L 8 AL 66/08

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 12 AL 1782/04
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 AL 66/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Es obliegt der Bundesagentur für Arbeit als Ausfluss des den Antragstellern zustehenden rechtlichen Gehörs und des hierauf gründenden Rechts auf Akteneinsicht, ihr Verwaltungshandeln sachgerecht zu dokumentieren.
2. Ist der Bescheid, auf dessen Wortlaut sich die Bundesagentur für Arbeit beruft, wegen der praktizierten zentralen Bescheiderfassung nicht in ihrer Verwaltungsakte abgelegt, ist ohne Hinzutreten weiterer Umstände ein voller Nachweis durch verwendete Musterbescheide nicht zu führen. Eine Beweiserleichterung wegen Beweisnotstand kommt hierfür auch dann nicht in Betracht, wenn auch von anderen Berteiligten ein Bescheidexemplar unwiderlegt nicht vorgelegt werden kann.
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 19. November 2007 und der Bescheid der Beklagten vom 20. August 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Februar 2004 aufgehoben.

Die Beklagte hat dem Kläger seine außergerichtlichen Kosten in beiden Instanzen zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte die Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) zu Recht rückwirkend teilweise aufgehoben und erbrachte Leistungen vom Kläger zurückgefordert hat.

Der 1945 geborene Kläger - gelernter Betriebswirt von Beruf - war vom 01.10.1996 bis zur Kündigung seines Beschäftigungsverhältnisses durch seinen damaligen Arbeitgeber zum 30.04.1999 als Leiter des Finanz- und Rechnungswesens tätig. Nach dem Bezug von Alg vom 04.05.1999 bis 30.06.1999 nach Leistungsgruppe C/0 arbeitete der zu der Zeit noch verheiratete Kläger vom 01.07.1999 bis 30.04.2001 als Buchhalter. Auch dieses Beschäftigungsverhältnis endete durch Kündigung des Arbeitgebers. Vom 01.05.2001 bis 31.07.2001 - seit 01.04.2001 lebte der Kläger von seiner Ehefrau getrennt - bezog er von der Beklagten Alg nach Leistungsgruppe C/0. Am 01.08.2001 nahm er eine Tätigkeit - wiederum als Buchhalter - bei der Firma S. R. GmbH in S. auf. Dieses Beschäftigungsverhältnis wurde vom Arbeitgeber zum 30.06.2002 betriebsbedingt gekündigt.

Am 19.06.2002 meldete sich der Kläger bei der Beklagten arbeitslos und beantragte Alg. In seinem Antrag gab er an, er lebe seit 01.04.2001 dauernd getrennt und sein am 23.09.1980 geborener Sohn nehme im Oktober 2002 ein Studium auf. Auf seiner Lohnsteuerkarte für das Jahr 2002 sei zu Jahresbeginn die Lohnsteuerklasse I eingetragen gewesen und eine Änderung sei im Laufe des Jahres nicht erfolgt. Er versicherte, dass seine Angaben zutreffen und dass er Änderungen unverzüglich anzeigen werde. Das Merkblatt 1 für Arbeitslose habe er erhalten und von seinem Inhalt Kenntnis genommen. Mit Bescheid vom 23.07.2002 bewilligte die Beklagte dem Kläger Alg ab 01.07.2002 nach einem Bemessungsentgelt von 1025 EUR in Höhe von 384,09 EUR wöchentlich (Leistungsgruppe C/0). Ab 01.01.2003 betrug der wöchentliche Leistungssatz bei im Übrigen unveränderten Leistungsmerkmalen 381,08 EUR.

Am 17.02.2003 übergab der Kläger bei einer persönlichen Vorsprache die Lohnsteuerkarte für das Jahr 2003, in der zu Beginn des Jahres die Steuerklasse I und aufgrund einer am 17.02.2003 für die Zeit ab 01.01.2003 erfolgten Änderung die Steuerklasse II und ein Kinderfreibetrag von 0,5 eingetragen war. Nach Vorlage des Einkommensteuerbescheides des Finanzamtes W. vom 02.04.2003 für das Jahr 2002 hörte die Beklagte den Kläger mit Schreiben vom 22.07.2007 zur beabsichtigten teilweisen Rücknahme der Bewilligung von Alg für die Zeit vom 01.07.2002 bis 31.03.2003 und Erstattung von Alg in Höhe von 1523,74 EUR an und gab ihm Gelegenheit zur Äußerung. Ihm hätten vom 01.07.2002 bis 30.09.2002 nur Leistungen nach der Leistungsgruppe A/0 in Höhe von 310,87 EUR wöchentlich (anstatt 384,09 EUR), vom 01.10.2002 bis 31.12.2002 nach Leistungsgruppe B/1 in Höhe von 362,67 EUR wöchentlich und ab 01.01.2003 in Höhe von 359,31 EUR (anstatt 381,08 EUR) zugestanden. Die Überzahlung sei dadurch entstanden, dass der Kläger eine für den Leistungsanspruch erhebliche Änderung der Verhältnisse nicht richtig angezeigt habe.

Der Kläger nahm mit Schreiben vom 07.08.2003 dahingehend Stellung, dass er immer und zu jedem Zeitpunkt der Beklagten die ihm jeweils verfügbaren bzw. erforderlichen Unterlagen zu Verfügung gestellt habe. Allerdings habe er es unterlassen rechtzeitig mitzuteilen, dass sein Sohn im Oktober 2002 ein Studium begonnen habe. Da er (erst) am 17.02.2003 eine entsprechende Studienbescheinigung vorgelegt habe, sei er davon ausgegangen, dass er eine entsprechende Nachzahlung erhalten werde. Er habe aber nur für die Zeit ab Januar 2003 einen neuen Bescheid (Bescheid vom 14.04.2003) erhalten, nicht aber eine Nachzahlungsmitteilung für die Zeit von Oktober bis Dezember 2002. Dass er anstatt eine Nachzahlung zu bekommen nun das bezogene Alg teilweise erstatten solle, sei ihm deshalb völlig unverständlich.

Mit Bescheid vom 20.08.2003 nahm die Beklagte die mit Bescheid vom 23.07.2002 erfolgte Bewilligung von Alg ab 01.07.2002 in Höhe von 73,22 EUR wöchentlich, ab 01.10.2002 in Höhe von 21.42 EUR wöchentlich und ab 01.01.2003 in Höhe von 21,77 EUR wöchentlich zurück. Der Kläger habe vom 01.07.2002 bis 31.03.2003 Leistungen nach der Leistungsgruppe C/0 erhalten, obwohl ihm vom 01.07.2002 bis 30.09.2002 nur Leistungen nach der Leistungsgruppe A/0 und vom 01.10.2002 bis 31.03.2003 nur Leistungen nach der Leistungsgruppe B/1 zugestanden hätten. Die Entscheidung beruhe auf § 45 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 Sozialgesetzbuch - Zehntes Buch - (SGB X) i.V.m. § 330 Abs. 2 Sozialgesetzbuch - Drittes Buch - (SGB III). Der Kläger habe im betreffenden Zeitraum 1523,74 EUR zu Unrecht erhalten, die von ihm zu erstatten seien.

Dagegen legte der Kläger am 11.09.2003 Widerspruch ein und machte geltend, nachdem er immer alle notwendigen Unterlagen vorgelegt habe, sei er nicht im geringsten dafür verantwortlich, dass die Beklagte der Leistungsbewilligung offensichtlich eine unrichtige Leistungsgruppe zugrunde gelegt habe. Er selbst habe natürlich die erhaltenen Bescheide geprüft, jedoch sei ihm dieser Fehler nicht aufgefallen. Dies werde schon durch die Tatsache bewiesen, dass er zwei Mal vorstellig geworden sei, um nach dem Verbleib der Nachzahlung für die Zeit von Oktober bis Dezember 2002 zu fragen. Er habe nämlich eine Nachzahlung für diesen Zeitraum erwartet und habe zu keiner Zeit mit einem negativen Bescheid rechnen können. Mit Widerspruchsbescheid vom 18.02.2004 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Die Leistungsbewilligung sei für den betreffenden Zeitraum rechtswidrig gewesen, da der Kläger Anspruch auf Alg nur nach Leistungsgruppe A (ab 01.07.2002) bzw. Leistungsgruppe B (ab 01.10.2002) und nicht nach Leistungsgruppe C (Steuerklasse III) gehabt habe. Auf Vertrauensschutz könne sich der Kläger nicht berufen. Zwar habe der Kläger die Änderung der Verhältnisse vor der Bekanntgabe der Bewilligung der Leistungen mitgeteilt. Diese Mitteilung sei jedoch nicht berücksichtigt worden. Aufgrund der verständlichen Hinweise im dem Kläger ausgehändigten Merkblatt und auch auf der Rückseite des Bewilligungsbescheides hätte der Kläger erkennen müssen, dass ihm zu viel Alg gezahlt werde. Er habe weiterhin Alg nach Leistungsgruppe C und gegenüber der Zeit bis 31.07.2001 in fast unveränderter Höhe erhalten, obwohl sich die Lohnsteuerklasse geändert habe. Somit habe er grob fahrlässig gehandelt. Er habe die Sorgfaltspflicht im besonders schwerem Maße verletzt, da er zumindest hätte wissen müssen, dass der Leistungsanspruch durch die Lohnsteuerklasse beeinflusst werde.

Am 18.03.2004 erhob der Kläger Klage zum Sozialgericht Stuttgart (SG), mit der er sich gegen die teilweise Aufhebung der Bewilligung von Alg und das entsprechende Erstattungsverlangen der Beklagten wandte. Er machte geltend, er sei - nachdem er seine Lohnsteuerkarte mit der darauf eingetragenen Steuerklasse I und seine Lohnabrechnungen (ebenfalls mit der eingetragenen Lohnsteuerklasse I) - davon ausgegangen, dass die Beklagte das Alg in korrekter Höhe bewillige. Ihm könne keine grobe Fahrlässigkeit vorgeworfen werden, weil er die fehlerhafte Bewilligung der Beklagten nicht erkannt habe. Er sei nicht verpflichtet gewesen, die Bescheide der Beklagten zu "durchforsten". Trotz seiner beruflichen Qualifikation sei es ihm bei einfachen Überlegungen nicht möglich gewesen, die Unstimmigkeiten in den Bewilligungsbescheiden zu erkennen. Da er nach dem Bezug von Alg bis 31.07.2001 wieder beschäftigt gewesen sei und sich das Gehalt und die Höhe des Alg verändert gehabt habe, hätte er aufgrund eines Vergleichs des jeweiligen Zahlbetrages nicht auf die Fehlerhaftigkeit der Bewilligung schließen können.

Die Beklagte trat der Klage entgegen und machte geltend, der Kläger habe die Rechtswidrigkeit der Leistungsbewilligung grob fahrlässig nicht erkannt. Dem Kläger hätte bei Anstellung einfachster Überlegungen und einer Schlüssigkeitsprüfung auffallen müssen, dass die ihm zuerkannte Leistungsgruppe den tatsächlichen Verhältnissen nicht entsprochen habe. Er habe gewusst, dass ihm Alg nur nach der Leistungsgruppe B zustand und dass sich die Leistungshöhe vermindern musste. Gerade mit Blick auf seine berufliche Qualifikation sei es ihm zumutbar gewesen, zumindest einfache Überlegungen anzustellen, ob ihm das Alg in dieser Höhe auch zu Recht bewilligt worden sei.

Mit Urteil vom 19.11.2007 wies das SG die Klage ab. Es hielt die Klage für unbegründet, weil die Beklagte die Bewilligung von Alg für die Zeit vom 01.07.2002 bis 31.03.2003 zu Recht wegen grob fahrlässiger Unkenntnis der Rechtswidrigkeit der Bewilligung von Alg teilweise aufgehoben und das zu viel gezahlte Alg zurückgefordert habe. Der Kläger habe für den streitigen Zeitraum nach der Trennung von seiner Ehefrau und der Eintragung der Lohnsteuerklasse II auf seiner Lohnsteuerkarte nur noch Anspruch auf Alg nach Leistungsgruppe B (anstatt nach Leistungsgruppe C) - und damit auf geringere Leistungen - gehabt. Ihm sei auch grob fahrlässige Unkenntnis der Rechtswidrigkeit der zu hohen Bewilligung von Alg vorzuwerfen, da ihm aufgrund der in den Bewilligungsbescheiden und auch im ihm ausgehändigten Merkblatt und seinem individuellen Einsichtsvermögen die Unrichtigkeit der Bescheide hätte ins Auge springen müssen. Der Kläger, der zuletzt als Buchhalter tätig gewesen sei, habe selbst angegeben, dass er den Bewilligungsbescheid der Beklagten "natürlich" überprüft habe, ihm jedoch der Fehler nicht aufgefallen sei. Dies rechtfertige den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit. Die Bewilligung von Alg sei daher teilweise zurückzunehmen gewesen. Der Erstattungsanspruch in Höhe von 1523,74 EUR folge aus § 50 Abs. 1 SGB X.

Dagegen hat der Kläger am 07.01.2008 Berufung eingelegt, mit der er weiterhin einen Anspruch auf Aufhebung der angegriffenen Bescheide geltend macht. Er bringt vor, sämtliche Angaben, die er gegenüber der Beklagten gemacht habe, seien korrekt und rechtzeitig erfolgt. Aus den von ihm vorgelegten Unterlagen habe sich eindeutig ergeben, dass er zu der Zeit in der Lohnsteuerklasse I eingruppiert gewesen sei. Die Unrichtigkeit der Bewilligungsbescheide habe die Beklagte selbst verursacht. Schon deshalb könne angenommen werden, dass die Annahme von grober Fahrlässigkeit ausscheide. Ihm könne aber auch deshalb keine grobe Fahrlässigkeit vorgeworfen werden, weil er sich zur damaligen Zeit in einer schweren gesundheitlichen Krise befunden habe und - trotz seiner Ausbildung - über die einfachsten Dinge hinaus nicht in der Lage gewesen sei, sich um seine Belange richtig zu kümmern. Nach wiederholten Kündigungen seiner Beschäftigungsverhältnisse und der Versorgung mit einem Herzkatheter im Jahr 1999 habe er im Jahr 2002 unter ständig starkem Tinnitus gelitten. Anfang 2002 habe er seine Mutter in einem Pflegeheim unterbringen müssen und letztendlich sei es aufgrund dieser Gesamtbelastung am 09.07.2002 zur Scheidung gekommen. Aufgrund dessen habe sich der Tinnitus verstärkt und sei es Ende 2002 zu einem Gehörsturz gekommen. 2003 habe er sein Haus verkaufen (mit einer entsprechenden nachfolgenden Verschuldung) und sich auch nochmals einer Katheteroperation unterziehen müssen. Die ganze Situation habe dazu geführt, dass er wochenlang die gesamte Post einfach ungeöffnet liegen gelassen, seine Kontoauszüge nicht geöffnet habe und sich um seine persönlichen Angelegenheiten nicht mehr habe kümmern können. Schließlich falle auf, dass in den entsprechenden Bescheiden der Beklagten seit 2005 keine Buchstaben mehr aufgeführt seien, sondern einfach und für jeden erkennbar auf der Vorderseite die Lohnsteuerklasse selbst eingetragen sei. Die von der Beklagten bis dahin praktizierte umständliche und unüberschaubare Darstellungsweise sei zu ihren Lasten zu berücksichtigen. Der Kläger legt den Kurentlassungsbericht der Reha-Klinik W. in B. N. vom 17.11.2004 vor.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 19. November 2007 und den Bescheid der Beklagten vom 20. August 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Februar 2004 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Sie legt dar, dass der fehlerhafte Bescheid darauf zurückzuführen sei, dass auf die gespeicherten Daten aus der am 31.05.2001 für die Zeit ab 01.05.2001 erfolgten Bewilligung von Alg nach Leistungsgruppe C zurückgegriffen worden sei. Im Übrigen macht sie geltend, der Kläger habe die Unrichtigkeit der Bewilligungen leicht erkennen können. Er sei verpflichtet gewesen, den Bewilligungsbescheid zur Kenntnis zu nehmen und zu prüfen. Dies habe er - wie der Schriftsatz der Prozessbevollmächtigten des Klägers vom 27.05.2004 zeige - auch getan. Daraus gehe hervor, dass er einfach davon ausgegangen sei, dass die Höhe des Alg korrekt festgesetzt worden sei. Es sei auch nicht belegt, dass er schon zum Zeitpunkt der Übersendung des Bewilligungsbescheides im Juli 2002 nicht in der Lage gewesen sei, sich um seine Belange richtig zu kümmern. In seinem Antrag auf Alg vom 19.06.2002 habe er nicht angegeben, dass seine Leistungsfähigkeit eingeschränkt sei. Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen lägen erst ab 04.09.2002 vor. Ferner werde durch sein Schreiben vom 07.08.2003 widerlegt, dass er sich über die einfachsten Dinge hinaus nicht um seine Belange richtig habe kümmern können. Zur Frage, ob dem Kläger aufgrund seiner subjektiven Erkenntnismöglichkeiten der Fehler hätte "ins Auge springen" müssen, sei zu berücksichtigen, dass der Kläger Betriebswirt sei, der als Leiter des Rechnungswesens und als Buchhalter tätig gewesen sei. Er sei auch nicht erstmalig arbeitslos gewesen und mit den für das Arbeitslosengeld maßgebenden Berechnungsfaktoren vertraut gewesen. Im Übrigen habe der Kläger einen Bewilligungsbescheid erhalten, in dem die Zuordnung der Leistungsgruppe nicht schematisch dargestellt worden sei. Sie könne den nicht aktenkundigen Bescheid nicht vorlegen. Aber ausweislich des vorgelegten Musterschreibens sei im Bescheid ganz konkret sachverhaltsbezogen ausgeführt gewesen: "Die Zuordnung zur Leistungsgruppe C erfolgte aufgrund der Lohnsteuerklasse III". Nach dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 08.02.2001 (B 11 AL 21/00 R) mache eine Bescheidbegründung, die den zugrunde gelegten Sachverhalt wiedergebe, selbst einen mit einer bestimmten Rechtsmaterie nicht vertrauten Antragsteller darauf aufmerksam, dass der Bescheid wegen einer unzutreffenden Steuerklasse fehlerhaft sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz und die Akten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht (§ 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) eingelegte Berufung des Klägers ist statthaft und insgesamt zulässig.

Die Berufung ist auch begründet. Das SG hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Der Bescheid vom 20.08.2003 (Widerspruchsbescheid vom 18.02.2004), mit dem die Beklagte die Bewilligung von Alg für die Zeit vom 01.07.2002 bis 31.03.2003 teilweise zurückgenommen und die Erstattung des dem Kläger in dieser Zeit zu viel gezahlten Alg in Höhe von insgesamt 1.523,74 EUR verlangt hat, ist rechtswidrig. Die Beklagte war nicht berechtigt, ihre bestandskräftigen Bewilligungsentscheidungen rückwirkend teilweise zurückzunehmen.

Das SG hat im angefochtenen Urteil die hier maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen, insbesondere die §§ 129, 136 und 137 SGB III sowie § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X iVm § 330 Abs. 2 SGB III, zutreffend genannt. In Anwendung der §§ 129, 136 f. SGB III ist es auch zutreffend zu dem Ergebnis gekommen, dass der Kläger ab 01.07.2002 nur Anspruch auf Alg nach Leistungsgruppe A/0 (Lohnsteuerklasse I) - bzw. ab Oktober 2002 (Studienbeginn seines Sohnes) nach Leistungsgruppe B/1 - hatte und ihm nach der am 01.04.2001 erfolgten Trennung von seiner Ehefrau Alg nach Leistungsgruppe C (Lohnsteuerklasse III) nicht mehr zustand. Der Senat hält die - im Übrigen auch nicht umstrittenen - Ausführungen im angefochtenen Urteil hierzu für zutreffend und schließt sich ihnen nach eigener Überprüfung an; zur Begründung seiner Entscheidung nimmt er hierauf gemäß § 153 Abs. 2 SGG Bezug.

Zu ergänzen ist lediglich, dass der als Änderungsbescheid bezeichnete Bescheid der Beklagten vom 14.04.2003, den der Kläger in Erfüllung der Auflage des Senats in der mündlichen Verhandlung vorgelegt hat, weder einen Verfügungssatz über die - teilweise - Aufhebung der Leistungsbewilligung vom 23.07.2002 noch die Rechtsgrundlagen der ausgesprochenen rückwirkenden Änderung der Leistungsbewilligung enthält. Die Aufhebung kann auf verschiedene Weise erfolgen, muss aber hinreichend bestimmt erklärt werden, um die wirksame und bindende Erstfestsetzung zu beseitigen (BSG, Urteil vom 22.09.2009 - B 2 U 32/08 R- veröffentl. in Juris). Die zum Nachteil des Betroffenen rückwirkende Änderung einer Verwaltungsentscheidung enthält für sich genommen noch keine Regelung über die Bestandskraft des geänderten Ausgangsbescheides (vgl. BSG a.a.O.), hier der Alg-Bewilligung vom 23.07.2002. Im streitgegenständlichen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 20.08.2003 wird auch nur die Leistungsbewilligung aus der Entscheidung vom 23.07.2002 teilweise für den Erstattungszeitraum ab 01.07.2002 bis einschließlich 31.03.2003 zurückgenommen. Auf die Bestandskraft des vom Kläger nicht ausdrücklich angefochtenen Änderungsbescheides vom 14.04.2003, der ab 01.01.2003 Alg in zutreffender Höhe rückwirkend festsetzt, hat sich die Beklagte weder hinsichtlich einer bereits erfolgten - und damit als bestandskräftig zu berücksichtigenden - Aufhebung der Leistungsbewilligung ab Januar 2003 noch hinsichtlich der hieraus folgenden Erstattungsforderung nach § 50 Abs. 1 SGB X, der die Rückforderung erbrachter Leistungen auch in den Fällen der Aufhebung eines Verwaltungsakts außerhalb des Anwendungsbereichs der §§ 48 und 45 SGB X ermöglicht, berufen. Ob der Änderungsbescheid vom 14.04.2003 tatsächlich nur eine vorläufige - teilweise - Zahlungseinstellung nach § 331 Abs. 1 SGB III bewirken sollte, kann unter diesen Umständen dahinstehen. Eine Aufhebung des Bewilligungsbescheids vom 23.07.2002 ist dem Bescheid vom 14.04.2003 nicht zu entnehmen. Im übrigen wäre dem Kläger auch von Amts wegen Wiedereinsetzung in die versäumte Widerspruchsfrist nach § 67 Abs. 1, Abs. 2 Satz 4 SGG hinsichtlich des Änderungsbescheides vom 14.04.2003 zu gewähren, soweit der Regelungsgehalt die Aufhebung der vorausgegangenen Leistungsbewilligung mit der rechtlichen Konsequenz der Erstattung bereits erbrachter Leistungen beinhaltet haben sollte. Da der Kläger zu der beabsichtigten Aufhebung vor Erlass des Bescheides vom 14.04.2003 nicht angehört worden ist und der Bescheid keine auf die hier einmal unterstellte Aufhebung hinweisende Begründung enthält sowie die Angaben der Leistungsmerkmale im Bescheid für die ab 01.01.2003 festgesetzte Leistung aus Sicht des Klägers auch zutreffend war, hatte er keine Veranlassung den Bescheid anzufechten. Er war demnach rechtlich gehindert, das von ihm in Anspruch genommene Recht, die rückwirkende Aufhebung einer Leistungsbewilligung nur in den Grenzen von §§ 48 oder 45 SGB X verlangen zu können, wahrzunehmen. Mit Erhebung des Widerspruchs im September 2003 hätte der Kläger darüber hinaus zusätzlich die unterlassene Rechtshandlung, auch Widerspruch gegen den Änderungsbescheid vom 14.04.2003 zu erheben, nachgeholt (§ 67 Abs. 2 Satz 3 SGG), da er sich gegen die Aufhebung der Leistungsbewilligung für den gesamten Rückforderungszeitraum wandte.

Die (teilweise) Rücknahme der bestandskräftigen Bewilligungsentscheidungen für den genannten Zeitraum setzt voraus, dass das Vertrauen des Klägers auf den Bestand der rechtswidrigen Bewilligungen nicht schutzwürdig ist. Dies ist gemäß § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X - nur dieser Rücknahmegrund kommt hier in Betracht - dann zu bejahen, wenn der Kläger die Rechtswidrigkeit der Bewilligungsentscheidungen kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 2. Halbsatz SGB X). Vorsätzliche Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis von der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts muss zum Zeitpunkt der Bekanntgabe des Verwaltungsaktes vorgelegen haben, ein später ergangener Hinweis beseitigt die den Vertrauensschutz begründende Gutgläubigkeit nicht (BSG SozR 3-1300 § 45 Nr. 24; Schütze in von Wulffen, SGB X, Kommentar, 6. Aufl., § 45 Rn. 53). Der nach Ende des Rückforderungszeitraums am 31.03.2003 ergangene Änderungsbescheid vom 14.04.2003 war daher auch nicht geeignet, insoweit maßgeblichen Vertrauensschutz zu beseitigen. Die Voraussetzungen der gesetzlichen Bestimmung des § 45 Abs. 2 SGB X hält der Senat im Unterschied zum SG nicht für erfüllt.

Allerdings ist ein Grund zur (teilweisen) Rücknahme der Bewilligungen nicht schon deshalb zu verneinen, weil die Beklagte - durch den Rückgriff auf gespeicherte, aber hinsichtlich der Leistungsgruppe nicht mehr zutreffende Daten - die Rechtswidrigkeit der Bewilligungen selbst verursacht und der Kläger zur Fehlerhaftigkeit der Bescheide nicht beigetragen hat. Der Kläger hat - was die Beklagte auch nicht in Frage stellt - durchweg richtige und auch rechtzeitig Angaben gemacht. In seinem Antrag auf Alg vom 19.06.2002 hat er zutreffend angegeben, er lebe seit 01.04.2001 dauernd getrennt und auf seiner Lohnsteuerkarte für das Jahr 2002 sei zu Jahresbeginn die Lohnsteuerklasse I eingetragen gewesen und eine Änderung sei nicht erfolgt. Würde man darauf abheben, wer die Rechtswidrigkeit der Bewilligung verursacht bzw. verschuldet hat, stünde dies nicht nur nicht im Einklang mit dem Wortlaut des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 1. Halbsatz SGB X, der hierauf nicht abstellt, sondern käme man auch zu nicht tragbaren Ergebnissen, weil ein fehlerhafter Bescheid auch dann nicht zurückgenommen werden könnte, wenn er für jedermann offensichtlich unrichtig ist.

Dass der Kläger die Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides gekannt hat, somit vorsätzlich bösgläubig war, ist nicht ersichtlich. Dies hat selbst die Beklagte nicht angenommen, geschweige denn hat sie Umstände vorgetragen, die die sichere Kenntnis des Klägers beweisen. Der Kläger hat im Widerspruchsverfahren angegeben, er habe natürlich die erhaltenen Bewilligungsbescheide geprüft, jedoch sei ihm der Fehler nicht aufgefallen. Dieses - im Übrigen auch von der Beklagten nicht bestrittene - glaubhafte Vorbringen des Klägers ist nicht zu widerlegen.

Auch eine grob fahrlässige Unkenntnis der Rechtswidrigkeit des Bescheides ist dem Kläger nicht vorzuwerfen. Grobe Fahrlässigkeit liegt dann vor, wenn die bestehende Sorgfaltspflicht in ungewöhnlich hohem Maße verletzt worden ist, wenn außer Acht gelassen worden ist, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Die Rechtswidrigkeit muss sich ohne weitere Nachforschungen aus dem Bescheid selbst ergeben haben und es musste anhand der Umstände und ganz naheliegender Überlegungen einleuchten und auffallen, dass der Bescheid fehlerhaft ist. Dabei ist auch in subjektiver Hinsicht ein gegenüber einfacher Fahrlässigkeit gesteigertes Verschulden nötig. Der Versicherte muss unter Berücksichtigung seiner individuellen Einsichts- und Urteilsfähigkeit seine Sorgfaltspflichten in außergewöhnlich hohem Maße, d.h. in einem das gewöhnliche Maß an Fahrlässigkeit erheblich übersteigendem Ausmaß verletzt haben (vgl. Schütze, a.a.O. § 45 Rdnr. 24 mH auf BSG SozSich 1985, 64 und auch BSGE 42, 186).

Danach wäre auch keine grobe Fahrlässigkeit des Klägers anzunehmen, wenn auf der Rückseite des Bescheides unter der Überschrift "Hinweise zur Höhe des Arbeitslosengeldes nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch (SGB III)" der von der Beklagten behauptete Text nicht abgedruckt gewesen wäre. Die Anforderungen an das Ausmaß der Verletzung der Sorgfaltspflicht hält der Senat auch dann nicht für erfüllt. Dabei ist zu beachten, dass entscheidend ist, ob dem Kläger unter den gegebenen Umständen eine Sorgfaltspflichtverletzung in besonders schwerem Maße vorzuwerfen ist, weil er die Rechtswidrigkeit der Bewilligungsbescheide der Höhe nach nicht erkannt hat (vgl. Urteil des BSG vom 08.02.2001 - B 11 AL 21/00 R). Die unrichtige Höhe der dem Kläger bewilligten Leistungen - wie sie sich aus den betreffenden Bescheiden ergab - musste dem Kläger nicht auffallen. Zwar ist ein Kennenmüssen der Fehlerhaftigkeit der Bewilligung beispielsweise dann anzunehmen, wenn das Alg höher ist als das vorherige Einkommen. Die hier erfolgten zu hohen Bewilligungen bewegen sich aber insbesondere ab Oktober 2002 in unauffälligen Dimensionen (ca. 22 EUR wöchentlich). Auch für die Zeit ab 01.07.2002 (Bewilligung 384,09 EUR wöchentlich anstatt 310,87 EUR) war das zu Unrecht bewilligte Alg im Hinblick auf das bis Juni 2002 erzielte monatliche Bruttoarbeitsentgelt von 3841,34 EUR (wöchentliches Bemessungsentgelt 1050 EUR) nicht so hoch, dass dies dem Kläger hätte auffallen müssen.

Eine Bösgläubigkeit des Klägers in dem oben genannten Sinne (vorsätzliche Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts) ist aber deshalb nicht zur vollen Überzeugung des Senats nachgewiesen, weil der Senat bereits nicht hat feststellen können, dass der dem Kläger bekanntgegebene Bescheid die von der Beklagten behaupteten Eintragungen enthalten hatte, aus denen die Fehlerhaftigkeit der bewilligten Leistungshöhe hätte ersichtlich sein sollen. Die Verwaltungsakte der Beklagten enthält den Bewilligungsbescheid vom 23.07.2002 und den Änderungsbescheid vom 14.04.2003 nicht, weder in einer auszufertigenden Originalfassung noch als Ausfertigungsbeleg. Dies ist nach der Organisationsstruktur der Beklagten mit zentraler Bescheiderfassung auch nicht vorgesehen, wobei die zentrale Bescheiderfassung nicht zwingend eine Aktendokumentation ausschließt. Die Beklagte hat die genannten Bescheide - auch nicht nach Reproduktion auf nachvollziehbare Weise - nicht zu den Akten oder zur Vorlage bei dem Gericht nachgereicht. Insoweit ist das Verwaltungshandeln der Beklagten nur unzureichend dokumentiert. Da der Kläger den Bewilligungsbescheid ebenfalls nicht vorgelegt hat - er hat nur den Folgebescheid vom 14.04.2003 vorlegen können -, ist der genaue Text des maßgebenden Bewilligungsbescheids nicht nachgewiesen und für den Senat nicht feststellbar. Zwar spricht einiges dafür, dass der Bescheid entsprechend den zu diesem Zeitpunkt verwendeten Musterschreiben, das die Beklagte im Berufungsverfahren vorgelegt hat, textlich gestaltet war. Ob aber tatsächlich mit der Kassenanordnung vom 19.07.2002 des örtlichen Sachbearbeiters (Bl. 45 der Verwaltungsakte) in der zentralen EDV-Erfassung die Daten eingegeben bzw. in der von der Beklagten behaupteten Form übernommen wurden, ist damit nicht zur vollen Überzeugung des Senats belegt. In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat der Sitzungsvertreter der Beklagten für den Verwaltungsablauf von der Dateneingabe durch die örtliche Agentur mit Übernahme der im elektronischen System gespeicherten Daten in der Zentrale der Beklagten bis zu der dort veranlassten Bescheiderstellung und Bekanntgabe des Bescheids keine Umstände vorgetragen, nach denen mit zwingender Folgerichtigkeit etwaige in der Datenerfassung der örtlichen Agentur aufgetretene Fehler unkorrigiert auch in den zu erlassenden Bescheide gelangen. Weder ist vor dem Erlass des Bescheids eine Schlüssigkeitsprüfung durch Sachbearbeiter oder eine systemimmanente Plausibilitätsprüfung durch die verwendete Software konkret ausgeschlossen worden, weshalb z.B. eine Leerstelle in den Hinweisen bezüglich der zutreffenden Leistungsgruppe unter Nr. 3 des Musterschreibens durchaus auch denkbar wäre, noch ist, wie der vorliegende Rechtsstreit zeigt, ein konkreter Bescheid zuverlässig einer bestimmten, in der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten enthaltenen Verfügung-/Kassenanordnung zuzuordnen. Die angeblich dem Änderungsbescheid vom 14.04.2003 zu Grunde liegende Verfügung/Kassenanordnung (Bl. 57 der Verwaltungsakte der Beklagten) wurde als rechnerisch und sachlich richtig unter dem 09.04.2003 und als angeordnet zum 11.04.2003 erfasst. Das hiervon abweichende Datum des ergangenen Änderungsbescheids erlaubt daher keine eindeutige Zuordnung, weshalb ein anderweitiger Verwaltungsvorgang, der nicht aktenkundig gemacht wurde, nicht ausgeschlossen werden kann.

Die Nichterweislichkeit des Umstandes, dass die Rechtswidrigkeit aus dem Bescheid für den Kläger erkennbar war, geht zulasten der Beklagten, da sie das Vorliegen der Tatbestandsmerkmale des § 45 SGB X für den Erlass des angefochtenen belastenden Verwaltungsakts zu beweisen hat. Eine Beweisvereitelung, weil der Kläger den ihm bekannt gegebenen Bescheid vom 23.07.2002 nicht vorgelegt hat, hat die Beklagte nicht geltend gemacht. Der Senat hat dem Kläger die Auflage erteilt, die ihm bekannt gegebenen Bewilligungsbescheide vorzulegen. Der gerichtlichen Auflage ist der Kläger insoweit nachgekommen, als er den Bescheid vom 14.04.2003 vorgelegt hat. Eine vorsätzliche Beweisvereitelung hat der Senat nicht festzustellen vermocht. Eine unabhängig von einer Beweisvereitelung zu gewährende Beweiserleichterung für die Beklagte aufgrund eines Beweisnotstandes, der ausnahmsweise geringere, d.h. weniger strenge Beweisanforderungen angemessen erscheinen lässt, ist rechtlich nicht geboten. Es obliegt der Beklagten, ihr Verwaltungshandeln angemessen zu dokumentieren, insbesondere in einem durch Antragstellung eines potentiellen Leistungsberechtigten eröffneten Verwaltungsverfahren. Dies ist Ausfluss des dem Antragsteller zustehenden rechtlichen Gehörs und des hierauf gründenden Rechts auf Akteneinsicht nach § 25 SGB X. Die Geltendmachung oder Verteidigung rechtlicher Interessen, denen die Akteneinsicht nach § 25 Abs. 1 SGB X dient, läuft leer, wenn die maßgeblichen Verwaltungsvorgänge, die in einem laufenden Verwaltungsverfahren oder Rechtsmittelverfahren eines Antragstellers/Leistungsberechtigten - nur für dieses besteht das Recht auf Akteneinsicht (von Wulffen in von Wulffen a.a.O. § 25 Rn. 5) - angefallen sind, nicht sachgerecht dokumentiert sind. Zu den maßgebenden Verwaltungsvorgängen gehören im Antragsverfahren der das Verwaltungsverfahren eröffnende Antrag bzw. der Antragsvordruck (zur Bedeutung des Antragsvordrucks vgl. § 17 Abs. 1 Nr. 3 SGB I) und jedenfalls auch der das Verwaltungsverfahren abschließende Verwaltungsakt. Die Rechtsverteidigung des Klägers im vorliegenden Verfahren, der Bewilligungsbescheid vom 23.07.2002 sei noch nach dem alten Muster, in dem die Steuerklasse und die Leistungsgruppe nicht konkret benannt worden sei, ergangen, konnte sich nicht auf Erkenntnisse aus der gewährten Akteneinsicht stützen, da der maßgebliche verfahrensbeendende Bewilligungsbescheid nicht in der vom Gericht beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten in einer aussagekräftigen Form enthalten ist. Umgekehrt ist daher die Obliegenheitsverletzung der Beklagten nicht geeignet, einen aufgetretenen Beweisnotstand der Beklagten, d.h. eine von keinem Beteiligten des Rechtsstreits zu vertretende Beweislosigkeit, zu begründen.

Darüber hinaus lägen die Voraussetzungen für die Rücknahme der Leistungsbewilligung nach § 45 SGB X auch dann nicht vor, wenn zu Gunsten der Beklagten unterstellt wird, dass der Bewilligungsbescheid vom 23.07.2002 in der von der Beklagten behaupteten Form ergangen ist.

Die sich aus den Bewilligungsbescheiden ergebende fehlerhafte Leistungsgruppenzuordnung ändert an der Beurteilung, dass dem Kläger keine grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist, nichts. Nach dem von der Beklagten vorgelegten Muster eines Bescheides, der in der fraglichen Zeit von ihr verwendet und dem Kläger nach ihren Angaben seinerzeit zugegangen ist, war auf der Vorderseite die Bewilligung der Leistung ausgesprochen worden mit Angaben zu den Berechnungsgrundlagen, Auszahlungsbeträgen und Kranken-/Pflege-/Rentenversicherungsbeiträgen. Die Seite endete mit der Rechtsbehelfsbelehrung, die in der Regel die individuellen Ausführungen einer Bescheiderteilung abschließt. Die Überschrift der Rückseite lässt nach ihrer Formulierung in der Zusammenschau mit der konkreten Leistungsbewilligung auf der Vorderseite bereits nicht erkennen, dass hier auch noch relevante individuelle Ausführungen zu erwarten sind. Außerdem ist bei insgesamt 7 Hinweisen auf S. 2 und 3 und noch weiteren zu beachtenden Punkten auf S. 3 der fragliche Text: "Die Zuordnung zur Leistungsgruppe C erfolgte aufgrund der Lohnsteuerklasse III" neben den sonstigen allgemeinen Ausführungen nicht besonders auffallend. Dass die berücksichtigte Lohnsteuerklasse (und damit auch die Leistungsgruppe) in diesem Hinweis unrichtig war, hätte der Kläger bei der durch ihn erfolgten Prüfung der Bescheide (einschließlich der erwähnten Hinweise), die er unwiderlegbar nach einem allgemeinen Sorgfaltsmaßstab vorgenommen hatte, zwar erkennen können. Dass er den Fehler nicht erkannt hat, stellt jedoch noch keine Sorgfaltspflichtverletzung in besonders schwerem Maße dar. Aus den genannten Umständen ist dies noch als leichter Flüchtigkeitsfehler einzustufen. Der Senat ist der Auffassung, dass diese Sorgfaltspflichtverletzung des Klägers noch als Unaufmerksamkeit oder Versehen und nicht als grober Fehler anzusehen und ihm daher nicht der Vorwurf grober, sondern nur einfacher Fahrlässigkeit zu machen ist. Diese Beurteilung stimmt auch teilweise mit dem Vorbringen der Beklagten im Berufungsverfahren überein, die z.B. am 06.02.2008 ausgeführt hat, der Kläger hätte die Unrichtigkeit der Bewilligungen hinsichtlich der Leistungsgruppe bzw. Lohnsteuerklasse erkennen können. Eine Sorgfaltspflichtverletzung in besonders schwerem Maße wird damit nämlich nicht dargetan. Dass der Kläger den Fehler hätte erkennen können, reicht nicht aus. Vielmehr ist erforderlich, dass er ihn hätte erkennen müssen. Zudem legen aus objektiver Sicht der zweite und dritte Satz unter Nr. 3 der Hinweise des Musterbescheides nahe, dass selbst dann, wenn die unrichtige Lohnsteuerklasseangabe in Satz 1 des Hinweises Nr. 3 bemerkt worden wäre, dem keine Bedeutung beigemessen worden wäre. Die Sätze 2 und 3 des Hinweises Nr. 3 lauten: "Sollte auf Ihrer Lohnsteuerkarte eine andere Lohnsteuerklasse eingetragen sein, so konnte ein Lohnsteuerklassenwechsel nicht berücksichtigt werden. Über die Gründe hierzu erhalten Sie einen gesonderten Bescheid." Daraus könnte ein unbefangener Leser den Eindruck gewinnen, die gegenüber dem letzten Bezug von Alg geänderte Lohnsteuerklasse habe aus rechtlichen oder rechtstechnischen Gründen noch nicht berücksichtigt werden können.

Soweit die Beklagte geltend macht, der vorliegende Fall unterscheide sich vom Sachverhalt im Rechtsstreit L 8 AL 2815/00, in dem sie im Hinblick auf das bereits genannte Urteil des BSG vom 08.02.2001 (B 11 AL 21/00 R) ein Anerkenntnis abgegeben hat, zwingt dies zu keiner anderen Beurteilung des Senats. Auch wenn die Zuordnung der Leistungsgruppe in den vorliegenden Bewilligungsbescheiden nicht nur schematisch wie in dem vom BSG entschiedenen Fall dargestellt worden ist, sondern ganz konkret die Zuordnung zur Leistungsgruppe C aufgrund der Lohnsteuerklasse III erwähnt worden sein sollte und entsprechend dem genannten Urteil des BSG eine solche Bescheidbegründung selbst einen mit einer bestimmten Rechtsmaterie nicht vertrauten Antragsteller darauf aufmerksam mache, dass der Bescheid wegen einer unzutreffenden Steuerklasse fehlerhaft sei, ändert dies an der Beurteilung, dass dem Kläger keine grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist, nichts. Abgesehen davon, dass vorliegend eine solche Bescheidbegründung nicht feststellbar ist, wäre vorliegend vor dem Hintergrund, dass gerade eine individuelle Bescheidbegründung nach der Rechtsbehelfsbelehrung auf der Rückseite des Formulars nicht zu erwarten und auch nicht sofort erkennbar war, wie oben ausgeführt, im speziellen Fall nicht grob fahrlässig. Hier liegt die Besonderheit vor, dass einem allgemeinen Sorgfaltsmaßstab entsprechend sogar eine Prüfung vorgenommen wurde, aber trotzdem ein Fehler, der gerade durch eigenes Tun des Antragstellers, der die hierfür erforderlichen Unterlagen aus seiner Sicht vollumfänglich vorgelegt hatte und daher nicht zu erwarten war, übersehen worden ist. Dass dieser Fehler dem Kläger hätte zwingend auffallen müssen, nimmt der Senat gerade nicht an.

Höhere - möglicherweise zur Annahme grober Fahrlässigkeit des Klägers führende - Anforderungen an seine Sorgfaltspflicht im Hinblick auf seinen bisherigen beruflichen Werdegang (gelernter Betriebswirt, zuletzt Buchhalter) verneint der Senat, weil es im konkreten Fall allein darum geht, ob die - im Übrigen auch nur unterstellte - Fehlerhaftigkeit des maßgeblichen Bescheides wegen Verletzung der Sorgfaltspflicht in besonders schwerem Maße vom Kläger nicht erkannt worden ist. Der Bescheid und die Bescheidbegründung waren unrichtig; Subsumtionsprobleme stellten sich bei der unrichtig angegebenen Lohnsteuerklasse nicht. Deshalb ist hier weniger die Urteils- und Kritikfähigkeit sowie das Einsichtsvermögen des Klägers, sondern vor allem der Bescheid selbst, sein Aufbau, die Darstellung der einzelnen Regelungen und Hinweise, die Größe der Schrift, die Deutlichkeit und eventuelle Hervorhebungen von entscheidender Bedeutung. Der Umstand, dass der Kläger aufgrund der von ihm ausgeübten Tätigkeiten und auch aufgrund des früheren Bezuges von Alg mit dieser Materie vertrauter ist als andere Versicherte, hat nicht zur Folge, dass ein "Überlesen" eines Fehlers oder eine unaufmerksame Lektüre ausgeschlossen ist. Sorgfalt bei der Durchsicht der in den Bescheiden getroffenen Feststellungen und enthaltenen Hinweise ist nicht abhängig von der individuellen beruflichen Qualifikation.

Darauf, ob der Kläger bei Erhalt der Bewilligungsbescheide im Juli 2002 und Januar 2003 aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage war, den Inhalt der jeweiligen Bescheide zur Kenntnis zu nehmen, kommt es daher nicht mehr an.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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