß Satz 2 auch, wenn der Anspruch auf die Leistungen für weniger als einen Monat unterbrochen wird. Das ist vorliegend nicht der Fall, da die Antragstellerin vor dem 1. August 2008 keine Leistungen nach dem SGB XII bezog, so dass ein solcher Bezug nicht unterbrochen werden konnte. Denn das Wort "unterbrochen" setzt denklogisch voraus, dass der Betreffende bereits Leistungen nach dem SGB XII erhalten hat (vgl. SG Hamburg 21. August 2007 – S 8 KR 490/07 ER). Vorliegend fehlt es aber am vorherigen Bezug der Leistungen.

Im Übrigen wäre der Antragstellerin zumindest gemäß § 264 Abs. 2 SGB V Krankenver-sicherungsschutz zu gewähren. Danach wird die Krankenbehandlung von Empfängern von Leistungen nach dem Dritten bis Neunten Kapitel des SGB XII von der Krankenkasse übernommen. Die Antragstellerin erhält laufende Leistungen nach dem Dritten Kapitel des SGB XII. Sie hat gemäß § 264 Abs. 3 SGB V die Antragsgegnerin als zuständige Krankenkasse gewählt. Gemäß § 264 Abs. 4 S. 2 SGB V wäre ihr eine Krankenver-sichertenkarte auszustellen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Die Vorsitzende der 14. Kammer

Sonnhoff Richterin am Sozialgericht
Rechtskraft
Aus
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