L 10 U 5436/09

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 10 U 2376/07
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 U 5436/09
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 16.09.2009 und der Bescheid der Beklagten vom 15.02.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.06.2007 aufgehoben.

Die Beklagte hat der Klägerin ihre außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin wendet sich gegen die Herabsetzung der ihr von der Beklagten gewährten Verletztenrente.

Die am 1955 geborene Klägerin erlitt bei einem Unfall auf dem Weg von ihrer Wohnung zur Arbeitsstätte am 16.11.1970 eine Hüftgelenksverrenkung rechts mit Pfannenrandbruch. Wegen der Unfallfolgen (Muskelminderung am rechten Unterschenkel und Bewegungseinschränkung im Hüftgelenk) gewährte die Beklagte der Klägerin zunächst eine Gesamtvergütung für die Zeit vom 25.02.1971 bis 31.12.1971 (Bescheid vom 12.07.1971) und mit Bescheid vom 14.08.1980 bewilligte sie der Klägerin ab 01.01.1978 nach einer Verschlechterung der Unfallfolgen eine Verletztenrente nach einer MdE um 20 v.H.; als Unfallfolgen stellte sie eine Bewegungseinschränkung im rechten Hüftgelenk mit posttraumatischer Arthrose, Verschmächtigung und Herabsetzung der Spannkraft der rechten Oberschenkelmuskulatur und eine verminderte Belastbarkeit des rechten Beines fest. Die hiergegen zum Sozialgericht Mannheim erhobene Klage ( S 4 U 1971/80) wies das Sozialgericht u.a. nach Einholung eines Gutachtens des Prof. Dr. R. , Orthopädische Universitätsklinik H. (üblicherweise werde die vollständige Versteifung eines Hüftgelenks mit einer MdE um 30 v.H. bewertet, demgegenüber sei die Klägerin sehr viel besser dran, MdE 20 v.H.) mit Urteil vom 02.09.1981 ab.

Mit Bescheid vom 27.06.1994 erhöhte die Beklagte die der Rente zu Grunde liegende MdE auf 30 v.H. ab 01.01.1994 mit der Begründung, die Beweglichkeit im rechten Hüftgelenk habe weiter abgenommen. Dem lag das Gutachten des Dr. S. vom Juni 1994 zu Grunde. In diesem Gutachten beschrieb Dr. S. u.a. einen leichten Druck- und Klopfschmerz über dem rechten Rollhöcker und einen Leistendruckschmerz, eine geringe Muskelminderung am rechten Oberschenkel und eine Tonusreduktion der Gesäßmuskulatur. Zudem bestand - so Dr. S. - eine in allen Ebenen eingeschränkte Bewegung des rechten Hüftgelenks mit Beugekontraktur und Außendrehkontraktur [Bewegungsmaße des Hüftgelenks: Streckung/Beugung rechts 0-15-105°, links 10-0-120°; Abspreizen/Anführen rechts 20-0-10°, links 40-0-20°; Drehung auswärts/einwärts bei gebeugtem Hüftgelenk rechts 20-0-0 (5)°, links 40-0-35°]. Der Einbeinstand war - so Dr. S. - unsicher, das monopedale Hüpfen wurde nicht vorgeführt, der Zehen- und Fersenstand war möglich. Als Unfallfolgen gab Dr. S. eine Muskelminderung am rechten Oberschenkel, eine konzentrische Bewegungseinschränkung im rechten Hüftgelenk mit teilweiser Kontraktur und röntgenologische Veränderungen an.

Wegen zunehmender Beschwerden wurde am 13.02.2006 eine Oberflächenersatzprothese am rechten Hüftgelenk implantiert. In der Folge holte die Beklagte - auch im Hinblick auf von der Klägerin als Unfallfolgen geltend gemachte Wirbelsäulenbeschwerden - u.a. ein Gutachten auf Grund einer Untersuchung der Klägerin vom Dezember 2006 von Prof. Dr. Su. , Direktor der Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie, S. Kliniken H. , ein. Die Beweglichkeit des rechten Hüftgelenks war im Seitenvergleich für Beugung, Abspreizen sowie Rotationsbewegungen bei gebeugtem und gestrecktem Hüftgelenk einschränkt (Bewegungsmaße des Hüftgelenks: Streckung/Beugung rechts 0-0-100°, links 0-10-120°; Abspreizen/Anführen rechts 30-0-20°, links 40-0-20°; Drehung auswärts/einwärts bei gebeugtem Hüftgelenk rechts 20-0-10°, links 40-0-20°; Drehung auswärts/einwärts bei gestrecktem Hüftgelenk rechts 20-0-20°, links 40-0-30°). Der Fersenstand rechts, der Hackenstand rechts sowie das Einnehmen der Hocke rechts war - so Prof. Dr. Su. - auf Grund von Schmerzen unsicher, das Gehen auf ebener Strecke hinkfrei. Die MdE sei seit Eintritt der Arbeitsfähigkeit am 07.08.2006 mit 20 v.H. zu bewerten. Die Wirbelsäulenbeschwerden und Kniegelenksbeschwerden seien degenerativer Natur.

Nach Anhörung der Klägerin setzte die Beklagte mit Bescheid vom 15.02.2007 die Verletztenrente der Klägerin ab 01.03.2007 unter Verringerung der MdE auf 20 v.H. herab. Zur Begründung führte die Beklagte aus, die dem Bescheid vom 27.06.1994 zu Grunde liegenden Verhältnisse hätten sich wesentlich geändert. Die Beweglichkeit des rechten Hüftgelenks sowie die Belastbarkeit des rechten Beines hätten sich verbessert. Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 13.06.2007 zurück.

Das hiergegen am 09.07.2007 angerufene Sozialgericht Mannheim hat u.a. ein Gutachten auf Antrag der Klägerin nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) von dem Orthopäden PD Dr. G. (kleinschrittiges, deutlich rechtsbetontes, verlangsamtes Gangbild, Beweglichkeit im rechten Hüftgelenk für Streckung/Beugung 0-0-92°, für das Anspreizen/Abspreizen 40-0-15° und für die Drehung nach außen/innen 10-0-10°; Teil-MdE für das Hüftgelenk nach Prothesenimplantation: 20 v.H., insgesamt unter Berücksichtigung der unfallbedingten Wirbelsäulenbeschwerden 40 v.H.) und von Amts wegen von dem Orthopäden Dr. P. (Bewegungsmaße der Hüfte für die Streckung/Beugung rechts 0-0-100°, links 10-0-130°, für das Abspreizen/Anführen rechts 30-0-30°, links 40-0-30° und für die Drehung auswärts/einwärts bei gebeugtem Hüftgelenk rechts 30-0-30°, links 40-0-50°; MdE für die Hüfte 20 v.H., die Wirbelsäulenbeschwerden seien unfallunabhängig) eingeholt.

Mit Urteil vom 16.09.2009 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, die MdE sei nach dem nachvollziehbaren Gutachten des Dr. P. jedenfalls seit 01.03.2007 nur noch mit 20 v.H. zu bewerten.

Gegen das am 26.10.2009 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 23.11.2009 Berufung eingelegt und ergänzend geltend gemacht, PD Dr. G. habe bei einer Untersuchung im Oktober 2009 festgestellt, dass der Knochen unterhalb des Hüftgelenkkopfes abgestorben sei und deswegen ihre kaum zu ertragenden Schmerzen entstanden seien. Dies rechtfertige auf jeden Fall eine MdE um 30 v.H.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 16.09.2009 und den Bescheid der Beklagten vom 15.02.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.06.2007 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie meint, die MdE sei mit 20 v.H. einzuschätzen, eine Änderung gegenüber dem Bescheid vom 27.06.1994 sei eingetreten, was anhand der Messbögen belegt sei. Diese sei auch wesentlich, da sie mehr als 5 v.H. betrage. Die MdE im Bescheid vom 27.06.1994 sei ausgehend von den damals geltenden Bewertungsmaßstäben nicht zu hoch festgestellt worden. Außerdem müsse das Gericht, so Meibom (juris-PK SGB VII, § 73 Rdnr. 44), von der zuletzt bindend gewordenen Feststellung des Grades der MdE ausgehen, auch wenn es diese für falsch halte.

Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Beteiligtenvorbringens wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz und die vorgelegten Verwaltungsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß den §§ 143, 144, 151 SGG zulässige Berufung, über die der Senat auf Grund des Einverständnisses der Beteiligten nach § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist begründet.

Streitgegenständlich ist vorliegend allein, ob die Beklagte mit dem Bescheid vom 15.02.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.06.2007 berechtigt war, die mit Bescheid vom 27.06.1994 nach einer MdE um 30 v.H. gewährte Rente auf eine Rente nach einer MdE um 20 v.H. herabzusetzen. Nicht streitgegenständlich ist hingegen, ob auf Grund der von der Klägerin im Berufungsverfahren vorgetragenen Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes wegen des Absterbens des Knochens unter dem Hüftgelenkskopf die MdE zwischenzeitlich noch höher als mit 30 v.H. zu bewerten ist. Insoweit fehlt es sowohl an einer gerichtlich überprüfbaren Entscheidung der Beklagten als auch an einer durch den Senat überprüfbaren Entscheidung der ersten Instanz. Dementsprechend hat die Klägerin auch zutreffend eine reine Anfechtungsklage erhoben.

Der Bescheid vom 15.02.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.06.2007 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Beklagte durfte den Bescheid vom 27.06.1994 nicht abändern, weil gegenüber diesem Bescheid entgegen der Auffassung der Beklagten keine wesentliche Änderung eingetreten ist.

Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Bei der Feststellung der MdE in der gesetzlichen Unfallversicherung ist eine solche wesentliche Änderung nur gegeben, wenn die Änderung mehr als 5 v.H. beträgt und bei Renten auf unbestimmte Zeit - wie vorliegend - länger als drei Monate andauert (§ 73 Abs. 3 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch - SGB VII -). Diese letztgenannte Regelung findet gemäß § 214 Abs. 3 Satz 2 SGB VII auch auf Versicherungsfälle Anwendung, die - wie derjenige der Klägerin - vor Inkrafttreten des SGB VII am 01.01.1997 eingetreten sind.

Eine derartige wesentliche Änderung liegt nicht vor.

Die Verletztenrente der Klägerin wurde letztmals durch Bescheid vom 27.06.1994 mit Wirkung zum 01.01.1994 nach einer MdE um 30 v.H. bestandskräftig und damit für die Beteiligten (§ 77 SGG) und deshalb auch den Senat verbindlich festgesetzt. Hiervon bzw. von dem dieser Festsetzung zu Grunde liegenden Gutachten des Dr. S. vom 06.06.1994 (genau: der dort niedergelegten Befunde) ist für die Frage einer von der Beklagten behaupteten wesentlichen Verbesserung des Gesundheitszustandes auszugehen. Nicht maßgebend ist deshalb, ob durch die Implantation der Endoprothese am rechten Hüftgelenk eine Verbesserung des Gesundheitszustandes gegenüber den unmittelbar vor der Operation im Jahr 2006 vorliegenden Befunden eintrat. Denn diese Befunde lagen dem Bescheid vom 27.06.1994 nicht zu Grunde. Maßgebend ist vielmehr allein, ob es gegenüber den dem Bescheid vom 27.06.1994 zu Grunde liegenden Unfallfolgen und deren Funktionseinschränkungen zu einer Besserung kam, die zu einer Änderung der MdE um mehr als 5 v.H. führte.

Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperli¬chen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens (so jetzt ausdrücklich § 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII, mit dessen Inkrafttreten die früheren Kriterien zur Bemessung der MdE nach der RVO übernommen worden sind, vgl. BSG, Urteil vom 18.03.2003, B 2 U 31/02 R). Die Bemessung der MdE hängt also von zwei Faktoren ab (vgl. BSG, Urteil vom 22.06.2004, B 2 U 14/03 R in SozR 4-2700 § 56 Nr. 1): Den verbliebenen Beeinträchtigungen des körperlichen und geistigen Leistungsvermö¬gens und dem Umfang der dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten. Entscheidend ist nicht der Gesundheitsschaden als solcher, sondern vielmehr der Funktionsverlust un¬ter medizinischen, juristischen, sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Ärztliche Meinungsäuße¬rungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit aus¬wirken, haben keine verbindliche Wirkung, sie sind aber eine wichtige und vielfach unent¬behrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie sich dar¬auf beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletz¬ten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind. Erst aus der Anwendung medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die Auswir¬kungen bestimmter körperlicher und seelischer Beeinträchtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens und unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalles kann die Höhe der MdE im jeweiligen Einzelfall geschätzt werden. Diese zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie dem versicherungsrechtli¬chen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind bei der Beurteilung der MdE zu beachten; sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und unterliegen einem ständigen Wandel.

Zwar ist die MdE nach übereinstimmender Einschätzung aller mit der Begutachtung der Klägerin betrauten Ärzte (Prof. Dr. Su. , Dr. P. , selbst PD Dr. G. für die Unfallfolgen an der rechten Hüfte) nach der Implantation der Prothese mit 20 v.H. zu bewerten. Dem folgt der Senat in Übereinstimmung mit der Beklagten. Nach den übereinstimmenden Bewertungsmaßstäben der unfallmedizinischen Literatur (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Auflage 2003, S. 656 ff.; identisch die 8. Auflage 2010, S. 581 ff.; Mehrhoff/Meindl/Muhr, Unfallbegutachtung, 11. Auflage 2005, S. 168; identisch die 12. Auflage 2010, S. 164), die der Senat seiner Beurteilung zu Grunde legt und wovon auch die Beklagte ausgeht, ist bei einer Endoprothese ohne wesentliche Funktionseinschränkung eine MdE um 20 v.H. anzunehmen (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., 7.Auflage S. 661 bzw. 8. Auflage S. 586; Mehrhoff/Meindl/Muhr, a.a.O.).

Soweit die Beklagte meint, allein der Umstand, dass im Jahre 1994 eine MdE um 30 v.H. angenommen wurde, seit 01.03.2007 aber eine MdE um 20 v.H. anzunehmen ist, belege eine wesentliche Änderung, trifft dies nicht zu. Zwar wäre eine solche Änderung nach § 73 Abs. 3 SGB VII wesentlich, weil sie mehr als 5 v.H. betrüge. Dieser Umstand beantwortet jedoch nicht die zuallererst zu stellende Frage, ob überhaupt - wie § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X verlangt - eine Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen vorliegt. Die unterschiedliche Bewertung der MdE für die in Rede stehenden Zeiträume (ab 1994: 30 v.H., ab März 2007: 20 v.H.) stellt als solche keine Änderung der Verhältnisse dar. Denn die Bewertung der MdE erfolgt - wie dargelegt - auf der Grundlage der funktionellen Einschränkungen. Eine unterschiedliche Bewertung der MdE für verschiede Zeitpunkte deutet zwar - dieselben Maßstäbe und deren zutreffende Anwendung unterstellt - auf eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse, nämlich der funktionellen Einschränkungen hin (BSG, Urteil vom 10.02.1993, 9/9a RVs 5/91 in SozR 3-1300 § 48 Nr. 25). Ob dies auch tatsächlich der Fall ist, lässt sich aber allein aus den dokumentierten funktionellen Einschränkungen, die der jeweiligen MdE-Beurteilung zu Grunde liegen, entnehmen. Nur so ist eine Abgrenzung von § 48 SGB X, der die rechtmäßige Leistungsgewährung bei nachträglicher Änderung betrifft, zu jenen Vorschriften möglich, die den Fall der Korrektur einer rechtswidrig zu hohen (Anwendungsbereich des § 45 SGB X) bzw. zu niedrigen (Anwendungsbereich des § 44 SGB X) MdE-Beurteilung und nachfolgend entsprechender Rentengewährung regeln. Zwar ist im Zweifel davon auszugehen, dass die einem bindend gewordenen Verwaltungsakt zu Grunde liegende Bemessung der Funktionsbeeinträchtigungen zutreffend war (BSG, a.a.O.). Dies gilt aber - entgegen der Auffassung der Beklagten und der von ihr zitierten Kommentierung von Meibom (Juris-PK, § 73 SGB VII, Rdnr. 44) - dann nicht, wenn die Richtigkeit des früheren Bescheides widerlegt ist (BSG, a.a.O.). So aber liegt der Fall der Klägerin.

Abzustellen ist für die Beurteilung insofern - wie die Beklagte zu Recht vorträgt - auf die zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides vom 27.06.1994 geltenden Bewertungsmaßstäbe (BSG, Urteil vom 19.12.2000, B 2 U 49/99 R) und die damals vorhandenen Funktionseinschränkungen. Der Bewertung der MdE im Bescheid vom 27.06.1994 lagen als Unfallfolgen nach dem Gutachten des Dr. S. vom Juni 1994 eine Muskelminderung am rechten Oberschenkel, eine konzentrische Bewegungseinschränkung im rechten Hüftgelenk mit teilweiser Kontraktur und röntgenologische Veränderungen zu Grunde. Unter Berücksichtigung der zum Zeitpunkt der Untersuchung durch Dr. S. im Juni 1994 geltenden Bewertungsmaßstäbe war die Einschätzung der MdE mit 30 v.H. durch Dr. S. für diese, von ihm dokumentierten Funktionseinschränkungen zu hoch bemessen. Diese Bewertungsmaßstäbe sahen eine MdE um 30 v.H. erst bei einer Versteifung eines Hüftgelenks in günstiger Stellung vor (vgl. Izbiki/Neumann/Spor, Unfallbegutachtung, 9. Auflage, 1992, Seite 133; Mollowitz, der Unfallmann, 11. Auflage, 1993, Seite 346). Hierauf wies im Übrigen bereits Prof. Dr. R. in seinem in dem Klageverfahren S 4 U 1971/80 vor dem Sozialgericht Mannheim erstatteten Gutachten ("üblicherweise wird die vollständige Versteifung eines Hüftgelenks mit einer MdE von 30 v.H. bewertet") hin. Eine Versteifung des rechten Hüftgelenks bzw. eine einer solchen entsprechende Bewegungseinschränkung bzw. Funktionsstörung lag nach den von Dr. S. in seinem Gutachten vom Juni 1994 wiedergegebenen Bewegungsmaßen (Streckung/Beugung rechts 0-15-105°, links 10-0-120°; Abspreizen/Anführen rechts 20-0-10°, links 40-0-20°; Drehung auswärts/einwärts bei gebeugtem Hüftgelenk rechts 20-0-0 (5)°, links 40-0-35°, also u.a. mit einer Beugefähigkeit von knapp über 100°) zum damaligen Zeitpunkt bei Weitem nicht vor, so dass auf Grund der von Dr. S. dokumentierten Befunde eine MdE um 30 v.H. nicht gerechtfertigt war.

Die von Dr. S. damals erhobenen Befunde rechtfertigten auch keine Gleichstellung mit der Situation eines versteiften Hüftgelenkes. In seinem Gutachten beschrieb Dr. S. u.a. einen leichten Druck- und Klopfschmerz über dem rechten Rollhöcker und einen Leistendruckschmerz, eine geringe Muskelminderung am rechten Oberschenkel und eine Tonusreduktion der Gesäßmuskulatur sowie eine in allen Ebenen eingeschränkte Bewegung des rechten Hüftgelenks mit den oben dargelegten Bewegungsmaßen. Damit lag insbesondere keine schmerzbedingte Aufhebung der Beweglichkeit des rechten Hüftgelenkes vor. Vielmehr war der Klägerin - so Dr. S. im Gutachten - der Zehen- und Fersengang möglich, lediglich das monopedale Hüpfen konnte die Klägerin nicht vorführen.

Aus welchen Gründen Dr. S. in seinem Gutachten vom Juni 1994 eine MdE von 30 v.H. für angemessen hielt, ist diesem Gutachten nicht zu entnehmen. Eine Begründung für seine Beurteilung gab Dr. S. nicht. Es findet sich lediglich die Angabe, es sei eine Verschlimmerung der Beweglichkeit in allen Richtungen mit Kontraktur eingetreten. Dies genügt indessen nicht zur Rechtfertigung einer MdE um 30 v.H.

Welche MdE damals tatsächlich angemessen war, bedarf keiner Entscheidung. Denn selbst wenn eine MdE um 25 v.H. als den Funktionsstörungen angemessen zu Grunde gelegt würde, läge der von § 73 Abs. 3 SGB VII geforderte Unterschied von mehr als 5 v.H. angesichts der auch nach dem 01.03.2007 bestehenden MdE um 20 v.H. nicht vor. Die dem Bescheid vom 15.02.2007 zu Grunde liegenden Funktionsbeeinträchtigungen haben - wie dargelegt - alle Gutachter in Übereinstimmung mit den im Jahr 2006 geltenden Bewertungsmaßstäben mit einer MdE um 20 v.H. bewertet, so dass eine wesentliche Änderung der Unfallfolgen, die eine Änderung der MdE um mehr als 5 v.H. voraussetzen würde, gegenüber Juni 1994 nicht eingetreten ist.

Insoweit kommt der Beklagten auch nicht die Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes über eine Schwankungsbreite von fünf Prozentpunkten bei der Schätzung der MdE zugute (vgl. BSG, Urteil vom 17.12.1975, 2 RU 35/75 in SozR 2200 § 581 Nr. 5 m.w.N.). Denn diese Rechtsprechung trägt nur dem Umstand Rechnung, dass allen ärztlichen Schätzungen eine gewisse Schwankungsbreite eigentümlich ist. Deshalb soll eine um lediglich fünf Prozentpunkte abweichende Schätzung der MdE nicht zur Rechtswidrigkeit einer Beurteilung der MdE durch den Unfallversicherungsträger führen. Indessen gilt dies dann nicht (BSG a.a.O.), wenn seitens des Unfallversicherungsträgers ein allgemein anerkannter MdE-Satz unabhängig von den Besonderheiten des einzelnen Falles nicht beachtet wird. Gerade so aber liegt der Fall hier, weil Dr. S. die Festlegung einer MdE um 30 v.H. für eine Versteifung des Hüftgelenkes seiner Beurteilung nicht zu Grunde legte.

Selbst wenn man mit der Beklagten zumindest von einer wesentlichen Änderung der für die Bemessung der MdE maßgebenden Bewertungsmaßstäbe ausgeht, führt dies zu keinem anderen Ergebnis. Insoweit sehen die im Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides vom 15.02.2007 geltenden Bewertungsmaßstäbe (vgl. z.B. Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., 7. Auflage, S. 656 ff.) zur Bemessung der MdE bei Bewegungseinschränkungen des Hüftgelenks zwar genaue Bewegungsmaße vor, während die früheren Bewertungsmaßstäbe insoweit keine (Mollowitz, der Unfallmann, a.a.O.) oder nur pauschal gehaltene MdE-Werte (Izbiki/Neumann/Spor, Unfallbegutachtung, a.a.O., S. 134: schmerzfreie Bewegungseinschränkung 20 bis 30, schmerzhafte Bewegungseinschränkung 30 bis 50) vorsahen. Allerdings galt - wie ausgeführt - schon damals eine MdE von 30 v.H. für die Versteifung des Hüftgelenkes in günstiger Stellung und bis zu 50 v. H. bei Versteifung in ungünstiger Stellung (Mollowitz, der Unfallmann, a.a.O.; Izbiki/Neumann/Spor, Unfallbegutachtung, a.a.O., S. 133 f.), was dann - wie auch heute - als Maßstab für die Bewertung sonstiger Funktionseinschränkungen des Hüftgelenkes anzusehen ist.

Aber selbst wenn sich die MdE-Maßstäbe und damit die Bewertung der Funktionseinschränkungen geändert hätten, gründete die Änderung der MdE im konkreten Fall nicht in einer wesentlichen Veränderung der unfallbedingten Funktionsbeeinträchtigungen, also der tatsächlichen Verhältnisse, sondern in einer Änderung der Empfehlungen für die Bewertung der MdE. Eine derartige Änderung der entsprechenden Empfehlungen zur Bewertung der MdE stellt keine Veränderung der rechtlichen Verhältnisse (BSG, Urteil vom 30.06.1998, B 2 U 41/97 R, SozR 3-2290 § 581 Nr. 5) und nur dann eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse dar (BSG, Urteil vom 19.12.2000, B 2 U 49/99 R), wenn bei einer Veränderung der Empfehlungen die tatsächlich veränderten Arbeitsbedingungen mit einer Veränderung der Arbeitsmöglichkeiten für betroffene Unfallverletzte geprüft und berücksichtigt worden sind. Hierfür ergeben sich vorliegend, bezogen auf veränderte Arbeitsbedingungen bei einer eingeschränkten Hüftgelenksbeweglichkeit, keine Anhaltspunkte. Insoweit hat auch die Beklagte nichts vorgetragen.

Damit liegen die Voraussetzungen des § 48 SGB X nicht vor.

§ 45 SGB X kommt als Rechtsgrundlage ebenfalls nicht in Betracht. Nach Abs. 1 dieser Vorschrift darf - was grundsätzlich die Ausübung von Ermessen erfordert - ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, unter bestimmten Voraussetzungen zurückgenommen werden. Abgesehen davon, dass die Beklagte - aus ihrer Sicht zu Recht - kein Ermessen ausübte, sind die in § 45 Abs. 3 SGB X aufgeführten Fristen zur Rücknahme bereits abgelaufen. Die Frage, ob der angefochtene Bescheid insoweit umgedeutet werden könnte, bedarf somit keiner weiteren Erörterung.

Nachdem die angefochtenen Bescheide somit bereits mangels Rechtsgrundlage aufzuheben sind, kommt es auf die zwischen den Beteiligten außerdem streitige Frage, ob von der Klägerin geltend gemachte Wirbelsäulenbeschwerden und Kniegelenksbeschwerden auf das Unfallereignis vom 16.11.1970 zurückzuführen sind, nicht an.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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