L 6 U 109/06

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Dessau-Roßlau (SAN)
Aktenzeichen
S 3 U 36/06
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 6 U 109/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Feststellung eines Ereignisses als Arbeitsunfall. Der im Mai 1951 geborene Kläger war am 16. Februar 2006 um 12.00 Uhr in einer abhängigen Beschäftigung als Gerüstbauer tätig. Beim Aufbau eines Gerüstes nahm er einen Gerüstrahmen von einem Untermann entgegen, um ihn am Gerüst anzubauen. Dabei verspürte er einen Schmerz im rechten Oberarm. Dieser Vorgang ist Gegen-stand der Unfallanzeige der Arbeitgeberin des Klägers.

Bei der Erstbehandlung der Unfallchirurgischen Klinik des Kreiskrankenhauses B./W. am Folgetag fand sich eine deutliche Kraftminderung im rechten Oberarm und ein atypischer Muskelbauch. Aus der Magnetresonanztomographie ergab sich ein körper-naher Bizepssehnenriss rechts. Diese Behandlung ist Gegenstand des Durchgangs-arztberichtes des Chirurgen Dr. K. vom 17. Februar 2006.

Mit Bescheid vom 22. Februar 2006 lehnte die Beklagte die Feststellung eines Arbeits-unfalls ab. Sie führte aus, es fehle an einem von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis im Sinne von § 8 SGB VII, weil die Beschwerden nicht durch ein äußeres Ereignis verursacht worden seien.

Gegen den Bescheid erhob der Kläger bei der Beklagten mit Eingangsdatum vom 13. März 2006 Widerspruch.

Mit Widerspruchsbescheid vom 30. März 2006 wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten den Widerspruch zurück. Er führte ergänzend aus, nach dem aktuellen medizinischen Kenntnisstand führe das willentliche Annehmen eines schweren Gerüstteiles nicht zu einer Schädigung der Bizepssehne.

Mit der am 5. April 2006 beim Sozialgericht Dessau erhobenen Klage auf Anerkennung eines Sehnenrisses als Unfallfolge und Rentenzahlung hat der Kläger sein Anliegen weiter verfolgt.

Das Sozialgericht hat ein Gutachten des Chefarztes der Unfallchirurgischen Klinik des St. Klinikums D. , Dr. Z. , vom 29. Juni 2006 eingeholt, wegen dessen Inhalt im Einzelnen auf Bl. 22 - 33 d. A. verwiesen wird. Der Sachverständige ist im Wesentli-chen zu dem Ergebnis gelangt, es habe keine äußere Gewalteinwirkung vorgelegen, die mit Wahrscheinlichkeit zur Verursachung der eingetretenen Gesundheitsstörung geeignet sei. Die körpernahe lange Bizepssehne sei grundsätzlich mit einer höheren Kraft belastbar, als sie der Bizepsmuskel auch bei äußerster Kraftanstrengung aufbrin-gen könne. Die Sehne sei auf Grund ihrer Lage häufig degenerativen Veränderungen unterworfen, die beschwerdefrei auftreten könnten. Eine traumatische Zusammen-hangstrennung erfordere den Nachweis einer unphysiologischen Überlastung. Solche Belastung ergebe sich aus dem Geschehensablauf nicht. Im Röntgenbild seien degenerative Veränderungen erkennbar, die ein Aufrauhen bzw. Durchscheuern der Sehne wahrscheinlich machten. Der Kläger habe im Rahmen der Begutachtung erstmals angegeben, die Schmerzen seien erst eingetreten, als er zur Vermeidung eines Absturzes des Rahmens habe nachgreifen müssen. Auch für diesen Fall sei nicht von einer unphysiologischen Belastung auszugehen, weil selbst dann keine hinreichen-de Belastung abzuleiten sei. Der histologische Befund mit dem Ergebnis eines frischen Risses (vom Kläger zur Begutachtung mitgebracht) könne nur den zeitlichen Zusam-menhang belegen. Die Ursache lasse sich daraus nicht herleiten. Weder der histologi-sche Befund noch der Operationsbericht nähmen zu einer Degeneration des Sehnen-gewebes Stellung.

Mit Urteil vom 23. August 2006 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt, im vorliegenden Fall sei die haftungsausfüllende Kausalität nicht gegeben. Dem Ereignis vom 16. Februar 2006 komme nur die Bedeutung eines Anlassgesche-hens zu.

Gegen das ihm am 28. August 2006 zugestellte Urteil hat der Kläger am 14. Septem-ber 2006 Berufung eingelegt, mit der er nach seiner Erklärung im Erörterungstermin vom 19. Mai 2008 nur das Anliegen der Feststellung eines Arbeitsunfalls verfolgt. Bei dieser Gelegenheit hat der Kläger vorgetragen, er habe dem unter ihm stehenden Kollegen den Rahmen abgenommen und zunächst nur mit dem rechten Arm hochge-zogen, weil der linke Arm noch wegen eines früheren Unfalles Beschwerden bereitet habe. Als er bemerkt habe, dass über ihm kein Kollege zur weiteren Abnahme des Rahmens bereit gewesen sei, habe er den Rahmen absetzen wollen. Dabei müsse dieser irgendwie abgerutscht sein. Zur Vermeidung eines Absturzes habe er mit der rechten Hand nachgegriffen.

Der Kläger beantragt sinngemäß, das Urteil des Sozialgerichts Dessau vom 23. August 2006 abzuändern und den Bescheid der Beklagten vom 22. Februar 2006 in der Gestalt des Widerspruchs-bescheides vom 30. März 2006 aufzuheben und das Ereignis vom 16. Februar 2006 als Arbeitsunfall festzustellen.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie bleibt bei ihrem Vorbringen.

Das Gericht hat verschiedene Gutachten beigezogen, wegen deren Inhalt im Einzelnen auf das Gutachten des Arztes J. vom 11. September 2006, Bl. 80 - 85 d. A., den Abschlussbericht des Evangelischen Diakoniewerkes Friederikenstift H. vom 26. Oktober 2005, Bl. 91 - 98 d. A., und das Gutachten des Orthopäden Dr. A. vom 14. November 2006, Bl. 99 - 110 d. A., Bezug genommen wird. Es hat weiterhin Unterla-gen der Allgemeinmedizinerin Dr. J. , Bl. 112 - 133 d. A., beigezogen. Schließlich hat Dr. J. auch ihre Patientenkartei übersandt.

Das Gericht hat sodann ein Gutachten des Chirurgen Dr. Sp. vom 27. Mai 2009 eingeholt, wegen dessen Inhalt im Einzelnen auf Bl. 174 - 198 d. A. Bezug genommen wird. Der Sachverständige ist im Wesentlichen zu dem Ergebnis gelangt, die Zusam-menhangstrennung der schulternahen langen Bizepssehne sei bewiesen. Nach der letzten Schilderung des Unfallverlaufs sei dieser allenfalls Auslöser der Zusammen-hangstrennung, nicht jedoch wesentliche Ursache dafür. Aus der Beschreibung sei kei-ne unphysiologische Kraft- oder Gewalteinwirkung auf den rechten Arm des Klägers herzuleiten. Zwar sei die Bewegung möglicherweise reflexartig, aber aktiv und gezielt gewesen. Sie stehe einer von außen gewaltsam und unerwartet einwirkenden Kraft nicht gleich. Spontane Zusammenhangstrennungen einer schulternahen langen Bi-zepssehne seien ein typisches degeneratives Schadensbild. Als wesentliche unfallbe-dingte Ursache sei theoretisch bei einem bereits maximal gespannten beugeseitigen Oberarm eine plötzlich zusätzlich darauf einwirkende äußere Kraft denkbar. Grundsätz-lich halte aber eine Sehne ein Vielfaches der Kraft aus, die der zugehörige Muskel auf-bringen könne. Meistens seien nicht nur degenerative Veränderungen an der betroffe-nen Sehne, sondern auch in der Umgebung, dem Schulterhauptgelenk mit Oberarm-kopf und Schulterpfanne und dem Schultereckgelenk sowie in der Regel an der Rota-torenmanschette vorhanden. Solche Veränderungen seien beim Kläger nachgewiesen. Auf den Röntgenaufnahmen vom 17. Februar 2006 sehe man eine kalkdichte Ver-schattung in Projektion auf die Weichteile in der Umgebung des Bizepssehnenverlau-fes neben dem großen Muskelhöcker des Oberarmkopfes. Bildtechnisch und intraope-rativ seien in der weiteren Folge fortgeschrittene Veränderungen sowohl am Schulterhauptgelenk wie insbesondere am Schultereckgelenk mit einem Engpass des Gleitraumes der Rotatorenmanschette nachgewiesen. Dies sei das klassische Schadens-bild anlagebedingter Veränderungen in der Tiefe der Schulterkappe. In diesem Fall sei mit Sicherheit davon auszugehen, dass die Sehne unter normal belastbar gewesen sei und dem auslösenden Ereignis die Bedeutung eines Tropfens zukomme, der das Fass zum Überlaufen bringe. Wesentliche Ursache sei in diesen Fällen die vorbestehende krankhaft verminderte Belastbarkeit. Der histologische Befund vom 20. Februar 2006 sei kritisch zu hinterfragen. Es sei nicht einmal das feingewebliche Bild beschrieben. Die verbliebenen Funktionseinbußen am rechten Schultergelenk hätten sich im Übrigen nicht aus den Folgen des Sehnenrisses, sondern aus dem degenerativen Schadensbild ergeben.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

Die Akte der Beklagten – Az. 8/00869/06 - 4 WSC – hat bei der Beratung vorgelegen, daneben die Patientenkartei von Dr. J. und eine CD-ROM, die in der Radiologi-schen Klinik des Kreiskrankenhauses Bitterfeld/Wolfen gefertigt worden ist.

Entscheidungsgründe:

Die gem. § 143 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Berufung hat keinen Erfolg. Die Klage ist als Anfechtungs- und Feststellungsklage gem. § 54 Abs. 1 S. 1 SGG und § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG zulässig. Die Kombination der Anfechtungs- mit einer Feststel-lungsklage wird dem Rechtsschutzanliegen des Klägers am besten gerecht, da die Wirksamkeit der Entscheidung unmittelbar Folgeansprüche, z. B. den Heilbehand-lungsanspruch, begründet, ohne von der vorherigen Umsetzung durch Bescheid als Rechtsfolge einer Verpflichtungsklage abhängig zu sein.

Der Bescheid der Beklagten vom 22. Februar 2006 in der Gestalt des Widerspruchs-bescheides vom 30. März 2006 beschwert den Kläger nicht im Sinne von §§ 157, 54 Abs. 2 S. 1 SGG, weil die Beklagte darin zu Recht einen Anspruch des Klägers auf Anerkennung des Ereignisses vom 16. Februar 2006 als Arbeitsunfall abgelehnt hat. Die Hebung des Gerüstrahmens bzw. ein Nachgreifen danach hat als Ereignis nicht im Sinne von § 8 Abs. 1 S. 2 des Siebten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VII – in der insoweit unveränderten Ausgangsfassung durch G. v. 7.8.1996) zu einem Gesund-heitsschaden geführt. Ursächlich sind insoweit nur Ereignisse, die sich als wesentliche Ursache darstellen (BSG, Urt. v. 15.2.05 – B 2 U 1/04 RSozR 4-2700 § 8 Nr. 12 Rdnr. 14). Maßgeblich ist für den Zusammenhang zwischen den beruflichen Belastun-gen und dem Gesundheitsschaden eine hinreichende Wahrscheinlichkeit, bei der mehr für als gegen den Zusammenhang spricht und ernste Zweifel ausscheiden (BSG, Urt. v. 9.5.06 – B 2 U 1/05 RSozR 4-2700 § 8 Nr. 17). Dabei ist nur die Bedingung rechtlich erheblich, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Eintritt des geltend gemachten Gesundheitsschadens "wesentlich" beigetragen hat (Ricke in Kasseler Kommentar, § 8 SGB VII Rdnr. 4, 15 m.w.N.). Welche Ursache wesentlich ist und welche nicht, muss aus der Auffassung des praktischen Lebens über die besonderen Beziehungen der Ursache zum Eintritt des Gesundheitsschadens abgeleitet werden (BSG, Urt. v. 9.5.06 – B 2 U 1/05 R – a.a.O.).

Danach ist hier ein wesentlicher Ursachenzusammenhang zwischen der Hebung des Gerüstrahmens und dem bei dieser Gelegenheit erlittenen Bizepsriss unwahrschein-lich. Dies folgt aus den Einschätzungen der Sachverständigen Dr. Sp. und Dr. Z ...

Dr. Sp. hat ausdrücklich die Einschätzung abgegeben, der Geschehenshergang sei keine wesentliche Teilursache. Dies ist nachvollziehbar, weil schon Dr. Z. darstellt, dass eine gesunde Sehne durch die vom Kläger geschilderte Hebung einschließlich eines Nachgreifens nicht reißen kann. Denn die entfaltbare Muskelkraft sei immer geringer als die Belastbarkeit der zugeordneten gesunden Sehne. Daraus haben er und im Ergebnis auch Dr. Sp. den zwingenden Schluss gezogen, die Sehne müsse vorgeschädigt gewesen und dies – so die Formulierung von Dr. Sp. – "die" wesentliche Bedingung für den Sehnenriss gewesen sein.

Der Senat ist aufgrund der zwingenden Argumentation auch mit den genannten Ärzten davon überzeugt, dass zum Zeitpunkt des Eintritts des Sehnenrisses eine Vorschädi-gung vorgelegen hat. Diese leiten die Sachverständigen überzeugend aus den Ver-änderungen im unmittelbaren Umfeld der Rissstelle ab. Dagegen spricht auch nicht – wie beide Sachverständigen nachvollziehbar einschätzen – der histologische Befund der Rissstelle. Denn die Diagnose eines frischen Risses spricht nicht gegen den von Dr. Z. dargestellten Zusammenhang, die degenerativen Veränderungen im Schultergelenk hätten wahrscheinlich ein Durchscheuern der Bizepssehne bewirkt.

Daraus ergibt sich der Schluss, dass einer Vorschädigung die überragende Bedeutung für den Eintritt des Bizepssehnenrisses zukommt. Dies will auch der Sachverständige Dr. S. durch sein Abstellen auf "die" wesentliche Teilursache erkennbar ausdrü-cken. Ebenso ist dies der Beurteilung von Dr. Z. zu entnehmen, der dem Ereignis vom 16. Februar 2006 allenfalls die Bedeutung eines Anlassgeschehens beimisst.

Gegen die Bewertung der Hebung des Gerüstrahmens als Anlassgeschehen spricht nicht die Darstellung eines durch den Geschehensablauf erzwungenen Nachgreifens. Ohne besondere Umstände, die der Kläger nicht beschrieben hat, überzeugt die Auffassung der Sachverständigen, auch ein Nachgreifen sei eine willkürliche Bewe-gung, mit der die physiologische Leistungsfähigkeit der Sehne nicht zu überfordern sei. Dafür spricht das fehlende Überraschungsmoment der Belastung, weil der Kläger den Rahmen noch unmittelbar zuvor mit dem selben Arm gehoben hatte. Danach handelt es sich bei dem zeitlichen Zusammenhang zwischen Hebung und Sehnenriss um ein Zufallsgeschehen, das ebenso gut bei einer Alltagsbelastung hätte eintreten können, bei der solche Gewichte ebenso anfallen. Dies schließt die Bedeutung der Hebung als wesentliche Ursache aus.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision bestehen gem. § 160 Abs. 2 Nr. 1, 2 SGG nicht.
Rechtskraft
Aus
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