L 13 SB 207/07

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 46 SB 2065/06
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 207/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 14. Juni 2007 geändert. Der Beklagte wird unter Änderung des Bescheides vom 24. Mai 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. August 2006 verpflichtet, bei dem Kläger ab Juni 2008 einen Grad der Behinderung von 60 festzustellen. Im Übrigen wird die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Berufungs-verfahrens zur Hälfte zu erstatten. Eine weitere Kostenerstattung findet nicht statt. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Höhe des bei dem Kläger festzustellenden Grades der Behin-derung (GdB).

Der Beklagte hatte bei dem 1958 geborenen Kläger, der seit 1996 Erwerbsunfähigkeitsrentner ist, mit Bescheid vom 15. Oktober 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. November 2001 einen Gesamt-GdB von 50 festgesetzt, dem er folgende (verwaltungsintern mit den aus den Klammerzusätzen ersichtlichen Einzel-GdB bewertete) Funktionsbeeinträchti-gungen zugrund legte:

a) seelisches Leiden (40), b) Hirndurchblutungsstörungen, Fettstoffwechselstörung, Gleichgewichtsstörungen (20), c) Funktionsminderung der Wirbelsäule mit Nervenreizerscheinungen (20), d) funktionelle Darmbeschwerden, operative Gallenblasenentfernung (10).

Den Verschlimmerungsantrag des Klägers von Januar 2006 lehnte er nach versorgungsärztli-cher Stellungnahme zu den ihm vorliegenden medizinischen Unterlagen durch Bescheid vom 24. Mai 2006 mit der Begründung ab, dass keine wesentliche Änderung in den gesundheitli-chen Verhältnissen eingetreten sei. Zwar seien als weitere Funktionsbeeinträchtigungen

chronisches Brustkorbschmerzsyndrom, postzostrische Neuralgie des linken Beines (mit einem Einzel-GdB von 20)

hinzugekommen, die jedoch den Gesamt-GdB nicht erhöhten. Hiergegen legte der Kläger Wi-derspruch ein, den der Beklagte auf der Grundlage des Gutachtens des Internisten Dr. G vom 26. Juli 2006 mit Widerspruchsbescheid vom 10. August 2006 zurückwies.

Mit seiner Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat der Kläger die Zuerkennung eines höheren GdB als 50 begehrt. Das Sozialgericht hat mit Gerichtsbescheid vom 14. Juni 2007 die Klage abgewiesen: Wie sich aus dem Gutachten des Dr. G ergebe, liege bei dem Kläger lediglich ein Gesamt-GdB von 50 vor.

Mit seiner Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Auf seinen Antrag ist nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) der Arzt PD Dr. S gehört worden, der in dem unter Mitwir-kung des Chirurgen Dr. K erstellten Gutachten vom 28. Juli 2008 einen Gesamt-GdB von 60 vorgeschlagen hat. Dem hat er – neben einer Vielzahl von mit jeweils einem Einzel-GdB von 10 bewerteten Funktionsbeeinträchtigungen – zusammenfassend folgende Behinderungen zugrunde gelegt:

a) seelisches Leiden (40), b) Hirndurchblutungs-, Fettstoffwechsel- und Gleichgewichtsstörung (30), c) Funktionsbeeinträchtigung der Wirbelsäule und des Brustkorbes (20).

Die Störung des Gleichgewichtssinnes bewirke eine Erhöhung des Einzel-GdB auf 30, da sie bereits mittelgradig sei. Es bestehe schon bei alltäglichen Belastungen eine stärkere Unsicher-heit mit Schwindelerscheinungen. Abweichungen bei den Geh- und Stehversuchen seien be-reits auf niedriger Belastungsstufe aufgetreten, heftiger Schwindel mit gelegentlicher Übelkeit bei höheren und außergewöhnlichen Belastungen. Der Romberg- und der Unterberger-Test mit geschlossenen Augen seien positiv gewesen. Es habe ein Schwindel mit Fallneigung bestan-den. Der Seiltänzergang sei mit geschlossenen Augen wegen der Schwindelsymptomatik eben-falls nur eingeschränkt möglich gewesen. Mit offenen Augen seien die genannten Tests nega-tiv. Beim Fuß-vor-Fuß-Test sei schon mit offenen Augen eine leichte Unsicherheit zu bemer-ken. Mit geschlossenen Augen sei dieser Test wegen der starken Fallneigung nicht durchführ-bar gewesen. Der Kläger habe angegeben, dass der Schwindel bewegungsabhängig, besonders nach schnellen Lagewechseln und nach langem Stehen auftrete; das Autofahren sei nur auf kurzen Strecken uneingeschränkt möglich; auch die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel sei eingeschränkt.

Der Kläger schließt sich der Bewertung durch den Sachverständigen an. Ergänzend führt er aus, dass in dem Gutachten die dauerhafte Entzündung der ersten und vierten Rippe, die Schmerzen im Bauchbereich seit den Operationen 1999 und 2005 sowie die Schmerzen nach der Gürtelrose im linken Bein nicht berücksichtigt worden seien.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 14. Juni 2007 aufzuheben sowie den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 24. Mai 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. August 2006 zu verpflichten, bei ihm ab Januar 2006 einen Grad der Behinderung von 60 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend. Der Bewertung durch den Sachver-ständigen PD Dr. S könne er sich nicht anschließen. Die Angabe im Gutachten, dass der Ro-berg- und Unterberger-Test mit geschlossenen Augen positiv gewesen seien, sei nicht verwert-bar, da hieraus nicht hervorgehe, ob die Ergebnisse normal gewesen seien. Es sei zu rügen, dass keine systematische Schwindeldiagnostik durchgeführt worden sei. Die Ursache und die tägliche Belastung durch den Schwindel seien völlig ungeklärt geblieben.

Den Vorschlag des Beklagten, eine Begutachtung mit apparativer Schwindeldiagnostik in einer externen HNO-Praxis durchführen zu lassen, hat der Kläger mit der Begründung abgelehnt, dass ihn die Untersuchungen zum Schwindel zu sehr belasteten.

Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge des Beklagten vorgelegen. Diese waren Gegen-stand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstan-des wird Bezug genommen auf die Schriftsätze, das Protokoll und die Verwaltungsvorgänge der Beklagten.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist zum Teil begründet.

Der Kläger hat einen Anspruch auf Festsetzung eines GdB von 60 ab Juni 2006.

Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) sind die Auswir-kungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abge-stuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz und der vom Bundesmi-nisterium für Gesundheit und Soziale Sicherung herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztli-che Gutachtertätigkeit (AHP) zu bewerten, die als antizipierte Sachverständigengutachten gel-ten. Heranzuziehen sind entsprechend dem streitgegenständlichen Zeitraum die Fassungen der AHP von 2005 und 2008. Seit dem 1. Januar 2009 sind die in der Anlage zur Versorgungsme-dizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Ver-sorgungsmedizinischen Grundsätze" in Form einer Rechtsverordnung in Kraft, welche die AHP – ohne dass hinsichtlich der medizinischen Bewertung eine grundsätzliche Änderung eingetreten wäre – abgelöst haben.

Zwischen den Beteiligten besteht – zu Recht – kein Streit darüber, dass das seelische Leiden des Klägers mit einem Einzel-GdB von 40 sowie die Funktionsminderung der Wirbelsäule mit Nervenreizerscheinungen und das chronische Brustkorbschmerzsyndrom einschließlich der postzostrische Neuralgie des linken Beines jeweils mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten sind.

Entgegen der Ansicht des Beklagten ist für die Hirndurchblutungs-, Fettstoffwechsel- und Gleichgewichtsstörung ein Einzel-GdB von 30 anzusetzen.

Nach Nr. 26.5 (S. 60) der AHP 2008 bzw. nach Teil B Nr. 5.3 der Anlage zur VersMedV sind folgende GdB vorgesehen für

Gleichgewichtsstörungen mit leichten Folgen: &61485; leichte Unsicherheit, geringe Schwindelerscheinungen wie Schwanken, Stolpern, Ausfallsschritte bei alltäglichen Belastungen, &61485; stärkere Unsicherheit und Schwindelerscheinungen bei höheren Belastungen, &61485; leichte Abweichungen bei den Geh- und Stehversuchen erst auf höherer Belastungsstufe 20

Gleichgewichtsstörungen mit mittelgradigen Folgen: &61485; stärkere Unsicherheit, Schwindelerscheinungen mit Fallneigung bereits bei alltäglichen Belastungen, &61485; heftiger Schwindel (mit vegetativen Erscheinungen, gelegentlich Übelkeit, Erbrechen) bei höheren und außergewöhnlichen Belastungen &61485; deutliche Abweichungen bei den Geh- und Stehversuchen bereits auf niedriger Belastungsstufe 30 – 40

Der Einschätzung des Sachverständigen PD Dr. S, wonach die bei dem Kläger vorliegende Störung des Gleichgewichtssinnes nicht nur leichte, sondern mittelgradige Folgen zeitigt, wird gefolgt. Der Gutachter hat berichtet, dass bereits bei alltäglichen Belastungen eine stärkere Unsicherheit mit Schwindelerscheinungen besteht. Entsprechend den genannten Vorgaben tritt bei dem Kläger bei höheren und außergewöhnlichen Belastungen heftiger Schwindel mit gele-gentlicher Übelkeit auf. Abweichungen bei den Geh- und Stehversuchen sind im Rahmen der gutachterlichen Untersuchung bereits auf niedriger Belastungsstufe aufgetreten. Diese Feststel-lungen des Sachverständigen sind auch nachvollziehbar: Der Romberg- und der Unterberger-Test mit geschlossenen Augen sind positiv gewesen. Hiermit ist unzweifelhaft gemeint, dass ein Schwindel mit Fallneigung bestanden hat. Den versorgungsärztlicherseits vorgetragenen Bedenken an der Verwertbarkeit der Tests wird deshalb nicht gefolgt. Auch bei dem Seiltän-zergang mit geschlossenen Augen ist ein Schwindel aufgetreten. Der Fuß-vor-Fuß-Test mit geschlossenen Augen ist wegen der starken Fallneigung nicht durchführbar gewesen. Selbst bei dem mit offenen Augen durchgeführten Versuch lag eine leichte Unsicherheit des Klägers vor. Hinweise auf eine Simulation des Klägers hat der Sachverständige nicht feststellen können. Dem entspricht es, dass auch im anderen Zusammenhang, insbesondere bei der Untersuchung des Kopfes und der Wirbelsäule, eine Schwindelsymptomatik aufgetreten ist. Da die Funkti-onseinschränkungen und die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft (vgl. § 69 Abs. 1 SGB IX) hinreichend feststehen, ist eine – wie der Beklagte fordert – umfas-sende Diagnostik mit Ermittlung der möglichen Ursachen des Schwindels für die Feststellung des GdB zweitrangig. Dies gilt umso mehr, als der Kläger eine entsprechende Untersuchung ablehnt, da er fürchtet, sie könne ihn zu sehr belasten, was im Hinblick auf die bei Belastungen auftretende Übelkeit nicht von der Hand zu weisen ist.

Allerdings kommt die Erhöhung des Einzel-GdB für die Hirndurchblutungs-, Fettstoffwechsel- und Gleichgewichtsstörung erst ab Juni 2008, dem Zeitpunkt der Untersuchung durch den Sachverständigen, in Betracht. Denn erst auf der Grundlage der Feststellungen des Gutachters liegen hinreichende Tatsachen dafür vor, die Gleichgewichtsstörungen als mittelschwer zu qua-lifizieren. Zwar hat der Sachverständige ausgeführt, dass keine wesentliche Änderung des Ge-sundheitszustandes gegenüber August 2006 eingetreten sei. Diese Einschätzung ist nach Auf-fassung des Senats jedoch nicht hinreichend belegt. Gegenüber dem vom Beklagten im Wider-spruchsverfahren beauftragten Gutachter Dr. G hat der Kläger – auch auf Rückfrage – eine Beeinträchtigung durch den Schwindel nicht beklagt.

Liegen – wie hier – mehrere Beeinträchtigungen am Leben in der Gesellschaft vor, ist der GdB gemäß § 69 Abs. 3 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamt-heit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Nach Nr. 19 Abs. 3 der AHP bzw. Teil A Nr. 3c der Anlage zur VersMedV ist bei der Beurteilung des Ge-samt-GdB von der Funktionsstörung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird. Der höchste Einzel-GdB von 40 für das seelische Leiden ist mit Rücksicht auf die ab Juni 2008 mit einem Einzel-GdB von 30 zu be-wertende Hirndurchblutungs-, Fettstoffwechsel- und Gleichgewichtsstörung von diesem Zeit-punkt an auf 50 zu erhöhen. Zwar überschneidet sich bei beiden Behinderungen die Sympto-matik; andererseits sind die Auswirkungen dieser Funktionsbeeinträchtigungen voneinander unabhängig und führen in verschiedenen Bereichen im Ablauf des täglichen Lebens zu Beein-trächtigungen.

Die Funktionsminderung der Wirbelsäule mit Nervenreizerscheinungen und das chronische Brustkorbschmerzsyndrom einschließlich der postzostrische Neuralgie des linken Beines, die jeweils mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten sind, rechtfertigen es schließlich, bei dem Kläger einen Gesamt-GdB von 60 festzusetzen.

Eine weitere Heraufsetzung des GdB ist nicht angezeigt. Nach Nr. 19 Abs. 4 der AHP bzw. Teil A Nr. 3d der Anlage zu § 2 VersMedV führen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeein-trächtigung.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
Rechtskraft
Aus
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