S 19 AY 11/09

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
19
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 19 AY 11/09
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 20 AY 12/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 08.06.2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 06.08.2009 verurteilt, den Klägerinnen Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ohne Berücksichtigung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Eheleute Mvunzi und Makila sowie deren Kindern zu zahlen. Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerinnen zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerinnen begehren Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG). Streitig ist, ob die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des (Groß-) Onkels Berücksichtigung finden dürfen.

Die am 00.00.00 geborene Klägerin zu 1. und ihre am 00.00.00 geborene Tochter, die Klägerin zu 2., fallen - wie zwischen den Beteiligten unstreitig ist - grundsätzlich in den Anwendungsbereich des AsylbLG. Die Klägerin zu 1. lebt seit dem 00.00.00 im Haushalt der Eheleute Frau M und Herr M (ihrer leiblichen Tante und ihres angeheirateten Onkels) und hat am 00.00.00 ihre Tochter geboren. Außerdem leben in dem Haushalt die sechs Kinder der Eheleute M und M

Den am 00.00.00 gestellten Antrag auf Leistungen nach dem AsylbLG lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 00.00.00 unter Hinweis auf die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der übrigen Haushaltsangehörigen ab.

Ihren am 00.00.00 erhobenen Widerspruch begründeten die Klägerinnen - vertreten durch den Onkel der Klägerin zu 1. und damaligen Vormund - damit, das Einkommen von Verwandten und Verschwägerten außerhalb der "Kernfamilie" müsse bei der Prüfung der Hilfebedürftigkeit außer Betracht bleiben. Der Vormund habe die Klägerin zu 1. nur deswegen in seinen Haushalt aufgenommen, weil sonst eine Heimunterbringung gedroht habe. Im Übrigen sei auch nicht einzusehen, wieso die aufnehmenden Verwandten auf diese Weise wirtschaftlich auf einen am Niveau der Grundsicherung für Arbeitsuchende orientierten Lebensstandard verwiesen würden.

Der Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 00.00.00 zurück. Zur Begründung führte er unter Hinweis auf das Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 01.03.2004, 12 A 3543/01, sowie auf die Durchführungshinweise der Bezirksregierung Köln aus, Familienangehörige i.S.d. § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG seien alle "Mitglieder der Großfamilie".

Hiergegen richtet sich die am 00.00.00 erhobene Klage.

Die Klägerinnen beantragen,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 00.00.00 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 00.00.00 zu verurteilen, ihnen Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ohne Berücksichtugung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Eheleute M und M sowie deren Kindern zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beteiligten bleiben bei ihrer Auffassung und haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie die beigezogenen Verwaltungsakten des Beklagten und der Beigeladenen, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden, § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die zulässige Klage ist begründet. Die Klägerinnen sind durch die angegriffenen Entscheidungen beschwert i.S.d. § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG, denn sie haben Anspruch auf Leistungen nach dem AsylbLG ungeachtet der Einkommens- und Vermögensverhältnisse der übrigen (derzeitigen) Haushaltsangehörigen.

Dass die Klägerinnen dem Grunde nach Anspruch auf Leistungen nach dem AsylbLG haben, ist nicht streitig. Der Leistungsanspruch ist auch nicht angesichts der Einkommens- und Vermögensverhältnisse der übrigen Haushaltsangehörigen auf Null reduziert, denn deren Einkommens- und Vermögensverhältnisse sind im vorliegenden Fall nicht zu berücksichtigen.

Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG sind Einkommen und Vermögen, über das verfügt werden kann, von dem Leistungsberechtigten und seinen Familienangehörigen, die im selben Haushalt leben, vor Eintritt von Leistungen nach dem AsylbLG aufzubrauchen.

Die übrigen Haushaltsangehörigen sind keine Familienangehörigen der Klägerinnen im Sinne dieser Vorschrift. Es handelt sich - wie zwischen den Beteiligten unstreitig ist - um Onkel und Tante der Klägerin zu 1. sowie deren Kinder (die Verwandtschaftsbeziehung auch der Klägerin zu 2. zu den genannten Personen ist dem Gericht nicht verborgen, wird aber aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht näher ausgeführt).

Die Reichweite des Begriffs der Familienangehörigen i.S.d. § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG ist in seinen Einzelheiten sowohl in der Rechtsprechung als auch im Schrifttum umstritten (dediziert für die Einbeziehung von Onkel und Tante: Hessischer VGH, Beschluss vom 07.09.2004, 10 UE 600/04, juris; VG Hamburg, Beschluss vom 13.10.1998, 8 VG 3451/98).

Eine Legaldefinition fehlt sowohl in der Vorschrift selbst als auch im übrigen AsylbLG. Auf die zu Vorschriften außerhalb des AsylbLG, die diesen Begriff verwenden, entwickelten Grundsätze kann nach Auffassung der Kammer nicht zurückgegriffen werden. Das Recht verwendet den Begriff der Familie (von dem der hier interessierende Begriff der Familienangehörigen lediglich abgeleitet ist) auf den verschiedensten normenhierarchischen Ebenen (angefangen bei Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes, unter dessen spezifischen Familienbegriff nur Eltern und Kinder fallen, vgl. BVerfG, Beschluss vom 31.05.1978, 1 BvR 683/77 = BVerfGE 48, 327, 339) und vor allem in den unterschiedlichsten Regelungszusammenhängen (eine Juris-Recherche nach Rechtsvorschriften, die den Begriff "Familienangehörige" enthalten, fördert beinahe zweitausend Treffer zu Tage). Eine rechtsgebietsübergreifend konzipierte Definition ähnlich etwa der Verwandtschaft in § 1589 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) fehlt. Soweit etwa das OVG Nordrhein-Westfalen in der vom Beklagten angeführten Entscheidung (Urteil vom 01.03.2004,12 A 3543/01, juris) auf einen allgemeinen Sprachgebrauch verweist, sieht die Kammer hierin keinen ausreichenden normativen Anknüpfungspunkt, denn allgemeine Sprache und Rechtssprache können weit auseinanderfallen.

Insbesondere ist der Begriff des Familienangehörigen i.S.d. § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG nicht mit dem des Angehörigen in § 11 Abs. 1 Nr. 1 des Strafgesetzbuchs (StGB) gleichzusetzen. Hiergegen spricht bereits der völlig andere Regelungszweck des StGB. Dasselbe gilt für die Heranziehung von Vorschriften, deren inhaltlicher Bezug zum AsylbLG zwar enger ist, denen indes ebenfalls ein völlig anderer Regelungszweck zugrunde liegt. So enthält die vom OVG Nordrhein-Westfalen (a.a.O.) ebenfalls angeführte Regelung in § 16 Abs. 5 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) nicht - wie § 7 Abs. 1 AsylbLG - letztlich eine Vermutung gemeinsamen Wirtschaftens und gemeinsamer Bedarfsdeckung, sondern ist vielmehr Ausdruck des staatlichen Distanzgebots (ausführlich Lang, in: LPK-SGB X, 2. Aufl., 2007, § 16, Rn. 1 m.w.N.).

Ergibt die Auslegung verschiedener (nicht einschlägiger) Legaldefinitionen des (Familien-) Angehörigebegriffs jedenfalls kein einheitliches Bild, so erscheint sowohl unter systematischen als auch unter teleologischen Aspekten eine Auslegung anhand von § 1a AsylbLG und § 1 Abs. 1 Nr. 6 AsylbLG vorzugswürdig (so auch bereits Urteil der Kammer in ihrer früheren Besetzung vom 18.06.2008 S 19 AY 5/08). § 1a AsylbLG spricht von bestimmten Leistungsberechtigten "und ihre(n) Familienangehörige(n) nach § 1 Abs. 1 Nr. 6", d.h. von Ehegatten, Lebenspartnern oder minderjährigen Kindern.

Dies indiziert nach Auffassung der Kammer zumindest, dass das Tatbestandsmerkmal der Familienangehörigkeit i.S.d. § 7 Abs. 1 AsylbLG entweder eine Ehe (oder eine eheähnliche Lebenspartnerschaft), eine Verwandtschaft in gerade Linie i.S.d. § 1589 Satz 1 BGB bzw. eine entsprechende Schwägerschaft (§ 1590 BGB) oder aber ein entsprechendes tatsächliches Verhältnis (sog. Stiefelternfälle) voraussetzt (vgl. bereits VG Düsseldorf, Urteil vom 29.06.2001, 13 K 2527/99; VG Trier, Urteil vom 31.05.1995, 5 K 2121/94). Gestützt wird dieser Befund durch die in § 7 Abs. 3 AsylbLG angeordnete Legalzession (auch hierzu Urteil der Kammer, a.a.O.): Erfasst werden von dieser Vorschrift im Bereich der Familie (i.w.S.) vor allem Unterhaltsansprüche nach Bürgerlichem Recht, die indes nur zwischen Verwandten in gerader Linie bestehen (§ 1601 BGB). Noch stärker gestützt wird der Befund jedoch durch einen Vergleich sowohl mit dem Recht der Sozialhilfe nach dem Sozialgesetzbuch - Zwölftes Buch - (SGB XII) sowie der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Sozialgesetzbuch - Zweites Buch - (SGB II): Auch wenn der Gesetzgeber das Asylbewerberleistungsrecht mit Bedacht aus dem Sozialhilferecht ausgegliedert und in ein eigenes Regelungswerk überführt hat, finden sich hier wie dort nicht nur dieselben Grundsätze (insbesondere der Nachranggrundsatz), sondern auch parallele Rechtsfiguren. Eine davon ist die (widerlegliche) Vermutung, dass gewisse äußere Verhältnisse wie das Zusammenleben in einem Haushalt den Schluss auf ein gemeinsames Wirtschaften zulassen und deswegen die wirtschaftlichen Verhältnisse der Betroffenen nicht isoliert zu betrachten sind. Eine entsprechende Vermutung auch beim Zusammenleben mit Onkel, Tante und deren Kindern ordnet indes weder das SGB II noch das SGB XII an. Sie gehören nicht zum Katalog des § 7 Abs. 3 SGB II (oder dem des noch engeren § 19 Abs. 2 Satz 2 SGB XII). Auf Tatbestandsseite weiter gefasst ist die Vermutung in § 9 Abs. 5 SGB II, die indes einen für die anderen Angehörigen der Haushaltsgemeinschaft erheblich günstigeren "Selbstbehalt" vorsieht (Einzelheiten bei Mecke, in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl., 2008, § 9, Rn. 57 ff.). Auch der Familienbegriff des bis zum 31.12.2004 uneingeschränkt geltenden Bundessozialhilfegesetzes (BSHG), dem die Begrifflichtkeit des AsylbLG historisch zugrundeliegt (ausführlich LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 19.06.2007, L 11 AY 80/06; im Anschluss daran auch SG Dortmund, Beschluss vom 05.09.2008, S 47 AY 191/08 ER) beschränkte sich auf eine Gemeinschaft von Eltern und Kindern.

Die Tatsache, dass der Onkel der Klägerin zu 1. zwischenzeitlich auch deren Vormund gewesen ist, ist für den hier streitigen Anspruch ohne Bedeutung. Dieser Umstand hat weder etwas an den verwandtschaftlichen Verhältnissen geändert, noch lässt sich hieraus auf ein dem Eltern-Kind-Verhältnis gleichzuachtendes besonderes persönliches Näheverhältnis schließen (SG Dortmund, a.a.O.), das eine analoge Anwendung von § 7 Abs. 1 AsylbLG rechtfertigen würde.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Einer Zulassung der Berufung bedurfte es nicht. Bereits der inzwischen aufgelaufene Anspruch der Klägerin übersteigt die Grenze des § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG deutlich.
Rechtskraft
Aus
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