L 2 P 50/08

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Regensburg (FSB)
Aktenzeichen
S 2 P 67/08
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 2 P 50/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Berücksichtigungsfähige Verrichtungen und zeitlicher Umfang von Hilfeleistungen beim Anspruch auf Pflegegeld
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 13.10.2008 wird zurückgewiesen.

II. Die Klage gegen den Bescheid vom 09.09.2009 wird abgewiesen.

III. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist zwischen den Beteiligten noch, da die Beklagte der Klägerin ab 11.08.2009 Pflegegeld nach Stufe I gewährt, ob auch für die Zeit vom 11.02.2008 bis 10.08.2009 Pflegegeld zusteht und in welcher Höhe (Stufe II).

Die 1923 geborene Klägerin leidet an einem Zustand nach Bypass-Operation im Dezember 2007, insulinpflichtigem Diabetes mellitus, Sehschwäche und demenzieller Entwicklung. Am 11.02.2008 beantragte sie Pflegegeld. Die Beklagte ließ sie durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) begutachten. Nach Hausbesuch am 18.03.2008 kam der MDK im Gutachten vom 19.03.2008 zum Ergebnis, die Klägerin benötige insgesamt 16 Minuten pro Tag an Hilfe im Bereich der Grundpflege, nämlich 9 Minuten für Körperpflege und 7 Minuten für Mobilitätshilfe.

Mit Bescheid vom 27.03.2008 lehnte die Beklagte Pflegegeld ab, da der hierfür notwendige Hilferahmen von mehr als 45 Minuten im Bereich der Grundpflege nicht erreicht werde.

Das Amtsgericht S. ordnete mit Beschluss vom 22.04.2008 die Betreuung an.

Auf den Widerspruch der Klägerin erstattete der MDK ein weiteres Gutachten am 26.05.2008 nach Hausbesuch am 21.05.2008. Darin wurde der Grundpflegehilfebedarf auf 19 Minuten pro Tag geschätzt. Abweichend vom früheren Gutachten veranschlagte der MDK für die Teilwäsche des Oberkörpers 3 statt 2 Minuten und rechnete Hilfe für mundgerechte Zubereitung von täglich 2 Minuten hinzu.

Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 24.07.2008 ab.

Dagegen erhob die Klägerin beim Sozialgericht Regensburg Klage und verwies auf ihren Schwerbehindertenausweis. Darin waren ein GdB von 100 sowie die Merkzeichen "G" und "RF" anerkannt. Ferner legte die Klägerin das Gutachten der Dr. B. vom 21.04.2008 vor, das im Betreuungsverfahren erstattet worden war. Darin wird eine senile Demenz bescheinigt, die es der Klägerin unmöglich macht, ihre Angelegenheit selbständig zu besorgen. Unter anderem wird beschrieben, dass die motorische Beweglichkeit nicht wesentlich eingeschränkt ist.

Das Sozialgericht zog Arztbriefe der behandelnden Neurologen Dres. L. vom 17.06.2008 und der Hausärztin Dr. V. vom 07.04.2008 bei. Die AOK Gesundheitskasse bestätigte, sie gewähre häusliche Krankenpflege für Medikamentengabe, Insulininjektion und Blutzuckermessung.

Nach Anhörung wies das Sozialgericht die Klage mit Gerichtsbescheid vom 13.10.2008 ab. Der für Leistungen nach der Pflegestufe I erforderliche Hilfebedarf von mehr als
45 Minuten täglich werde bei weitem nicht erreicht.

Dagegen legte die Klägerin Berufung ein. Sie bezeichnete die vom MDK erstatteten Gutachten als Lüge. Seit 20 Jahren müsse sie Insulin spritzen und den Blutzucker messen. Sie habe Wunden an den Füßen. Ihre Pflegeperson müsse Medikamente beim Hausarzt besorgen, die Wohnung beheizen, sauber halten, die Wäsche waschen und bekomme dafür keinen Cent.

Die Beklagte wies darauf hin, Blutzuckermessungen und Insulinspritzenverabreichung zähle zur Behandlungspflege, Essenszubereitung, Heizen, Saubermachen der Wohnung und der Wäsche zur hauswirtschaftlichen Versorgung. Auf Anfrage des Senats vom 15.12.2008, ob sich ihr Zustand verschlechtert habe, schilderte die Klägerin die Pflegesituation an einem Tag. Danach seien für Ganzkörperwäsche täglich 20 Minuten, für tägliches Baden 60 Minuten, für Richten der Kleidung täglich 30 Minuten und für mundgerechte Zubereitung der Nahrung sowie Verabreichung derselben jeweils 60 Minuten erforderlich.

In einem vom Senat in Auftrag gegebenen Gutachten erklärte der Internist Dr. C. am 13.03.2009 nach Hausbesuch am 07.03.2009, seitens der oberen Extremitäten sei lediglich die grobe Kraft reduziert, ansonsten könne sich die Klägerin selbständig aus dem Sitzen erheben und sich sicher ohne Hilfe in der Wohnung fortbewegen. Für tägliches Waschen setzte er 20 Minuten an und für Kämmen 2 Minuten. Für die Unterstützung beim Baden beanspruche die Klägerin 28 Minuten an Hilfe, wobei er den Gang und die Begleitung ins unmittelbar angrenzende Haus der Tochter mitberücksichtigte. Umgerechnet auf den Tag ermittelte er für Baden 4 Minuten täglich. Wegen der hochgradigen Sehbehinderung müsse die Nahrung mundgerecht zubereitet werden und die Klägerin auch bei der Nahrungsaufnahme unterstützt werden. Hierfür hielt der Sachverständige pro Tag 21 Minuten für angemessen. Im Bereich der Mobilität sah er für das Aufstehen und Zubettgehen Hilfe von 2 Minuten, für An- und Auskleiden 15 Minuten für notwendig an. Insgesamt entstehe damit ein Hilfebedarf von 78 Minuten für Grundpflege. Er wies darauf hin, dass er für die Begleitung der Klägerin in das Haus der Tochter zum Mittagessen 14 Minuten und zum Baden 7 Minuten berechnet habe.

Die Beklagte wandte dagegen ein, der Weg zur Wohnung der Tochter zum Mittagessen und Baden sei nicht notwendig für die häusliche Pflege. Diese Verrichtungen könnten auch im Haus der Klägerin stattfinden. Die Zeiten für Nahrungsaufnahme seien überbewertet; allenfalls kämen hierfür 2 Minuten in Frage. Auch der Ansatz von 20 Minuten für die Ganzkörperwäsche sei überhöht. Dass der Sachverständige 2 Minuten für Aufstehen und Zubettgehen angesetzt habe, sei nicht nachvollziehbar, da hierfür nur Aufforderung erforderlich sei. Auch die Zeit von 15 Minuten für An- und Auskleiden sei überhöht.

Auf die Frage des Senats, warum die Klägerin das Mittagessen in der Wohnung der Tochter einnehmen müsse und das Baden auch dort stattfinde, erklärte sie, in ihrem Haus stehe keine Badewanne mit Abfluss und kein warmes Wasser zur Verfügung. Die Beklagte wies auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 21.02.2002 - B 3 P 12/01 R hin. Darin habe das BSG entschieden, dass Transfers in die Wohnung der Pflegeperson nicht zum notwendigen Pflegebedarf gehören.

Mit Bescheid vom 09.09.2009 erkannte die Beklagte ab 11.08.2009 Pflegestufe I an. Nach dem Gutachten des MDK vom 07.08.2009 werde der entsprechende Hilfebedarf, nunmehr von 74 Minuten pro Tag erreicht. Die Klägerin habe im Juli 2009 einen Schlaganfall erlitten. Seither bestehe neben den bekannten Einschränkungen eine Gehbehinderung sowie Harn- und Stuhlinkontinenz.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung bot die Beklagte an, der Klägerin auch für die Zeit vom 07.03.2009 bis 10.08.2009 Pflegegeld nach Stufe I zu gewähren. Die Klägerin nahm das Angebot als Teilanerkenntnis an.

Die Klägerin beantragt im Übrigen,
die Beklagte unter Aufhebung des Gerichtsbescheids des Sozialgerichts Regens-
burg vom 13.10.2008 und ihres Bescheids vom 27.03.2008 in der Fassung des
Widerspruchsbescheids vom 24.07.2008 sowie unter Abänderung des Bescheides vom 09.09.2009 zu verurteilen, ihr für die Zeit ab 11.02.2008 Pflegegeld nach Stufe II zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung der Klägerin zurückzuweisen und die Klage gegen den Bescheid vom
09.09.2009 abzuweisen.

Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhalts gemäß § 136 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf den Inhalt der beigezogenen Akte der Beklagten sowie der Klage- und Berufungsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin ist zulässig (§§ 143, 151 SGG), aber soweit sie über das Teilanerkenntnis hinausgeht, nicht begründet.

Der Bescheid vom 09.09.2009, mit dem die Beklagte der Klägerin ab 11.08.2009 Pflegegeld nach Stufe I gewährt, ist gemäß § 96 SGG Gegenstand des anhängigen Verfahrens geworden, über den der Senat im Klageweg zu entscheiden hat. Der zuletzt gestellte Antrag, Pflegegeld nach Stufe II ab 11.02.2008 zu gewähren, stellt eine zumindest sachdienliche Klageänderung gemäß § 99 Abs. 1 SGG dar. Mit der Frage, ob die in erster Instanz in den Schreiben der Klägerin enthaltenen Anträge dahin auszulegen sind, dass Pflegegeld mindestens nach Pflegestufe II begehrt wurde, braucht sich der Senat nicht weiter auseinander zu setzen.

Für die Zeit vom 11.02.2008 bis 07.03.2009 ist die Berufung schon deshalb unbegründet, da der Klägerin für diesen Zeitraum Pflegegeld nicht zusteht.

Voraussetzung für eine solche Leistung gemäß § 37 Abs. 1 des Elften Buchs Sozialgesetzbuch (SGB XI) ist, dass der Pflegebedürftige mit dem Pflegegeld dessen Umfang entsprechend die erforderliche Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung in geeigneter Weise selbst sicherstellen kann. Die Höhe des Pflegegeldes hängt davon ab, welcher Pflegestufe der Pflegebedürftige zuzuordnen ist. Nach § 15 Abs. 1 Ziffer 1 SGB XI sind Pflegebedürftige der Pflegestufe I (erheblich Pflegebedürftige) zuzuordnen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. Maßgeblich ist nach § 15 Abs. 3 Ziffer 1 SGB XI, dass der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, pro Tag im Wochendurchschnitt in der Pflegestufe I mindestens 90 Minuten beträgt, wobei auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen müssen.

Der Anspruch der Klägerin scheitert daran, dass sie im Bereich der Grundpflege im Zeitraum vom 11.02.2008 bis 07.03.2009 keiner Hilfe bedurfte, die mehr als 45 Minuten täglich ausmachte. Dies entnimmt der Senat den Feststellungen des MDK vom 19.03.2008 und 26.05.2008, die er im Urkundenbeweis verwerten kann. Danach erreichte der Hilfebedarf für Verrichtungen der Grundpflege bei weitem nicht mehr als 45 Minuten täglich im Wochendurchschnitt.

Erst auf Grund der Feststellungen des Dr. C. im Gutachten vom 13.03.2009 nach Hausbesuch am 07.03.2009 hält der Senat einen pflegerelevanten Hilfebedarf von mehr als 45 Minuten für nachgewiesen. Der Anstieg der Pflegeleistungen beruht im Wesentlichen darauf, dass die Klägerin auf Grund demenzielller Entwicklung zunehmend weniger einsichtig geworden ist und die Notwendigkeit ihrer Versorgung und Pflege nicht akzeptiert.

Allerdings hält der Senat die einzelnen dort festgelegten Zeitwerte für korrekturbedürftig. Dies gilt vor allem für die Begleitung der Klägerin ins Haus der Tochter zum Mittagessen und zum Baden. Hierfür veranschlagte Dr. C. pro Tag 14 Minuten zum Mittagessen und umgerechnet auf den Tag 1 Minute für das einmal wöchentliche Baden, die abzuziehen sind. Auch den Umfang der Hilfe bei der Ernährung hält der Senat für überhöht. Nicht nachvollziehbar ist, dass zu der mundgerechten Zubereitung, für die der Sachverständige 6 Minuten für angemessen hält, noch weitere 15 Minuten für die Nahrungsaufnahme selbst dazu kommen sollen. Es ist zwar einzuräumen, dass die Klägerin an hochgradiger Sehstörung leidet. Jedoch ist sie in ihrer motorischen Fähigkeit für den Umgang mit Besteck nicht wesentlich eingeschränkt. Lediglich wegen ihres ausgeprägten Misstrauens, man serviere ihr vergiftetes Essen, muss eine Person beim Essen dabei sitzen und sie zum Essen auffordern. Dies ist jedoch keine Tätigkeit, die die Pflegeperson derart bindenden würde, dass sie nebenbei nichts anderes machen könnte. Beispielsweise könnte sie zugleich selbst essen. Statt der vom Sachverständigen veranschlagten 15 Minuten hält der Senat insoweit lediglich 2 Minuten - wie vom MDK vorgeschlagen - für angezeigt.

Insgesamt sind von dem von Dr. C. errechneten täglichen Hilfebedarf von 78 Minuten 29 Minuten abzuziehen. Es verbleibt eine Pflegeleistung von 49 Minuten, so dass zumindest ab der Begutachtung durch den gerichtlichen Sachverständigen die Voraussetzungen für Pflegestufe I erreicht werden. Damit kommt der Senat zu dem Ergebnis, dass die Voraussetzungen eines Hilfebedarfs im Umfang der Pflegestufe I zumindest für die Zeit vom 11.02.2008 bis 07.03.2009 nicht gegeben waren.

Die vorbestehenden Ausführungen verdeutlichen, dass die Voraussetzungen für höheres Pflegegeld als nach Stufe I für die Zeit bis 07.03.2009 nicht erfüllt sind. Pflegegeld nach der Stufe II erhält ein Pflegebedürftiger, bei dem ein Zeitaufwand für Grundpflegehilfe von mindestens zwei Stunden notwendig ist (§ 15 Abs. 3 Ziffer 2 SGB XI). Einen derartigen Pflegeumfang bescheinigt weder der MDK noch der gerichtliche Sachverständige
Dr. C ... Dies gilt sowohl für die streitige Zeit vom 11.02.2008 bis 07.03.2009 als auch für die Zeit danach, für die die Beklagte Pflegegeld nach Stufe I gemäß Anerkenntnis vom 28.10.2009 bzw. im Bescheid vom 09.09.2009 zugestanden hat. Insoweit stützt sich der Senat auf das Gutachten des MDK vom 07.09.2009, das er im Urkundenbeweis seiner Entscheidung zugrunde legen darf (BSG Urteil vom 14.12.2000 - B 2 P 5/00 R). Das Gutachten berücksichtigt den Gesundheitszustand der Klägerin nach im Juli 2009 erlittenen Schlaganfall und Krankenhausaufenthalt bis 13.08.2009. Ein Hilfebedarf für Grundpflege von 74 Minuten pro Tag im Wochendurchschnitt wird darin bescheinigt. Konkrete Einwände, die die Richtigkeit der Feststellungen des MDK in Zweifel ziehen würden, wurden von der Klägerin nicht vorgebracht. Dass die pflegende Tochter aufgrund liebevoller und fürsorglicher Pflege weit mehr Zeit aufwendet, hält der Senat für absolut glaubwürdig. Berücksichtigungsfähig sind jedoch nur die in § 14 Abs. 4, 15 Abs. 1 und 3 SGB XI genannten Verrichtungen in der dort aufgeführten Notwendigkeit.

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Regensburg vom 13.10.2008 war zurückzuweisen; die Klage gegen den Bescheid vom 09.09.2009 war abzuweisen.

Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 193 SGG. Danach sind außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten, da die Klägerin im Wesentlichen nicht obsiegt und die Beklagte ein Anerkenntnis abgegeben hat und damit der geänderten Sachlage unverzüglich Rechnung getragen hat.

Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG zuzulassen, sind nicht zu erkennen.
Rechtskraft
Aus
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