L 1 R 299/06

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Dessau-Roßlau (SAN)
Aktenzeichen
S 1 R 365/05
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 1 R 299/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
AAÜG, fiktive Einbeziehung, Planwirtschaftssystem der DDR
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dessau vom 15. Juni 2006 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:
Der Kläger begehrt von der Beklagten, Zeiten der Zugehörigkeit zur zusätzlichen Altersversorgung der technischen Intelligenz (AVItech) festzustellen.

Der 19xx geborene Kläger erhielt mit Urkunde der Ingenieurschule für Maschinenbau und Elektrotechnik M. vom 19xx das Recht verliehen, die Berufsbezeichnung Ingenieur zu führen. Ab August 19xx arbeitete er nach den Eintragungen im Sozialversicherungsausweis (SVA) im VEB Zementanlagenbau, zunächst als Kundendienstingenieur. Ab Januar 19xx war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig und ab Januar 19xx im gleichen Betrieb als Ingenieur im Büro xxx angestellt. Diese Tätigkeit übte er auch noch im Juni 1990 aus. Eine Zusatzversorgungszusage erhielt er nicht.

Am 5. November 2004 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Überführung von Zusatzversorgungsanwartschaften. In den Antragsunterlagen gab er an, als selbständiger Ingenieur im Büro xxx unter anderem Entscheidungen der Betriebsleitung aufbereitet, Vorlagen für die Betriebsleitung erarbeitet und Maßnahmen der Investitionssicherung für maschinentechnische Ausrüstungen vorbereitet zu haben. Mit Bescheid vom 19. November 2004 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Eine Versorgungsanwartschaft im Sinne von § 1 Abs. 1 des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes (AAÜG) sei nicht entstanden. Weder habe eine positive Versorgungszusage (Anwartschaft) zu Zeiten der DDR vorgelegen, noch habe der Kläger am 30. Juni 1990 eine Beschäftigung ausgeübt, die aus bundesrechtlicher Sicht dem Kreis der obligatorisch Versorgungsberechtigten zuzuordnen wäre. Als Ingenieur im Büro xxx sei er nicht im unmittelbaren Produktionsprozess eingegliedert gewesen bzw. habe trotz seiner technischen Qualifikation nicht aktiv den Produktionsprozess beeinflussen können, so wie es die Versorgungsordnung vorgesehen habe. Gegen den Bescheid erhob der Kläger am 19. Dezember 2004 Widerspruch. Mit Widerspruchsbescheid vom 20. Mai 2005 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte sie aus, der Kläger sei zwar berechtigt gewesen, den Titel eines Ingenieurs zu führen. Er habe jedoch am 30. Juni 1990 keine ingenieurtechnische Beschäftigung im Sinne der Versorgungsordnung, sondern eine Beschäftigung als Kundendienstingenieur im Büro xxx ausgeübt.

Am 8. Juni 2005 hat der Kläger Klage vor dem Sozialgericht Dessau erhoben. Zur Begründung hat er ausgeführt, er sei am Stichtag, dem 30. Juni 1990, ingenieurtechnisch beschäftigt gewesen. In seiner Tätigkeit habe er die Verbindung zwischen dem Betriebsdirektor und der Produktion herstellen müssen. Dazu habe er die Hauptmechaniker und Haupttechnologen kontaktiert, welche ihrerseits mit Problemen an ihn herangetreten seien. Auch habe er dem Betriebsdirektor, der die letzte Entscheidungskompetenz in allen Produktionsprozessen gehabt habe, entsprechende Produktionsabläufe vermitteln müssen, damit dieser dann die notwendigen Entscheidungen habe treffen können. Damit habe auch er Entscheidungskompetenzen und unmittelbaren Einfluss auf den Produktionsprozess besessen. Er habe vor Ort die Produktion überprüfen und gegenüber dem Direktor sicherstellen müssen, dass die Produktion ungehindert ablaufen könne. Es habe ihm oblegen, der Betriebsleitung mitzuteilen, welche Produktionsgeräte oder -maschinen bzw. -materialien notwendig gewesen seien, damit die Produktion ungestört habe ablaufen können. Er habe sich deshalb vor Ort in den Produktionsablauf einbringen müssen, seinen erworbenen technischen Sachverstand einsetzen müssen und er habe gewährleistet, dass die Produkte termingerecht hätten fertig gestellt werden können und auch den Qualitätsanforderungen entsprochen hätten.

Mit Gerichtsbescheid vom 15. Juni 2006 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es unter anderem ausgeführt, bei der Tätigkeit des Klägers als technischer Kundendienstingenieur im Büro xxx habe es sich nicht um eine Beschäftigung mit in überwiegendem Umfang zu lösenden ingenieurtechnischen Aufgabenstellungen im Produktionsbereich gehandelt. Dies ergebe sich aus schriftlichen Erklärungen des ehemaligen Betriebsdirektors xxx. Aus der Präambel der Versorgungsordnung für die technische Intelligenz lasse sich ableiten, dass in das Versorgungssystem grundsätzlich nur solche Personen einbezogen werden sollten, die für die wissenschaftliche Forschungsarbeit und die Entwicklung der Technik zuständig gewesen seien, also mit ihrer technischen Qualifikation aktiv den Produktionsprozess gefördert hätten. Dies sei beim Kläger nicht der Fall gewesen. Zwar habe er Aufgaben zu erledigen gehabt, die ohne den Abschluss als Ingenieur nicht hätten erledigt werden können. Er sei jedoch nicht mit den klassischen Tätigkeiten eines Ingenieurs in der Produktionsabteilung oder Entwicklungs- und Forschungsabteilung eines industriellen Produktionsbetriebes betraut gewesen. Die Tätigkeit als Kundendienstingenieur könne nicht den unter Ziffer 10 und 20 genannten Produktionsbereichen bzw. den Bereichen Forschung und Entwicklung (Ziffer 31) der Anordnung über die Einführung der Rahmenrichtlinie für die neue Gliederung der Beschäftigten der Industrie und des Bauwesens vom 10. Dezember 1974 (GBl DDR I Nr. 1) zugeordnet werden. Vielmehr sei die Beschäftigung am ehesten dem Bereich "leitungs- und produktionssichernde Bereiche" der Ziffer 40, Unterbereich 41, zuzuordnen. Ein Kundendienstingenieur habe mit seiner Tätigkeit in erster Linie zu einer erfolgreichen Absatztätigkeit beitragen müssen, auch wenn dabei teilweise die Einführung neuer Produktionsverfahren und die Überwachung derselben auf reibungslosen technischen Ablauf vorzunehmen gewesen sei. Der Gerichtsbescheid ist dem Kläger am 21. Juni 2006 zugestellt worden.

Am 13. Juli 2006 hat der Kläger Berufung bei dem Landessozialgericht Sachsen-Anhalt eingelegt. Zur Begründung trägt er im Wesentlichen vor, dass es sich bei seiner Tätigkeit um eine Ingenieurtätigkeit gehandelt habe, welche unmittelbar mit ingenieurtechnischen Aufgaben im Produktionsbereich bzw. produktionsnahen Bereich ausgeführt worden sei. Dazu vertieft er seine Ausführungen aus der ersten Instanz.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dessau vom 15. Juni 2006 und den Bescheid der Beklagten vom 19. November 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Mai 2005 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Beschäftigungszeit vom 16. August 1973 bis 30. Juni 1990 als Zeit der Zugehörigkeit zum Zusatzversorgungssystem der technischen Intelligenz (Nr. 1 der Anlage 1 zum AAÜG) sowie die in dieser Zeit erzielten Entgelte festzustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie ist der Ansicht, dass der Kläger die sachliche Voraussetzung einer ingenieurtechnischen Tätigkeit für die Einbeziehung in die Zusatzversorgung der technischen Intelligenz nicht erfülle. Außerdem trägt sie vor, dass es sich beim Beschäftigungsbetrieb des Klägers Ende Juni 1990 nur noch um eine "leere Hülle" gehandelt habe. Mangels Eigenkapital sei der Betrieb wirtschaftlich nicht mehr in der Lage gewesen, zu produzieren und seine Arbeitnehmer zu entlohnen. Damit seien auch die betrieblichen Voraussetzungen am Stichtag des 30. Juni 1990 nicht erfüllt.

Das Gericht hat Unterlagen zum VEB Zementanlagenbau und zu dessen Rechtsnachfolger beigezogen, an die Beteiligten übergeben und mit den Beteiligten den Rechtsstreit in einem Termin erörtert.

Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten haben vorgelegen und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrages der Beteiligten wird ergänzend auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die nach § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und auch im Übrigen zulässige Berufung hat keinen Erfolg.

Die Berufung ist unbegründet, weil der ablehnende Bescheid der Beklagten vom 19. November 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Mai 2005 rechtmäßig ist und den Kläger nicht im Sinne von §§ 157, 54 Abs. 2 Satz 1 SGG beschwert.

Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, dass gem. § 8 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. Abs. 2 und § 1 Abs. 1 Satz 1 des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes (AAÜG) Zugehörigkeitszeiten zu einem Zusatzversorgungssystem festgestellt werden. Er unterfällt nicht dem Geltungsbereich des § 1 Abs. 1 Satz 1 AAÜG, weil er weder tatsächlich noch im Wege der Unterstellung der AVItech (Zusatzvorsorgungssystem Nr. 1 der Anlage 1 zum AAÜG) angehörte.

Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 AAÜG gilt das Gesetz für Ansprüche und Anwartschaften, die aufgrund der Zugehörigkeit zu Zusatz- und Sonderversorgungssystemen im Beitrittsgebiet erworben worden sind. Der Kreis der potentiell vom AAÜG erfassten Personen umfasst diejenigen Personen, die entweder (1.) durch einen nach Art. 19 Einigungsvertrag (EVertr) bindend gebliebenen Verwaltungsakt der DDR oder einer ihrer Untergliederungen oder (2.) später durch eine Rehabilitierungsentscheidung oder (3.) nach Art. 19 Satz 2 oder 3 EVertr (wieder) in ein Versorgungssystem einbezogen waren (BSG, Urteil vom 9. April 2002, Az: B 4 RA 31/01 R, SozR 3-8570 § 1 AAÜG Nr. 2, S. 11).

Der Kläger erfüllt keine dieser Voraussetzungen. Weder ist ihm von Organen der DDR eine Versorgung zugesagt worden noch ist er aufgrund einer Rehabilitierungsentscheidung in ein Versorgungssystem einbezogen worden. Auch ein rechtsstaatswidriger Entzug einer Versorgungsanwartschaft hat in seinem Falle nicht stattgefunden.

Im Ergebnis kommt es nicht darauf an, dass der Senat nicht der Rechtsprechung des früheren 4. Senats des BSG folgt, wonach die Zugehörigkeit zu einem Zusatzversorgungssystem nach § 1 Abs. 1 Satz 1 AAÜG auch im Wege der Unterstellung vorliegen kann (siehe unter I.), da auch die dafür vom BSG aufgestellten Voraussetzungen nicht vorliegen (II.).

I.

Der Senat ist zum Einen nicht der Auffassung, dass das AAÜG den Kreis der "potenziell vom AAÜG ab 1. August 1991 erfassten" Personen erweitert und das Neueinbeziehungsverbot modifiziert hat (so aber BSG, Urteil vom 9. April 2002, Az: B 4 RA 31/01 R, SozR 3-8570 § 1 AAÜG Nr. 2, S. 12). Erst diese Annahme führt jedoch zu einer vom BSG behaupteten Ungleichbehandlung ("Wertungswiderspruch"), die durch eine verfassungskonforme Auslegung des § 1 Abs. 1 AAÜG zu korrigieren sei. Zum Anderen ist der Senat der Ansicht, dass, wenn die Annahme des BSG tatsächlich zutreffen sollte und mit dem AAÜG der einbezogene Personenkreis erweitert worden ist, zumindest keine verfassungskonforme Auslegung erforderlich ist, da die behauptete Ungleichbehandlung zu rechtfertigen wäre. Im Übrigen hätte das Bundessozialgericht wegen des von ihm unterstellten "Wertungswiderspruchs" keine erweiternde Auslegung vornehmen dürfen, sondern eine konkrete Normenkontrolle an das Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 100 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) veranlassen müssen. Denn die vom Bundessozialgericht vorgenommene Rechtsfortbildung überschreitet nach Auffassung des erkennenden Senats die sich aus Art. 20 Abs. 2 und 3 GG ergebenden Grenzen der richterlichen Entscheidungsbefugnis, weil der eindeutige Wortlaut des § 1 Abs. 1 AAÜG die vom BSG vorgenommene Interpretation nicht hergibt. Es ist deshalb schon nicht möglich, die bei einem unklaren oder nicht eindeutigen Wortlaut heranzuziehenden einschlägigen Auslegungskriterien anzuwenden (BSG, Urteil vom 19. Februar 2009, Az: B 10 EG 1/08 R, dokumentiert in juris, Rdnr. 19). In den Gesetzesmaterialien findet sich kein Hinweis dafür, dass durch das AAÜG außer den Personen, die durch einen nach Art. 19 EVertr bindend gebliebenen Verwaltungsakt der DDR oder einer ihrer Untergliederungen oder später durch eine Rehabilitierungsentscheidung oder nach Art. 19 Satz 2 oder 3 EVertr (wieder) in ein Versorgungssystem einbezogen worden waren (BSG, Urteil vom 9. April 2002, Az: B 4 RA 31/01 R, a. a. O., S. 11), weitere Personen einbezogen werden sollten (siehe BTDrs. 12/405, S. 113, 146; BTDrs. 12/786, S. 139; II A, IV A; BTDrs. 12/826, S. 4, 5, 10, 11, 21). Vielmehr wird in den Gesetzesmaterialien immer auf den EVertr Bezug genommen. Zwar wird dann ausgeführt, dass die Einhaltung der Vorgaben des EVertr zu nicht sachgerechten und zu nicht nur sozialpolitisch unvertretbaren Ergebnissen führen müsste und sich deshalb die Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung ergebe (BTDrs. 12/405, S. 113). Aus der weiteren Gesetzesbegründung ist jedoch ohne Schwierigkeiten ablesbar, dass sich diese Regelungen auf die Bereiche der Rentenberechnung, Leistungsbegrenzung, Abschmelzung laufender Leistungen, des Besitzschutzes bei der Neufeststellung von Leistungen, der Auszahlungen von Leistungen, eines Vorbehaltes der Einzelüberprüfung und der Kostenerstattung durch den Bund beziehen (a. a. O., S. 113, 114). Nicht angesprochen ist hingegen eine Ausweitung des erfassten Personenkreises. Auch bei der Begründung des § 1 AAÜG wird ausgeführt, dass diese Vorschrift den Geltungsbereich der nach dem EVertr vorgeschriebenen Überführung (und gerade keine darüber hinausgehende) festlegt (BTDrs. 12/405, S. 146).

Auch überzeugt den Senat nicht, dass aus dem Wortlaut von § 1 Abs. 1 Satz 1 AAÜG auf eine Modifizierung des Verbots der Neueinbeziehung zu schließen sei (BSG, Urteil vom 9. April 2002, Az: B 4 RA 31/01 R, a. a. O., S. 12). In den Gesetzesmaterialien findet sich nämlich kein Anhaltspunkt für die vom BSG vorgenommene Unterscheidung zwischen "Einbeziehung in ein Versorgungssystem" und der "Zugehörigkeit zu einem Versorgungssystem". Der Gesetzgeber benutzt im Gegenteil auch zur Beschreibung des Personenkreises des § 1 Abs. 1 Satz 2 AAÜG, der auch nach Ansicht des BSG konkret einbezogen war (BSG, a. a. O., S. 12), den Terminus "Zugehörigkeit zu einem Versorgungssystem" (BTDrs. 12/826, S. 21) und nicht etwa "Einbeziehung in ein Versorgungssystem".

Der Gesetzgeber ging auch, soweit erkennbar, nicht davon aus, dass die in § 1 Abs. 1 Satz 2 AAÜG angesprochene Personengruppe eine Erweiterung der "potenziell vom AAÜG ab 1. August 1991 erfassten" Personen darstellt. Ursprünglich war Satz 2 in der Gesetzesvorlage nicht enthalten (BTDrs. 12/405, S. 77). Erst in den Ausschussberatungen wurde dann die Anfügung des Satzes 2 empfohlen (BTDrs. 12/786, S. 139). Zur Begründung wurde ausgeführt, dass diese Anfügung nur eine Klarstellung bedeute (BTDrs. 12/826, S. 21). Der Gesetzgeber nahm also an, dass diese Personengruppe ohnehin von Satz 1 und vom Überführungsauftrag des EVertr umfasst ist.

Auch mit einer verfassungskonformen Auslegung des § 1 Abs. 1 AAÜG (über den Wortlaut hinaus) lässt sich ein Anspruch auf eine fiktive Einbeziehung nicht begründen (so aber BSG, Urteil vom 9. April 2002, Az: B 4 RA 31/01 R, a. a. O., S. 12).

Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Damit ist jedoch nicht jede Differenzierung ausgeschlossen. Das Grundrecht wird jedoch verletzt, wenn eine Gruppe von Rechtsanwendungsbetroffenen anders als eine andere behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten (z. B. BVerfG, Beschluss vom 26. Oktober 2005, Az: 1 BvR 1921/04 u. a., dokumentiert in juris, Rdnr. 36).

Für den Senat ist bereits nicht nachvollziehbar, weshalb das BSG der Personengruppe des § 1 Abs. 1 Satz 2 AAÜG, also der Personen, die irgendwann vor dem 30. Juni 1990 (aber nicht am 30. Juni 1990) konkret einbezogen waren (BSG, a. a. O.), die Personengruppe gegenüberstellt, die nie konkret einbezogen war, aber zumindest am 30. Juni 1990 nach den Regeln der Versorgungssysteme alle Voraussetzungen für die Einbeziehung an diesem Stichtag erfüllt hatte. Verfassungsrechtlich relevant ist nämlich nur die Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem (z. B. BVerfG, Beschluss vom 13. März 2007, Az: 1 BvF 1/05, dokumentiert in juris, Rdnr. 89). Hier unterscheiden sich jedoch die Tatbestände in wesentlichen Gesichtspunkten. § 1 Abs. 1 Satz 2 AAÜG knüpft nämlich an ein in der Vergangenheit verliehenes Versorgungsprivileg an, welches ein Bedürfnis nach der im AAÜG vorgesehenen Sonderprüfung der Rentenwirksamkeit erzielter Arbeitsentgelte anzeigt. Bei Personen, die nie in ein Zusatzversorgungssystem einbezogen waren, besteht ein solches Bedürfnis hingegen nicht.

Richtiger wäre es nach Ansicht des Senats ohnehin, der Personengruppe des § 1 Abs. 1 Satz 2 AAÜG als Vergleichsgruppe die Personen gegenüberzustellen, die nicht konkret einbezogen waren, irgendwann vor dem – aber nicht am – 30. Juni 1990 jedoch alle Voraussetzungen für die Einbeziehung erfüllt hatten.

Das Bundesverfassungsgericht führt zum Vergleich dieser Personengruppen aus (Beschluss vom 26. Oktober 2005, a. a. O., Rdnr. 45):

"Der von § 1 Abs. 1 Satz 2 AAÜG erfasste Personenkreis hat seine Zugehörigkeit zu einem Zusatzversorgungssystem als Folge eines Ausscheidens vor dem Leistungsfall verloren. Es bestanden also zunächst nach dem Recht der Deutschen Demokratischen Republik rechtlich gesicherte Anwartschaften. Diese wollte der gesamtdeutsche Gesetzgeber erhalten (vgl. BTDrs. 12/826, S. 21). Der hier in Frage stehende Personenkreis (gemeint ist der Personenkreis, der irgendwann vor dem 30. Juni 1990, aber nicht am 30. Juni 1990 alle Voraussetzungen für die Einbeziehung erfüllt hatte) hatte dagegen solche Rechtspositionen im Recht der Deutschen Demokratischen Republik zu keinem Zeitpunkt inne. Für eine rechtlich gesicherte Verbesserung der Altersversorgung über die Leistungen der Sozialpflichtversicherung hinaus stand dem betroffenen Personenkreis im Rentenrecht der Deutschen Demokratischen Republik der Beitritt zur Freiwilligen Zusatzrentenversicherung offen, war dort allerdings - anders als in vielen Systemen der Zusatzversorgung - mit eigenen Beitragsleistungen verbunden. Es bestand daher keine verfassungsrechtliche Verpflichtung der gesamtdeutschen Gesetzgebung und Rechtsprechung, diesen Personenkreis den durch § 1 Abs. 1 Satz 2 AAÜG begünstigten Personen gleichzustellen und insoweit die Grundentscheidung des Gesetzgebers abzuschwächen, eine Einbeziehung von Sozialpflichtversicherten in die Zusatzversorgungssysteme über den 30. Juni 1990 hinaus im Interesse einer schnellen Herbeiführung der rentenrechtlichen Renteneinheit zu untersagen."

Die gleichen Überlegungen gelten für einen Vergleich zwischen den von § 1 Abs. 1 Satz 2 AAÜG betroffenen Personen und denjenigen, die nach der Rechtsprechung des BSG vom fiktiven Anspruch profitieren sollen. Auch die fiktiv in den Anwendungsbereich des AAÜG Einbezogenen hatten zu Zeiten der DDR keine Rechtsposition inne, die ihnen einen Zugang zu einer zusätzlichen Altersversorgung aus einem Zusatzversorgungssystem ermöglicht hätte. Auch ihnen stand die Möglichkeit offen, der Freiwilligen Zusatzrentenversicherung beizutreten. Diese Punkte lässt das BVerfG genügen, um eine Ungleichbehandlung mit den von § 1 Abs. 1 Satz 2 AAÜG erfassten Personen zu rechtfertigen. Dasselbe muss dann auch bei einem Vergleich der von § 1 Abs. 1 Satz 2 AAÜG erfassten Personen und den Personen gelten, die am 30. Juni 1990 die Voraussetzungen für die Einbeziehung in ein Zusatzversorgungssystem erfüllt hatten.

II.

Nach der Rechtsprechung des früheren 4. Senats des BSG hängt der Anspruch auf eine fiktive Einbeziehung im hier allein in Frage kommenden Fall gemäß § 1 der Verordnung über die zusätzliche Altersversorgung der technischen Intelligenz in den volkseigenen und ihnen gleichgestellten Betrieben vom 17. August 1950 (GBl. der DDR I, Nr. 93 S. 844 – im Folgenden: VO-AVItech) i. V. m. § 1 Abs. 1 Satz 1 der 2. DB von drei Voraussetzungen ab, die alle zugleich vorliegen müssen. Generell war dieses Versorgungssystem eingerichtet für (1.) Personen, die berechtigt waren, eine bestimmte Berufsbezeichnung zu führen (persönliche Voraussetzung) und (2.) die entsprechende Tätigkeit tatsächlich ausgeübt haben (sachliche Voraussetzung), und zwar (3.) in einem volkseigenen Produktionsbetrieb im Bereich der Industrie oder des Bauwesens oder einem gleichgestellten Betrieb (betriebliche Voraussetzung).

Nach der Rechtsprechung des BSG müssen diese drei Voraussetzungen, damit das AAÜG überhaupt anwendbar ist, am 30. Juni 1990 vorliegen. Dies ergibt die Auslegung des § 1 Abs. 1 Satz 1 AAÜG, weil "aufgrund einer Zugehörigkeit zu einem Zusatzversorgungssystem" im Sinne der Vorschrift Anwartschaften nur nach den Versorgungsregelungen der DDR erworben werden konnten. Gegenstand einer Rechtsposition vor dem Versorgungsfall selbst konnte danach außer einer erteilten Versorgungszusage ggf. der Anspruch auf eine solche Zusage sein. Die Fortwirkung der maßgeblichen Rechtspositionen bis zum 30. Juni 1990 setzt § 1 Abs. 1 Satz 1 AAÜG voraus, weil sonst – mit Ausnahme der in § 1 Abs. 1 Satz 2 AAÜG bundesrechtlich ausdrücklich durch Unterstellung getroffenen Regelung – keine Position besteht, die im Sinne von § 4 Abs. 5 AAÜG in die Rentenversicherung überführt werden könnte. Denn schon überführungsfähige "Anwartschaften" nach § 22 Abs. 3 des Rentenangleichungsgesetzes (RAG) vom 28. Juni 1990 (GBl. der DDR I S. 495) konnten bei Inkrafttreten der Vorschrift am 1. Juli 1990 (§ 35 RAG) nur Positionen sein, die im Versorgungsfall einen Versorgungsanspruch begründet hätten. Dies war nur angesichts noch gültiger Versorgungszusagen möglich. Entsprechend kann auch der Anspruch auf deren Erteilung nach den gesetzlichen Voraussetzungen, soweit er auf Grund der geltenden Versorgungsvorschriften schon vor Schließung der Zusatzversorgungssysteme erloschen war, von einer Auslegung des Begriffs der Anwartschaft in § 1 Abs. 1 Satz 1 AAÜG nicht betroffen sein.

In Anwendung dieser Maßstäbe hatte der Kläger am 1. August 1991 (dem Tag des Inkrafttretens des AAÜG) keinen fiktiven Anspruch auf Einbeziehung in das Versorgungssystem der AVItech, da die betriebliche Voraussetzung nicht erfüllt ist.

Der Kläger war am 30. Juni 1990 nicht in einem volkseigenen Produktionsbetrieb im Bereich der Industrie oder des Bauwesens beschäftigt. Eine Versorgungsanwartschaft konnte nur bei einer Beschäftigung in einem volkseigenen Produktionsbetrieb in der Industrie oder im Bauwesen (oder in einem gleichgestellten Betrieb) erworben werden (BSG, Urteil vom 10. April 2002, Az: B 4 RA 10/02 R, SozR 3-8570 § 1 AAÜG Nr. 5, S. 30). Dabei muss es sich um einen VEB gehandelt haben, der organisatorisch dem industriellen Produktionssektor der DDR-Planwirtschaft zugeordnet war (siehe BSG, Urteil vom 9. April 2002, Az: B 4 RA 41/01 R, SozR 3-8570 § 1 AAÜG Nr. 6, S. 47; zu dieser Voraussetzung auch SG Dresden, Urteil vom 10. November 2008, Az: S 24 R 1168/07, dokumentiert in juris, Rdnr. 39).

Dabei muss der Senat nicht entscheiden, ob es sich bei dem VEB Zementanlagenbau Ende Juni 1990 tatsächlich um eine "leere Hülle" gehandelt hat und welche Folgerungen daraus für die Frage zu ziehen sind, ob der Betrieb ein Produktionsbetrieb im Sinne der Rechtsprechung des BSG war. Jedenfalls lassen die Umwandlungsunterlagen den Schluss zu, dass der Betrieb Ende Juni 1990 nicht mehr der DDR-Planwirtschaft zugeordnet war.

Es ist schon zweifelhaft, ob es im Juni 1990 eine Planwirtschaft im Sinne des Art. 9 Abs. 3 der Verfassung der DDR (VerfDDR), auf die das BSG abstellt (siehe BSG, a. a. O., S. 42), überhaupt noch gab. Nach Art. 9 Abs. 3 Satz 2 VerfDDR war die Wirtschaft der DDR sozialistische Planwirtschaft. Darunter verstand man eine auf der Grundlage eines einheitlichen Planes durch den sozialistischen Staat gelenkte Wirtschaft (siehe Wörterbuch der Ökonomie des Sozialismus, Dietz-Verlag, Berlin 1989). Auch nach bundesdeutschem Verständnis sind Elemente einer Plan- oder Zentralverwaltungswirtschaft die Zentralisierung der (wesentlichen) Entscheidungen und das Vorhandensein eines Gesamtplans (siehe Papier in Benda u. a., Handbuch des Verfassungsrechts, S. 611).

Im Juni 1990 existierte in der DDR aber einerseits das Leitungsorgan der sozialistischen Planwirtschaft nicht mehr und andererseits war auch der Gesamtplan außer Kraft gesetzt worden. Die Staatliche Plankommission (SPK), dessen Aufgabe die gesamtstaatliche Planung der Entwicklung der Volkswirtschaft und die Kontrolle der Durchführung der Pläne (siehe § 1 Abs. 1 des Statuts der Staatlichen Plankommission vom 9. August 1973, GBl. DDR I, S. 417) gewesen war, wurde bereits im Januar 1990 aufgelöst (siehe Pkt. 5. des Beschlusses über die Gründung eines Wirtschaftskomitees des Ministerrates vom 18. Januar 1990, GBl. DDR I, S. 24). Mit Anordnung vom 14. März 1990 wurden zahlreiche Plananordnungen, darunter die Anordnung über den Fünfjahrplan 1986 bis 1990, aufgehoben (Anordnung über die Aufhebung von Rechtsvorschriften auf den Gebieten der Planung und der Materialwirtschaft, GBl. DDR I, S. 187). Die auch die sozialistische Planwirtschaft kennzeichnenden Elemente einer Zentralverwaltungswirtschaft – zentrale Leitung und Gesamtplan – waren damit nicht mehr vorhanden. Außerdem hatte sich die DDR bereits mit dem Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 18. Mai 1990 zur sozialen Marktwirtschaft bekannt (siehe dort Art. 1 Abs. 3) und sich verpflichtet, entgegenstehende Vorschriften der VerfDDR nicht mehr anzuwenden (Art. 2 Abs. 2; siehe Art. 4 Abs. 1 i. V. m. Buchstabe A. Ziff. II. Nr. 3 des Gemeinsamen Protokolls über Leitsätze, wonach unternehmerische Entscheidungen frei von Planvorgaben zu sein hatten). Damit hatte sich die DDR von der zentral gelenkten Planwirtschaft verabschiedet (siehe Dornberger/Dornberger, DB 1990, S. 3007, 3008). Der Vertrag wurde mit Gesetz vom 21. Juni 1990 ratifiziert (Inkrafttreten mit Verkündung am 25. Juni 1990, GBl. DDR I, S. 331). Vor diesem Hintergrund kann bezweifelt werden, ob es am 30. Juni 1990, auf den das BSG ausdrücklich abstellt (BSG, a. a. O., S. 47), tatsächlich noch einen industriellen Produktionssektor der DDR-Planwirtschaft gegeben hat.

Jedenfalls war der VEB Zementanlagenbau ab dem Zeitpunkt, als er nach handelsrechtlichen Grundsätzen und damit nicht mehr nach den Bestimmungen der Rechnungsführung und Statistik (RuSt) bilanzierte, nicht mehr in das Planwirtschaftssystem der DDR eingebunden. Die durch die RuSt ermittelten Zahlen dienten nämlich der Leitung und Planung der Volkswirtschaft der DDR (§ 2 Abs. 1 und 2 der Verordnung über Rechnungsführung und Statistik vom 11. Juli 1985, GBl. DDR I, S. 261) und damit einem anderen Zweck als eine handelsrechtliche Bilanzierung. Das System der RuSt entsprach den Erfordernissen einer zentralgeleiteten Wirtschaft, ein einheitliches Rechnungswesen in der gesamten Volkswirtschaft zu schaffen, das nicht nur die einzelnen Betriebe und Kombinate erfasste, sondern zugleich eine volkswirtschaftliche Gesamtrechnung darstellte (von Wysocki/Glaubig/Rammert/Wenzler, DB 1990, S. 945). Eine Rechnungslegung nach den Grundsätzen der RuSt war somit erforderlich, um ablesen zu können, ob ein Betrieb seine Planvorgaben erreicht hatte. Bilanzierte er nicht mehr nach diesen Erfordernissen, waren gestellte Planvorgaben überflüssig, da die nach handelsrechtlichen Grundsätzen ermittelten Ergebnisse für die Erfordernisse der sozialistischen Planwirtschaft nicht mehr verwertbar waren. Die Leitung des Betriebes entzog sich damit auch nicht eigenmächtig den Vorgaben der Planwirtschaft (zu den Aufgaben von Kombinatsbetrieben siehe § 6 Abs. 1 der Verordnung über die volkseigenen Kombinate, Kombinatsbetriebe und volkseigenen Betriebe vom 8. November 1979 (KombinatsVO 1979, GBl. DDR I, S. 355)), da die Betriebe nach § 2 Abs. 1 der Verordnung zur Umwandlung von volkseigenen Kombinaten, Betrieben und Einrichtungen in Kapitalgesellschaften vom 1. März 1990 (UmwVO, GBl. DDR I, S. 107) (zwingend) in Kapitalgesellschaften umzuwandeln und dazu bilanzrechtliche Vorgaben zu erfüllen waren (siehe § 4 Abs. 2 UmwVO).

Aus den vorliegenden Unterlagen geht hervor, dass für den VEB Zementanlagenbau zum 19xx eine Abschlussbilanz nach RuSt-Grundsätzen erstellt worden ist und zum 19xx eine Eröffnungsbilanz nach handelsrechtlichen Regelungen. Die Bilanzen wurden unterzeichnet und von der Finanzrevision bestätigt. Letztendlich dokumentierte die Betriebsleitung damit auch, nicht mehr in das planwirtschaftliche System der DDR (sofern dies überhaupt noch bestand) eingebunden zu sein, wobei der Betrieb die daraus folgenden Anforderungen wegen der Abkehr von der RuSt ohnehin nicht mehr erfüllen konnte. Er wollte vielmehr der Verpflichtung des § 2 Abs. 1 UmwVO nachkommen. Damit war der VEB Zementanlagenbau bereits ab Mai 1990 und somit auch am 30. Juni 1990 nicht mehr organisatorisch dem industriellen Produktionssektor der DDR-Planwirtschaft zugeordnet (vgl. auch SG Dresden, a.a. O., Rdnr. 54, welches bei der Frage, ab wann der VEB nicht mehr dem industriellen Produktionssektor der DDR-Planwirtschaft unterstand, auf den Zeitpunkt der notariellen Umwandlungserklärung abstellt).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Der Senat hat die Revision gem. § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen, da die Sache grundsätzliche Bedeutung hat.
Rechtskraft
Aus
Saved