L 14 AS 348/10 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
14
1. Instanz
-
Aktenzeichen
S 14 AS 14/10 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 14 AS 348/10 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt/Oder vom 17. Februar 2010 wird zurückgewiesen. Der Antragsgegner hat den Antragstellern die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.

Gründe:

Die zulässige Beschwerde hat keinen Erfolg. Der Beschluss des Sozialgerichts, das den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet hat, den Antragstellern vorläufig bis zum 30. April 2010 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes zu gewähren, ist nicht zu beanstanden.

Nach § 86b Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG – kann das Gericht der Hauptsache eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Entsprechend den Maßstäben des Bundesverfassungsgerichts über den vorläufigen Rechtsschutz gegen die Versagung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende (vgl. Beschluss v. 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 -) reicht schon die Möglichkeit, dass die begehrten Leistungen zustehen könnten, allemal aus, um im Wege der Folgenabwägung den Erlass einer zusprechenden einstweiligen Anordnung zu rechtfertigen. Das rechtfertigt die vom Sozialgericht ausgesprochene Verpflichtung des Antragsgegners, da hier – trotz einiger Zweifel - jedenfalls nicht mit Sicherheit verneint werden kann, dass die Antragsteller die Voraussetzungen für den Bezug von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende erfüllen.

Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 7 des Zweiten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB II) erhalten Personen, die

1. das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben, 2. erwerbsfähig sind, 3. hilfebedürftig sind und 4. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben

(erwerbsfähige Hilfebedürftige – § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II). Die Antragsteller zu 1) und 2) sind im erwerbsfähigen Alter, sie haben glaubhaft gemacht, dass sie sich seit Juni 2006 in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten und hilfebedürftig sind. Es gibt keine Hinweise dafür, dass ihnen tatsächlich mehr Mittel zur Verfügung stehen, als sie gegenüber dem Sozialgericht angegeben haben (nämlich Kindergeld, sowie Einnahmen aus Beschäftigung und aus selbständiger Erwerbstätigkeit), die aber zur Deckung des für sie (und ihre beiden Kinder) nach dem SGB II zu berücksichtigenden Bedarfs nicht ausreichen (Bl. 132/133 GA).

Der (erlaubte) Aufenthalt der Antragsteller zu 1) und 2 ) in der Bundesrepublik Deutschland entfällt auch nicht deswegen, weil die Ausländerbehörde der Stadt Frankfurt (Oder) den Antrag der Antragstellerin zu 1), 3) und 4) auf Ausstellung einer Freizügigkeitsbescheinigung gemäß § 5 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern - FreizügigG/EU - durch Bescheid vom 28. April 2009 (Bl. 40 – 41 GA) und Widerspruchsbescheid vom 2. Juni 2009 (Bl. 43 – 46 GA) abgelehnt und die sofortige Vollziehung dieser Maßnahme angeordnet hat und gegenüber dem Antragsteller zu 2) durch Bescheid vom 18. Mai 2009 (Bl. 58 – 60 GA) und Widerspruchsbescheid vom 17. Juli 2009 (Bl. 65 – 69 VA) den Verlust des Rechts auf ständigen Aufenthalt festgestellt sowie unter Anordnung der sofortigen Vollziehung der Maßnahme auf die Verpflichtung hingewiesen hat, die Bundesrepublik Deutschland unverzüglich zu verlassen. Gegen diese Bescheide der Ausländerbehörde ist nämlich ein Rechtsstreit vor dem Verwaltungsgericht Frankfurt (Oder) anhängig (Bl. 47 – 60, 70/71 GA). Zwar ist § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügigG/EU, der ursprünglich vorsah, dass eine Ausreisepflicht erst nach Unanfechtbarkeit der entsprechenden Verwaltungsentscheidung entstehen konnte, mittlerweile aufgehoben worden. Angesichts der Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit dürfte allein die Erhebung der Klage vor dem Verwaltungsgericht auch nicht ausreichen, um eine aufschiebende Wirkung herbeizuführen. Nach § 7 Abs. 1 Satz 5 FreizügG/EU darf aber, sofern ein Antrag nach § 80 Abs. 5 der Verwaltungsgerichtsordnung gestellt worden ist, eine Abschiebung nicht erfolgen, bis über diesen Antrag entschieden worden ist. Es spricht viel dafür, dass dieser Regelung der allgemeine Grundsatz zu entnehmen ist, dass – trotz Anordnung der sofortigen Vollziehung - negative Entscheidungen der Ausländerbehörde über das Bestehen eines Rechts auf Aufenthalt nach dem FreizügG/EU erst dann umgesetzt werden dürfen, wenn das Verwaltungsgericht einen gestellten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung abgelehnt hat. Dass die Antragsteller zu 1) und 2) – zumindest sinngemäß – einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung gestellt haben, ergibt sich aus ihren an das Verwaltungsgericht Frankfurt (Oder) gerichteten Schreiben vom 9. Februar 2010, mit denen die "vorläufige Gewährung eines Aufenthaltes" beantragt wird (Bl. 147/148 GA). Eine negative Entscheidung des Verwaltungsgerichts über diese Anträge liegt noch nicht vor. Demnach kann jedenfalls nicht zweifelsfrei davon ausgegangen werden, dass der (erlaubte) Aufenthalt der Antragsteller zu 1) und 2) im Inland bereits als beendet angesehen werden muss.

Die Antragsteller zu 1) und 2) sind auch erwerbsfähig im Sinne des § 8 SGB II. Nach § 8 Abs. 2 SGB II können Ausländer nur erwerbsfähig sein, wenn ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt werden könnte. Den Antragstellern zu 1) und 2) ist aber am 7. Juli 2009 bzw. am 17. Juni 2009 eine unbefristete Arbeitsberechtigung-EU erteilt worden (Bl. 230/231 VA). Für einen Widerruf dieser Berechtigungen ist nichts ersichtlich. Auf § 12 a Abs. 3 der Arbeitsgenehmigungsverordnung (ArGV), wonach eine Arbeitsberechtigung erlischt, wenn der Ausländer ausreist oder eine erteilte Aufenthaltserlaubnis-EG erlischt oder aufgehoben worden ist, kommt es nicht an, weil den Antragstellern nie eine Aufenthaltserlaubnis-EG erteilt worden ist, die widerrufen werden könnte. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis/EG war in dem alten, bis zum 31. Dezember 2004 in Kraft gewesenen Aufenthaltsgesetz/EWG (vgl. § 1 Abs. 4) vorgesehen. Ob § 12 a Abs. 3 ArGV entsprechend auf die Feststellung des Verlusts eines Rechts auf Einreise und Aufenthalt nach §§ 2, 5 FreizügG/EU angewendet werden kann, ist zumindest fraglich, weil nach § 2 FreizügigG/EU ein Recht auf Einreise und Aufenthalt unabhängig von dem Vorliegen eines Aufenthaltstitels besteht. Im Übrigen müsste auch insoweit jedenfalls der in § 7 Abs. 1 Satz 5 FreizügG/EU enthaltene Rechtssatz herangezogen werden können, dass eine Verwaltungsentscheidung erst dann negative Folgen für den Ausländer auslöst, wenn das Verwaltungsgericht einen (gestellten) Antrag auf Aussetzung der Vollziehung abgelehnt hat.

Der Leistungsanspruch des Antragsteller zu 1) und 2) entfällt auch nicht zwingend aufgrund der Regelung in § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II, wonach Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, von den Leistungen nach dem SGB II ausgenommen sind. Es ist nämlich nicht zweifelsfrei, dass sich ein Aufenthaltsrecht der Antragsteller zu 1) und 2) "allein aus dem Zweck der Arbeitssuche" ergeben kann. Die Antragstellerin zu 1) trägt vor, dass sie am 1. November 2009 eine Beschäftigung als Hauswart aufgenommen hat. Dieser Vortrag kann ihr angesichts der vom Arbeitgeber zur Gerichtsakte übersandten Unterlagen (Arbeitsvertrag und Lohnabrechnung, Bl. 168 - 171 GA) nicht ohne weiteres widerlegt werden. Als Arbeitnehmer hätte die Antragstellerin zu 1) aber ein Recht auf Aufenthalt nach § 2 Abs. 1 und 2 Nr. 1 des Freizügigkeitsgesetzes/EU (FreizügG/ EU).

Dieses Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmer bestünde ungeachtet dessen, dass die Antragstellerin zu 1) nur eine geringfügige Beschäftigung (i.S.d. § 8 Abs. 1 Nr. 1 des Vierten Buchs des Sozialgesetzbuchs [SGB IV)] – "Minijob") vereinbart hat und ausübt. Im FreizügG/EU findet sich keine Bestimmung, wonach "Arbeitnehmer" i.S.d. § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU nur ein mehr als geringfügig Beschäftigter wäre. Der Senat hat bereits darauf hingewiesen, dass sich der Arbeitnehmerbegriff in § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG-EU am Europäischen Recht orientiert und auch (im Sinne des deutschen Sozialversicherungsrechts) geringfügige Beschäftigungen umfasst, sofern sie nicht nur völlig untergeordnete und unwesentliche Bedeutung haben (Beschluss vom 14. November 2006 – L 14 B 963/06 AS ER ). Das ist nach dem bereits zitierten Beschluss zumindest dann nicht der Fall, wenn die Tätigkeit einen Umfang von wöchentlich 10 Stunden aufweist und tariflich entlohnt wird. Der Europäische Gerichtshof hat nunmehr mit Urteil vom 4. Februar 2010 –C-14/09 (Bl. 150 – 153 GA) nicht ausgeschlossen, dass eine Beschäftigung von 5,5 Stunden wöchentlich gegen ein Entgelt von 175 Euro im Monat ausreichen kann. Das für die Antragstellerin zu 1) abgerechnete Entgelt von 180,- Euro liegt darüber.

Die von der Antragstellerin zu 1) behauptete Beschäftigung kann danach nicht eindeutig als "völlig untergeordnet und unwesentlich" angesehen werden. Die Antragstellerin zu 1) erbringt offenbar – auf der Grundlage eines schriftlich abgeschlossenen Arbeitsvertrags - Arbeitsleistungen, die für ihren Arbeitgeber einen wirtschaftlichen Wert haben. Dass das von der Antragstellerin zu 1) dadurch erzielte bzw. zu erzielende Arbeitsentgelt nicht zur Sicherung des Lebensunterhalts ausreicht, ist nach der genannten und bei der Auslegung des Freizügigkeitsgesetzes/EU zu beachtenden Rechtsprechung des EuGH unerheblich.

Der Antragsteller zu 2) trägt hingegen vor, dass er seit Anfang Februar 2010 selbständige Dienstleistungen für einen Sicherheitsdienst ausübt (Bl. 133 GA). Das kann auch ihm nicht ohne weiteres widerlegt werden, zumal der Antragsgegner die Ablegung einer entsprechenden Sachkundeprüfung in der Vergangenheit gefördert hat (VA Bd. 1 hinten) und der Antragsteller zu 2) bereits in der Vergangenheit nachweislich Einkünfte als Selbständiger in der Bundesrepublik Deutschland erzielt hat (Bl. 30, 73-91 GA). Als selbständiger Erbringer von Dienstleistungen hätte er auch gegenwärtig ein Recht auf Einreise und Aufenthalt gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 3 FreizügG/EU. Nähere Ermittlungen über Umfang, Dauer und Höhe der Einkünfte aus der selbständigen Erwerbstätigkeit müssen dem Hauptsachverfahren vorbehalten bleiben.

Für die beiden Antragsteller zu 3) und 4) als minderjährige Familienangehörige ergibt sich das Recht auf Einreise und Aufenthalt aus § 3 FreizügG/EU. Sie bilden gemäß § 7 Abs. 3 SGB II eine Bedarfsgemeinschaft mit den Antragstellern zu 1) und 2) und haben entsprechend § 28 SGB II Anspruch auf Sozialgeld.

Hinsichtlich der Höhe des zu deckenden Bedarfs hat bereits das Sozialgericht in dem angegriffenen Beschluss die an die Antragsteller zu 1) und 2) zu gewährenden Beträge auf 70 Prozent der Regelleistung als das zum Leben unerlässliche gesenkt. Anlass zu weitergehenden Einschränkungen sieht der Senat nicht.

Nach alledem war die Beschwerde zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung ergeht entsprechend § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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