L 5 VI 5/02

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
5
1. Instanz
SG Magdeburg (SAN)
Aktenzeichen
S 1 VM 78/98
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 5 VI 5/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 24. Januar 2002 wird abgeändert:

Der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin die Grundrente vom 1. Januar 1995 an zu gewähren.

Die weitergehende Berufung des Beklagten wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens zur Hälfte und die des Berufungsverfahrens zu drei Vierteln zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin gehört zu den Frauen, die im Beitrittsgebiet infolge einer in den Jahren 1978 und 1979 durchgeführten Anti-D-Prophylaxe mit dem Hepatitis-C-Virus infiziert worden sind. Der Beklagte hat ihr deshalb vom 1. April 1997 an nach dem Bundesseuchengesetz (BSeuchG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) eine Grundrente gewährt. Zwischen den Beteiligten ist noch der Beginn der Rente streitig.

Bei der 1954 geborenen Klägerin wurde am 20. Oktober 1978 in der Frauenklinik des Bezirkskrankenhauses Sch. mit durch den Hepatitis-C-Virus verseuchtem Immunglobulin eine Anti-D-Prophylaxe durchgeführt. Dieser Schädigung liegt folgender Sachverhalt zu Grunde: Zwischen dem 2. August 1978 und 15. März 1979 wurden in der ehemaligen DDR mehrere tausend Frauen mit Anti-D-Immunglobulinen behandelt, die bei der Herstellung im Institut für Blutspende- und Transfusionswesen des Bezirks H. schuldhaft mit Hepatitis C-Viren verseucht worden waren. Die Anti-D-Immunprophylaxe war in der ehemaligen DDR gesetzlich vorgeschrieben und diente nach Geburten bei Rhesusfaktor-Unverträglichkeit der Verhinderung von Schädigungen bei nachgeborenen Kindern. Dadurch erkrankten fast 3000 Personen an Hepatitis C. Anlässlich der Nachuntersuchungen, insbesondere im Zuge der versorgungsrechtlichen Anerkennungsverfahren, wurde auf Basis von über 97,5% der gestellten Anträge (Stand 30. Juni 1999) bei 2227 Frauen sowie 57 Kindern und acht Kontaktpersonen eine Hepatitis-C-Infektion anerkannt (BT-Drucks. 14/2958, S. 7).

Mit Schreiben vom 26. Februar 1997 zu dem Betreff "Anti-D-Immunprophylaxe 1978/79" teilte das Landeshygieneinstitut M. der Klägerin mit, sie gehöre zu dem oben genannten Personenkreis und es könne zu einer Übertragung der Hepatitis C-Viren gekommen sein. Aufgrund der Neubewertung des klinischen Verlaufs der Hepatitis C sowie neuer diagnostischer und therapeutischer Möglichkeiten werde ihr empfohlen, umgehend einen Antrag auf Versorgung bei ihrem zuständigen Versorgungsamt zu stellen, damit eine medizinische Begutachtung eingeleitet werden könne.

Mit Eingangsdatum vom 9. April 1997 beantragte die Klägerin beim Versorgungsamt S. eine Beschädigtenversorgung nach dem BSeuchG. Zur Begründung gab sie an, durch die Anti-D-Immunprophylaxe an Hepatitis C erkrankt zu sein. Nach den Eintragungen im Sozialversicherungsausweis war die Klägerin am 11. September 1978 und stationär vom 17. bis 22. Oktober 1978 in der Frauenklinik des Bezirkskrankenhauses Sch. behandelt worden. Das Landeshygieneinstitut M. teilte auf Nachfrage des Beklagten am 15. Juli 1997 mit, aus den so genannten "Listen" der ehemaligen Bezirkshygieneinstitute ergebe sich, dass die Klägerin am 20. Oktober 1978 mit der Charge 090578 behandelt worden sei. Die vom Beklagten durchgeführten medizinischen Ermittlungen bei den behandelnden Ärzten der Klägerin ergaben die Befunde einer chronisch-aktiven HCV-RNA positiven Hepatitis C (Bericht des Doz. Dr. med. habil. G. vom 20. Juni 1997 an Dr. N.) und einen Verdacht auf "chronische Hepatose mäßiger Aktivität, eventuell bei Zustand nach Hepatitis im Jahre 1986" (Bericht der Gemeinschaftspraxis Dres. A. vom 14. Juni 1993 an Dr. N.). In seinem vom Beklagten eingeholten versorgungsärztlichen Gutachten vom 1. November 1997 führte Dr. med. G. aus, die Klägerin habe nach der zweiten von insgesamt drei Fehlgeburten am 20. Oktober 1978 eine Anti-D-Prophylaxe erhalten. 1986 seien bei ihr erstmals erhöhte Leberwerte festgestellt und als Pillenschaden gedeutet worden. Nach der Anti-D-Immunprophylaxe sei sie nach ihren Angaben eigentlich nicht erkrankt. Erstmals im Jahr 1986 und später im Jahr 1993 seien erhöhte Transaminasenaktivitäten festgestellt worden. Er kam zu dem Ergebnis, als Schädigungsfolge bestehe eine histologisch gesicherte HCV-RNA positive chronisch-aktive Hepatitis C mit geringer bis mäßiger Aktivität. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit sei mit 50 vom Hundert einzuschätzen. In der prüfärztlichen Stellungnahme vom 7. November 1997 schlug Dr. R. vom Ärztlichen Dienst des Beklagten die Anerkennung einer chronischen Hepatitis mit Progression als Schädigungsfolge mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 vom Hundert vor. Die Gesundheitsschädigung bestehe in dem festgestellten Ausmaß seit 1. Januar 1991.

Auf dieser Grundlage erkannte der Beklagte mit Bescheid vom 28. Januar 1998 unter Hinweis auf das BSeuchG in Verbindung mit dem BVG als Schädigungsfolge eine "chronische Hepatitis mit geringer bis mäßiger Aktivität" und eine MdE aufgrund der Schädigungsfolge um 40 vom Hundert an. Zugleich bewilligte er ab 1. April 1997 eine Grundrente nach dieser MdE in Höhe von (anfänglich) 237 DM. Zur Begründung gab er an, die Klägerin gehöre zu dem Personenkreis, dem im Zeitraum vom 1. Juni 1978 bis 20. März 1979 auf dem Gebiet der ehemaligen DDR eine Anti-D-Immunprophylaxe verabreicht worden sei. Im Jahr 1986 seien bei ihr erstmals erhöhte Transaminasenaktivitäten und im Frühjahr 1997 eine chronisch-aktive Hepatitis C festgestellt worden. Der Entscheidung sei die Zweite Durchführungsbestimmung zum Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten beim Menschen vom 20. Januar 1983 (2. DB-GüK) zu Grunde zu legen, da die Impfung vor dem 3. Oktober 1990 erfolgt sei. Gemäß Einigungsvertrag bestehe Besitzstandsschutz. Die Versorgung beginne gemäß § 60 BVG am 1. April 1997, dem Antragsmonat.

Gegen den Bescheid vom 28. Januar 1998 legte die Klägerin am 24. Februar 1998 Widerspruch ein und begehrte die Anhebung der MdE auf 50 sowie einen früheren Beginn der Grundrente. Sie gab an, im Frühjahr 1979 mehrmals zu Bluttests in die damalige Kreispoliklinik Sch. gebeten worden zu sein. Über die Ergebnisse bzw. Notwendigkeit einer Behandlung sei sie aber nie informiert worden. Erst zu Beginn der neunziger Jahre habe sie aufgrund von Presseberichten Verdacht geschöpft. Das Schreiben des Landeshygieneinstituts M. vom 26. Februar 1997, mit dem sie über ihre wahrscheinliche Infektion informiert worden sei, habe sie völlig überrascht. Nach positiven Testergebnissen habe sie sofort den Antrag gestellt. Demzufolge liege die Verantwortung nicht bei ihr, sondern bei den beteiligten Behörden. Mit Widerspruchsbescheid vom 11. August 1998 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück, da die Klägerin aufgrund der geringen bis mäßigen Aktivität der chronischen Hepatitis auf der Grundlage der Anhaltspunkte 1996 Anspruch auf Feststellung einer MdE um höchstens 40 habe. Die von Dr. G. vorgenommene Bewertung einer MdE um 50 entspreche nicht den Anhaltspunkten 1996. Anspruch auf einen früheren Beginn der Grundrente habe die Klägerin ebenfalls nicht, da Versorgungsansprüche grundsätzlich auf Antrag festgestellt würden. Nach den Regelungen im Einigungsvertrag für das Beitrittsgebiet könnten Versorgungsansprüche frühestens am 1. Januar 1991 beginnen, wenn der Antrag bis zum 31. Dezember 1993 gestellt werde. Da die Klägerin den Entschädigungsantrag erst am 9. April 1997 gestellt habe, habe sie nur Anspruch auf Versorgung ab dem Antragsmonat.

Mit ihrer am 7. September 1998 beim Sozialgericht (SG) Magdeburg erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Ziel der Gewährung von Rentenzahlungen nach einer MdE um 50 vom Hundert bereits ab dem 1. Januar 1991 weiter verfolgt. Ergänzend hat sie vorgetragen, bereits seit dem Jahr 1989 sei bekannt gewesen, dass die im Rahmen der Anti-D-Immunprophylaxe 1978 verabreichten Chargen mit einem Virus verseucht waren, der Hepatitis C hervorgerufen hat. Der Beklagte bzw. das zuständige Amt hätten viele Frauen 1989 bzw. Anfang der Neunziger Jahre von diesem Sachverhalt in Kenntnis gesetzt. Dr. G. könne dies bestätigen, da er einige der betroffenen Frauen ärztlich betreue. Die Ursache für die erst im Jahr 1997 erfolgte Antragstellung sei allein in der pflichtwidrig unterlassenen rechtzeitigen Benachrichtigung durch den Beklagten zu sehen. Einer der betroffenen Frauen sei vom Versorgungsamt S. die Grundrente bereits mit Wirkung ab 1. Januar 1991 bewilligt worden, obwohl auch in diesem Fall der vollständige Antrag erst am 5. Dezember 1997 vorgelegen habe.

Der Beklagte hat die Auffassung vertreten, die Klägerin sei nicht ohne Verschulden an einer Antragstellung bis zum 31. Dezember 1993 verhindert gewesen. Die Unkenntnis der leistungsgewährenden Regelungen und die Unkenntnis des eingetretenen Schadens infolge der unrichtigen oder unterbliebenen Diagnose stellten keine Umstände dar, die den Verhinderungstatbestand im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG begründen könnten. Hierzu hat er sich auf die Rechtsauffassung des Landessozialgerichts M. im Urteil vom 10. Mai 2001 – 3 VI 28/00 – berufen.

Das SG hat ein Schreiben des Ministeriums für Arbeit, Soziales und Gesundheit des Landes S.-A. vom 16. August 1996 zu den Akten genommen, wonach in den Hepatitis C-Fällen bei einer Antragstellung nach dem 31. Dezember 1993 die Versorgung ab dem 1. Januar 1991 im Wege des Härteausgleichs zu gewähren sei. Nach dem Ergebnis einer Besprechung vom 15.08.1996 in P. werde in allen Ländern, mit Ausnahme B., so verfahren. Der Beklagte hat mitgeteilt, die Versorgungsverwaltung in M. halte an der bisher vertretenen Auffassung zur Rückwirkung von Leistungen nach dem BSeuchG fest.

In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin unter Beschränkung ihrer ursprünglichen Klageforderung beantragt, den Bescheid vom 28. Januar 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. August 1998 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, ihr eine Grundrente nach einer MdE um 40 vom Hundert schon ab dem 1. Januar 1991 zu gewähren.

Mit Urteil vom 24. Januar 2002 hat das Sozialgericht den angefochtenen Bescheid vom 28. Januar 1998 teilweise aufgehoben und den Beklagten verurteilt, der Klägerin eine Grundrente nach einer MdE um 40 vom Hundert ab 1. Juni 1993 zu gewähren. Die weitergehende Klage hat das SG abgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es im Wesentlichen ausgeführt: Der Beginn der Rentenzahlung richte sich nach § 51 Abs. 1 Satz 1 BSeuchG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 BVG. Danach beginne die Versorgung mit dem Monat, in dem ihre Voraussetzungen erfüllt sind, frühestens mit dem Antragsmonat. Die Versorgung sei auch für Zeiträume vor der Antragstellung zu leisten, wenn der Antrag innerhalb eines Jahres nach Eintritt der Schädigung gestellt werde. Sei die Beschädigte ohne ihr Verschulden an der Antragstellung verhindert gewesen, verlängere sich diese Frist um den Zeitraum der Verhinderung. Die Klägerin habe den Versorgungsantrag erst am 9. April 1997 gestellt, sei jedoch dabei ohne Verschulden an einer früheren Antragstellung gehindert gewesen. Sie sei selbst um Aufklärung ihrer gesundheitlichen Verhältnisse bemüht gewesen, habe aber hinsichtlich der erhöhten Leberwerte lediglich den Hinweis auf die Einnahme von Ovulationshemmern als mögliche Ursache erhalten. Allein die Behörde des Beklagten hätte anhand der Chargennummer feststellen können, welcher Impfstoff verseucht war. Wegen ihrer Unkenntnis von der wahren Sachlage habe die Klägerin den Antrag nicht früher stellen können. Erst das aufklärende Schreiben des Landeshygieneinstituts M. vom 26. Februar 1997 habe sie in die Lage versetzt, den Antrag am 9. April 1997 rechtzeitig innerhalb der Jahresfrist des § 60 Abs. 1 BVG zu stellen. Die durch den Einigungsvertrag bis 31. Dezember 1993 vorgegebene Frist zum Stellen von Anträgen zur rückwirkenden Gewährung von Leistungen ab 1. Januar 1991 verlängere sich um den Verhinderungszeitraum bis März 1997, so dass die Klägerin grundsätzlich Anspruch auf Leistungen ab 1. Januar 1991 habe. Tatsächlich stehe ihr dieser Anspruch allerdings erst ab 1. Juni 1993 zu, weil erst durch den Bericht der Internisten Dres. A. vom 14. Juni 1993 der Verdacht auf eine chronische Hepatose mäßiger Aktivität geäußert worden sei. Da für den Zeitraum zwischen Januar 1991 und Juni 1993 keine Leberwerte vorlägen und auch nicht ermittelt werden könnten, dürfe der Beklagte für diesen Zeitraum nicht zur Zahlung einer Grundrente verurteilt werden.

Gegen das ihm am 28. Februar 2002 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 21. März 2002 Berufung eingelegt. Zur Begründung trägt er vor: § 51 Abs. 1 Satz 1 BSeuchG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 BVG bestimme für Entschädigungen, dass Entschädigungsleistungen mit dem Monat der Schädigung zu erbringen sind, wenn dies innerhalb eines Jahres nach der Impfung beantragt werde. Erst nach Ablauf dieser Frist sei mit der Zahlung ab dem Antragsmonat zu beginnen, es sei denn, der Geschädigte sei ohne sein Verschulden an einer früheren Antragstellung gehindert gewesen (§ 60 Abs. 1 Satz 3 BVG). Davon abweichend bestimme der Einigungsvertrag (Anlage I, Kapitel VIII, Sachgebiet K, Abschnitt III Nr. 1, Buchst. i) für Schädigungen in der DDR, dass Zahlungen frühestens ab dem 1. Januar 1991 zu gewähren seien, wenn der Antrag spätestens bis zum 31. Dezember 1993 gestellt worden sei. Da der Antrag der Klägerin auf Beschädigtenversorgung erst nach diesem Stichtag bei der Versorgungsverwaltung eingegangen sei, scheide die Gewährung von Versorgungsleistungen bereits ab dem 1. Januar 1991 aus. Zu Unrecht habe das SG § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG angewendet. Die Frist von § 60 Abs. 1 Satz 2 BVG sei hier nicht relevant, weil die Klägerin nicht "diese" Frist, sondern die Dreijahresfrist des Einigungsvertrages versäumt habe. Eine entsprechende Anwendung von § 60 Abs. 1 Satz 2 BVG führe zu keinem anderen Ergebnis, da der Sinn und Zweck von Ausschlussfristen ins Leere laufen würde, wenn die Unkenntnis des Antragstellers über die die Fristen regelnden gesetzlichen Bestimmungen nach § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG sein Versäumnis entschuldigen könnte. Es sei ohne Belang, dass die Klägerin die Dreijahresfrist des Einigungsvertrages nicht gekannt habe. Die Unkenntnis der gesetzlichen Regelungen und die unrichtige Diagnose stellten keine Umstände dar, die die Verhinderung an der Antragstellung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG begründen könnten. Dies gelte auch für die Wiedereinsetzung der Klägerin in den vorigen Stand nach § 27 SGB X. Der Beklagte habe sich keine Pflichtverletzung vorzuwerfen, denn er habe seine Aufklärungs- und Beratungspflicht nicht verletzt. Die Unterlagen, die erst Jahre nach der Wiedervereinigung dem Landeshygieneinstitut in R. vorgelegen hätten, seien dort für rein wissenschaftlich-medizinische Zwecke verwendet worden. Diese Behörde habe keine Aufgaben hinsichtlich eines gesetzlichen Auftrages für die Hepatitis-Verfahren zu erfüllen gehabt. Durch die beim Landeshygieneinstitut gelagerten Unterlagen sei auch kein Sozialrechtsverhältnis begründet und kein Verwaltungsverfahren in Gang gesetzt worden. Nach der BSG-Rechtsprechung bestünden Beratungspflichten von Leistungsträgern lediglich dort, wo deren primären Aufgaben mit den Aufgaben anderer Sozialleistungsträger verzahnt seien. Eine solche Aufgabenverzahnung habe hier nicht vorgelegen, so dass auch kein Herstellungsanspruch begründet sei. Der Beklagte stützt sich ferner auf das (jetzt rechtskräftige) Urteil des LSG M. vom 20. Januar 2005 – L 3 VI 3/04 –, wonach es kein Übereinkommen zwischen dem Bund und den Ländern des Beitrittsgebiets mit den Gegenstand einer Unterrichtung der betroffenen Frauen über ihre entschädigungsrechtlichen Rechte durch die jeweiligen Länderverwaltungen gebe.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 24. Januar 2002 aufzuheben und die Klage insgesamt abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen, soweit das Sozialgericht die Rente für die Zeit ab 1. Januar 1995 zugesprochen hat.

Sie hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend. Ergänzend trägt sie vor, aufgrund fehlender Informationen über ihre Hepatitis C-Infektion an einer früheren Antragstellung gehindert gewesen zu sein.

Auf Nachfrage des Gerichts hat der Beklagte mit Schreiben vom 28. Juli 2005 mitgeteilt, dass die Listen der ehemaligen Bezirkshygieneinspektionen über die durch die Anti-D-Prophylaxe betroffenen Frauen zum Jahresende 1994 im Landeshygieneinstitut M. vorgelegen hätten. Erst Mitte des Jahres 1994 habe der damalige Bundesgesundheitsminister S. die Einsicht in das Bundesarchiv der DDR zugelassen. Das Landeshygieneinstitut habe die Unterlagen für wissenschaftliche Zwecke im Rahmen einer Promotionsarbeit eingesehen. Zwischen dem Beklagten und dem Landeshygieneinstitut herrsche keine arbeitsteilige Arbeitsweise. Das Landeshygieneinstitut habe zunächst die erkrankten Frauen angeschrieben und eine Untersuchung angeraten. Erst danach sei versucht worden, auch die nicht erkrankten Frauen zu ermitteln, was zum Teil wegen Namensänderungen und Umzügen langwierig bzw. ergebnislos verlaufen sei. Über den am 24. Januar 2002 gestellten Antrag auf Härteausgleich sei noch nicht entschieden worden, da die für die Gewährung von Leistungen im Wege des Härteausgleichs notwendige Zustimmung der für die Kriegsopferfürsorge zuständigen obersten Landesbehörde nicht vorliege.

Der Beklagte hat seinem Schreiben vom 28. Juli 2005 zahlreiche Unterlagen über die Verfahrensabläufe bei der Bearbeitung der Hepatitis-Fälle beigefügt, darunter das Schreiben seines Sozialministeriums an sein Landesversorgungsamt vom 27. Mai 1995. Diesen Unterlagen ist u. a. zu entnehmen, dass am 4. November 1993 in Dresden eine Besprechung über Hepatitis C-Virus-Infektionen und Erkrankungen im Zusammenhang mit kontaminierten Chargen von Anti-D-Immunglobulinen 1978/79 im Gebiet der ehemaligen DDR stattgefunden hat, an der Referenten im öffentlichen Gesundheitsdienst und in der Versorgung sowie Vertreter des Ärztlichen Dienstes der neuen Bundesländer und des Landes B. teilgenommen haben. Anlass der Besprechung waren Berichte aus S. und T. über Hepatitis C-Infektionen von zahlreichen Frauen in beiden Ländern. Nach dem Protokoll der Besprechung hatten es die Teilnehmer für geboten erachtet, dass im Interesse der Betroffenen schnell reagiert wird. Dabei sollten seuchenhygienische Aspekte, versorgungsrechtliche Ansprüche und wissenschaftliche Gesichtspunkte eine Rolle spielen. Alle Verantwortlichen sollten informiert werden, um deren Sensibilisierung und Initiative zu einem gemeinsamen abgestimmten weiteren Vorgehen zu erreichen.

Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte des Beklagten haben vorgelegen und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte ergänzend verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Beklagten ist nach den §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt worden (§ 151 Abs. 1 SGG). Soweit die Klägerin ihre Klage in der mündlichen Verhandlung des Senats auf den Zeitraum ab 1. Januar 1995 beschränkt hat, ist die Berufung gegenstandslos geworden. Im Übrigen ist sie nicht begründet. Die Klägerin hat vom 1. Januar 1995 an Anspruch auf die Grundrente.

Der Klägerin steht wegen ihrer Erkrankung an einer chronischen Hepatitis infolge der bei ihr im Jahre 1978 durchgeführten Anti-D-Immunprophylaxe schon für die Zeit vor dem Inkrafttreten des Gesetzes über die Hilfe für durch Anti-D-Immunprophylaxe mit dem Hepatitis C-Virus infizierte Personen (Anti-D-Hilfegesetzes – AntiDHG) vom 2. August 2000 (BGBl. I S. 1270) am 1. Januar 2000 eine Rente zu. Der Beklagte hat ihr in den angefochtenen Bescheiden im Ergebnis zutreffend wegen dieses Gesundheitsschadens Beschädigtenversorgung nach dem entsprechend anzuwendenden Bundesversorgungsgesetz zuerkannt, allerdings erst vom 1. April 1997 an. Streitig ist nur dieser Beginn.

Die Klägerin erfüllt nicht die Anspruchsvoraussetzungen für die Fortführung einer nach DDR-Recht gezahlten Impfentschädigung (Besitzstandsschutz). Da sie wegen des im Oktober 1978 erlittenen Impfschadens keine Entschädigungsleistungen nach dem Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten beim Menschen (GüK-DDR) vom 3. Dezember 1982 (GBl. DDR I, S. 631) erhalten hat, ist die Regelung im Einigungsvertrag (Anl. I Kap. X Sachgebiet D Abschnitt III Nr. 3 Buchstabe c), wonach die nach dem bisher in der DDR geltenden Recht geleisteten Zahlungen für Impfschäden solange weitergewährt werden, bis Leistungen nach dem BSeuchG in Verbindung mit dem BVG erbracht werden, hier nicht anwendbar.

Wie durch das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 10. Dezember 2003 – B 9 VJ 2/02 R – (SozR 4-3100 § 60 Nr. 1) geklärt worden ist, kann auch § 51 BSeuchG nicht unmittelbar angewendet werden. Nach dem – bis Ende 2000 geltenden – § 51 Abs. 1 Satz 1 BSeuchG erhielt, wer durch eine Impfung unter in den Ziffern 1 bis 4 näher bestimmten Voraussetzungen eine gesundheitliche Schädigung erlitten hatte, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen des Impfschadens auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmte. Da die Anti-D-Immunprophylaxe nicht der Verhütung einer Infektionskrankheit diente, liegt kein Impfschaden im Sinne dieser Vorschrift vor (vgl. BSG, a.a.O. Rdnrn. 9 f.). Auch deswegen hat der Gesetzgeber schon mit dem Anti-D-Hilfegesetz für Leistungen in diesen Fällen eine klare Rechtsgrundlage schaffen wollen (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks. 14/2958, S. 1, 7). Wie das Bundessozialgericht hervorgehoben hat (a.a.O. Rdnr. 11), hat der Gesetzgeber des Anti-D-Hilfegesetzes gleichwohl in mehreren Vorschriften an die bis dahin auf § 51 BSeuchG gestützte Praxis angeknüpft und insofern deren Rechtmäßigkeit vorausgesetzt. Dies betrifft gerade den Kreis der noch nicht nach dem GüK-DDR entschädigten Frauen, bei denen – wie bei der Klägerin – erst später die Folgen der damaligen Infektion sichtbar bzw. nachweisbar geworden sind und die infolgedessen nach dem 31. Dezember 1990 erstmalig eine Anerkennung begehren (sog. Neufälle).

Einem früheren Beginn der Grundrente, die der Klägerin durch die angefochtenen Bescheide zuerkannt worden ist, kann daher jedenfalls nicht entgegengehalten werden, es habe ohnehin an einer gesicherten Rechtsgrundlage für die Leistung gefehlt. Nach Auffassung des Senats ist auf Fälle der vorliegenden Art für die Übergangszeit bis zum Inkrafttreten des Anti-D-Hilfegesetzes § 51 BSeuchG entsprechend anzuwenden (so auch LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 20. 1. 2005 – L 3 VI 3/04 – Umdr. S. 2). Dabei entspricht die Anti-D-Immunprophylaxe einer Impfung im Sinne des § 51 BSeuchG. Da die Klägerin in entsprechender Anwendung dieser Vorschrift deren Voraussetzungen erfüllt hat, richtet sich ihr Anspruch auf Versorgung für die Zeit vor dem 1. Januar 2000 nach dem BVG in entsprechender Anwendung. Das BVG ist nach der Anlage I Kap. VIII Sachgebiet K Abschn. III Nr. 1 Buchst. m des Einigungsvertrags vom 1. Januar 1991 an mit den in dieser Nummer bestimmten Maßgaben auf das Beitrittsgebiet anzuwenden.

Nach der Maßgabe des Buchstaben i, a.a.O., waren die sich nach dem BVG ergebenden neuen Versorgungsansprüche auf Antrag festzustellen (Satz 1). Wurde der Antrag bis zum 31. Dezember 1993 gestellt, so begannen die Versorgungsansprüche mit dem Monat, in dem ihre Voraussetzungen erfüllt waren, frühestens mit dem Monat Januar 1991 (Satz 2). Der Anwendung des Satzes 2 dieser Maßgabe auf die Klägerin steht jedoch entgegen, dass sie den Antrag erst nach dem 31. Dezember 1993 gestellt hat.

Nach dem entsprechend anzuwendenden § 60 Abs. 1 Satz 1 BVG beginnt die Beschädigtenversorgung mit dem Monat, in dem ihre Voraussetzungen erfüllt sind, frühestens mit dem Antragsmonat. Entgegen der Rechtsauffassung des Sozialgerichts ist die Regelung der Sätze 2 bis 3 des § 60 Abs. 1 BVG, nach der die Versorgung auch für Zeiträume vor der Antragstellung zu leisten ist, wenn der Antrag innerhalb eines Jahres nach Eintritt der Schädigung gestellt wird, und diese Frist sich um den Zeitraum der Verhinderung verlängert, wenn der Beschädigte ohne sein Verschulden an der Antragstellung verhindert war, auf den Fall der Klägerin nicht anwendbar. Wie das Bundessozialgericht in dem Urteil vom 10. Dezember 2003 (a.a.O. Rdnrn. 17 ff.) überzeugend ausgeführt hat, konnten die Voraussetzungen einer Beschädigtenversorgung in Fällen der vorliegenden Art erst ab dem 1. Januar 1991 erfüllt werden, da das BVG vor diesem Zeitpunkt im Beitrittsgebiet keine Anwendung fand. Eine zeitliche Erstreckung des § 60 Abs. 1 Sätze 2 und 3 BVG auf einen Tatbestand, wie hier den 1978 erlittenen Anti-D-Prophylaxe-Schaden, der die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für eine Entschädigung nach dem BSeuchG in Verbindung mit dem BVG schon mangels örtlicher Geltung der entsprechenden Bestimmungen zu diesem Zeitpunkt noch nicht erfüllen konnte, scheidet aus.

Im Anschluss an das Urteil des BSG vom 10. Dezember 2003 (a.a.O. Rdnrn. 24 ff.), das einen ähnlichen Neufall betraf, in dem das beklagte Land Mecklenburg-Vorpommern der durch eine Anti-D-Immunprophylaxe Geschädigten ebenfalls erst ab Antragstellung Versorgung gewährt hatte, sieht der Senat die Rechtsgrundlage für den Beginn der der Klägerin zustehenden Grundrente am 1. Januar 1995 in dem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch. Dieser Anspruch greift nach den allgemeinen richterrechtlichen Grundsätzen bei einer dem zuständigen Sozialleistungsträger zuzurechnenden Pflichtverletzung ein, durch die dem Berechtigten ein sozialrechtlicher Nachteil oder Schaden entstanden ist. Auf der Rechtsfolgenseite muss durch die Vornahme einer Amtshandlung des Trägers ein Zustand hergestellt werden können, der bestehen würde, wenn die Pflichtverletzung nicht erfolgt wäre (BSG, Urt. vom 10. 12. 2003, a. a. O. Rdnr. 24; vgl. auch BSG, Urt. v. 2. 11. 2007 – B 1 KR 14/07 R – in Juris Rdnr. 20 m.w.N.).

Nach Auffassung des Senats war der Beklagte verpflichtet, die Klägerin vor dem 1. Januar 1995 über die Möglichkeit einer Entschädigung auf der Grundlage des – in seiner Verwaltungspraxis auch auf Neufälle angewendeten – BSeuchG in Verbindung mit dem BVG zu informieren.

Da es in Fällen wie dem der Klägerin an einem Begehren, das typischerweise die Beratungspflicht (vgl. § 14 Erstes Buch Sozialgesetzbuch) auslöst, gerade wegen der Unkenntnis eines möglichen Anspruchs fehlt, richtet sich der sozialrechtliche Herstellungsanspruch hier nach den Grundsätzen der so genannten Spontanberatung. Der Leistungsträger ist gehalten, bei Vorliegen eines konkreten Anlasses auf klar zu Tage tretende Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen. Grundsätzlich ist zwar ein Leistungsträger auch bei bedeutsamen und folgenschweren Rechtsänderungen nicht verpflichtet, die bei ihm geführten Akten daraufhin zu überprüfen, ob sie Anlass für eine spontane Beratung geben. Nach dem Urteil des BSG vom 10. Dezember 2003 (a.a.O. Rdnr. 26) gebieten jedoch die Besonderheiten der vorliegenden Fallgestaltung aus Gründen des sozialen Schutzes der Betroffenen ausnahmsweise eine andere Beurteilung. Während ein Leistungsträger sonst davon ausgehen könne, dass mit der Verkündung eines Gesetzes dessen Inhalt als bekannt gilt, sei eine derartige Publizität hier nicht zu verzeichnen. Dazu hat das BSG ausgeführt, die die Klägerin begünstigende Entschädigungsregelung habe allein auf einem "Übereinkommen zwischen dem Bund und den Ländern des Beitrittsgebiets" beruht (ebd.). Den Hinweis auf eine derartige "abgestimmte Rechtspraxis in den Bundesländern" hat das BSG (ebd. Rdnr. 11) der Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage zu Hepatitis C-Infektionen durch "Anti-D"-Impfprophylaxe in der früheren DDR vom 24. Oktober 1995 (BT-Drucks. 13/2732) entnommen.

In dem vom BSG an das LSG Mecklenburg-Vorpommern zurückverwiesenen Rechtsstreit haben zwar dessen Ermittlungen ergeben, dass zwischen dem Bund und den Ländern des Beitrittsgebietes für den – auch im vorliegenden Fall erheblichen – Zeitraum nach dem 3. Oktober 1990 und vor März 1995 ein rechtsförmiges Übereinkommen mit dem vom BSG angenommenen Inhalt, an dem das beklagte Land Mecklenburg-Vorpommern beteiligt gewesen wäre, nicht vorliegt (Urt. v. 20. 1. 2005 – L 3 VI 3/04 –). Anders als das LSG Mecklenburg-Vorpommern meint, ist dadurch aber der vom BSG gegebenen Begründung einer Informationspflicht des Beklagten in den Neufällen nicht der Boden entzogen. Nach der Begründung des Regierungsentwurfs des AntiDHG vom 20. März 2000 (BT-Drucks. 14/2958, S. 7) wurde nämlich im Einvernehmen von Bund und Ländern das BSeuchG in Verbindung mit dem BVG auch auf die Neufälle analog angewendet. So ist auch das beklagte Land verfahren. Dies zeigen der vorliegende Fall und auch der vom LSG Mecklenburg-Vorpommern in dem Urteil vom 20. Januar 2005 (a. a. O.) entschiedene Fall, in dem das beklagte Land vom 1. März 1995 an Leistungen gewährt hat. Schon nach einem Erlass des Sozialministeriums des Beklagten vom 3. Juni 1994, auf den in dem vorgelegten Schreiben vom 27. Mai 1995 Bezug genommen worden ist, waren in die Entschädigung auch Frauen mit Spätschäden einzubeziehen, falls die Hepatitis-Infektion nachweislich auf eine Anti-D-Immunprophylaxe mit einer fehlerhaften Charge in den Jahren 1978 bzw. 1979 zurückzuführen war. Dieser Verwaltungspraxis auch des beklagten Landes fehlte nicht weniger die Publizität als dem vermeintlichen "Übereinkommen zwischen dem Bund und den Ländern des Beitrittsgebiets". Der nach dem Urteil des BSG vom 10. Dezember 2003 (a.a.O. Rdnr. 26) für die Verpflichtung des Beklagten zu einer Spontanberatung maßgebliche Gesichtspunkt trifft daher ebenso auf diese Verwaltungspraxis zu. Auch der weitere vom BSG (ebd.) zur Begründung der Spontanberatungspflicht herangezogene Gesichtspunkt, dass sich diese Verfahrensweise auf einen begrenzten, den betroffenen Ländern namentlich bekannten Personenkreis bezogen habe, hat demnach Bestand.

Nach dem Urteil des BSG vom 10. Dezember 2003 (a.a.O. Rdnr. 27 f.), dem sich der Senat auch insoweit anschließt, hatte der Beklagte gegenüber den in den Listen der ehemaligen Kreishygiene-Inspektionen erfassten Frauen eine "gesteigerte Informationspflicht", die eine Verpflichtung zur Ermittlung der Namen und Anschriften dieser Frauen zum Zwecke ihrer Benachrichtigung einschloss.

Demnach hätte der Beklagte die Klägerin bis Ende des Jahres 1994 über die Möglichkeit einer Entschädigung bei einer Hepatitis C-Virus-Infektion durch die bei ihr 1978 durchgeführte Anti-D-Immunprophylaxe informieren müssen. Bei Befolgung seiner gesteigerten Informationspflicht hätte er bis dahin den Namen und die Anschrift der Klägerin ermitteln können.

Das Bundessozialgericht hat in seinem Urteil vom 10. Dezember 2003 (a.a.O. Rdnr. 28) darauf hingewiesen, dass das Land Sachsen bereits im November 1993 sein Programm zur Wiedererfassung und Nachuntersuchung der mit den kontaminierten Chargen behandelten Frauen vorgestellt hat. Aufgrund dieser Besprechung der Referenten öffentlicher Gesundheitsdienste und der Versorgungsämter vom 8. November 1993 in Dresden konnte und musste auch dem beklagten Land der Handlungsbedarf bewusst geworden sein. Auch wenn er bei der Besprechung nicht durch eigene Teilnehmer vertreten war, war er durch das ihm übermittelte Protokoll über die Notwendigkeit einer medizinischen und versorgungsrechtlichen Betreuung der betroffenen Frauen sowie das besprochene Vorgehen unterrichtet worden. Danach sollten die betroffenen Frauen unter Zuhilfenahme der vorhandenen oder noch aufzufindenden Listen ermittelt, angeschrieben und an die Betreuungsstellen sowie die Versorgungsverwaltungen verwiesen werden. Nach der Öffnung des Bundesarchivs konnten die Listen (ausweislich des Schreibens des Bundesministers für Gesundheit vom 13. Mai 1994 an den Sächsischen Staatsminister für Soziales, Gesundheit und Familie) ab Mitte 1994 gesucht werden. Die Listen der ehemaligen Kreishygiene-Inspektionen über die durch die Anti-D-Prophylaxe betroffenen Frauen haben Ende 1994 im Landeshygiene-Institut Mecklenburg-Vorpommern vorgelegen.

Daraufhin hätte der Beklagte die Klägerin unverzüglich anschreiben oder auf andere Weise informieren müssen. Dies wäre ihm ohne nennenswerte zeitliche Verzögerung möglich gewesen, da die Klägerin ihren Namen nicht geändert und noch bis Juli 1996 in Sch. gewohnt hat. Die bis dahin seit 1978 nur einmal geänderte Wohnanschrift wäre über eine Anfrage beim zuständigen Einwohnermeldeamt kurzfristig zu ermitteln gewesen. Bei pflichtgemäßem Vorgehen hätte der Beklagte somit spätestens zum Jahresende 1994 die notwendige Aufklärung der Klägerin vornehmen können.

Dass die Listen der betroffenen Frauen nicht der Versorgungsverwaltung, sondern dem Landeshygieneinstitut vorgelegen haben, ändert nichts an der bestehenden Verpflichtung. Der Beklagte muss sich die Kenntnis der seine Pflicht begründenden Tatsachen zurechnen lassen, wobei es nach dem Urteil des BSG vom 10. Dezember 2003 (a. a. O. Rdnr. 29) nicht darauf ankommt, ob das Landeshygieneinstitut in das Verfahren der Versorgungsverwaltung zur Ermittlung der Anti-D-Prophylaxe-Schäden eingegliedert war. Entscheidend ist, wann die Verwaltungsspitze des Beklagten die maßgebliche Kenntnis hatte. Wie durch den schon angeführten Erlass des Sozialministeriums des Beklagten vom 3. Juni 1994 belegt wird, war diesem spätestens zu diesem Zeitpunkt das Problem der Neufälle bekannt.

Die Klägerin ist daher so zu stellen, als habe sie vom Beklagten spätestens bis Ende 1994 die für eine Antragstellung erforderlichen Informationen erhalten. Sie hätte dann ihren Versorgungsantrag noch im Januar 1995 stellen können, so dass sie vom 1. dieses Monats an Anspruch auf die Grundrente hat. Die Gesundheitsschädigung bestand auch schon zu diesem Zeitpunkt in dem durch den Bescheid vom 28. Januar 1998 festgestellten Ausmaß. Hierzu wird auf das Urteil des Sozialgerichts Bezug genommen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nach § 160 SGG nicht vor. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne des Absatz 2 Nr. 1 der Vorschrift, weil die Frage, ob in Fällen vorliegender Art ein früherer Leistungsbeginn im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruch begründet sein kann, nicht mehr klärungsbedürftig ist. Das Bundessozialgericht hat diese Frage bereits in seinem Urteil vom 10. Dezember 2003 – B 9 VJ 2/02 R – bejaht. Die noch nicht geklärte Frage, ob die vom BSG in diesem Urteil dem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch zugrunde gelegte gesteigerte Informationspflicht des Beklagten ein ministerielles Abkommen zwischen Bund und Ländern zur Voraussetzung hatte, bedarf nicht mehr der Klärung, weil die Hilfe für durch Anti-D-Immunprophylaxe mit dem Hepatitis-C-Virus infizierte Frauen durch das Anti-D-Hilfegesetz vom 2. August 2000 mit Wirkung vom 1. Januar 2000 auf eine neue Rechtsgrundlage gestellt worden ist und sich diese Frage nicht mehr in einer erheblichen Zahl von Fällen stellt (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 8. Aufl. 2005, § 160 Rdnr. 7b; Lüdtke in Hk-SGG, 2. Aufl. 2006, § 160 Rdnr. 10; jeweils m.w.N.). Da dem genannten Urteil des BSG nicht entnommen werden kann, dass eine gesteigerte Informationspflicht zu verneinen ist, nachdem sich die damalige Annahme eines ministeriellen Abkommens zwischen Bund und Ländern als unrichtig erwiesen hat (vgl. den Beschluss des BSG v. 3. 8. 2006 – B 9a VJ 6/05 B – Rdnr. 8), weicht das vorliegende Urteil auch nicht im Sinne der Nr. 2 des § 160 Abs. 2 SGG von diesem Urteil ab.
Rechtskraft
Aus
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