L 6 U 3418/09

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 2 U 2629/07
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 U 3418/09
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Der Unfallversicherungsträger darf bei seiner nach § 76 Abs. 1 SGB VII zu treffenden Ermessensentscheidung über einen Abfindungsantrag eine geringere als die altersübliche Lebenserwartung nur dann berücksichtigen, wenn sie erheblich ist. Die verbliebene Lebenserwartung muss die Zeit unterschreiten, die dem für die Abfindung festgesetzten Kapitalwert nach der Verordnung über die Berechnung des Kapitalwertes bei Abfindung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung entspricht.

2. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Frage, ob und ggf. in welchem Maße die Lebenserwartung herabgesetzt ist, ist der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung einer Tatsacheninstanz.
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 27.05.2009 und der Bescheid der Beklagten vom 26.04.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.06.2007 aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, den Antrag des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden.

Die Beklagte hat dem Kläger seine außergerichtlichen Kosten aus beiden Rechtszügen zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Strittig ist, ob die Beklagte ermessensfehlerfrei den Antrag des Klägers auf Abfindung seiner Verletztenrente abgelehnt hat.

Der 1958 geborene Kläger erlitt am 04.10.2002 bei einem Sturz eine beiderseitige Fersenbeinfraktur. Wegen der Unfallfolgen bezieht er von der Beklagten Rente auf unbestimmte Zeit in Höhe von 20 vom Hundert (v. H.) der Vollrente (Bescheid vom 18.08.2005).

Am 08.02.2007 beantragte der Kläger die Abfindung seiner Rente. Die Beklagte holte deshalb von dem Internisten Dr. R. das auf Grund einer ambulanten Untersuchung erstattete Gutachten vom 19.03.2007 ein. Dieser kam zu dem Ergebnis, als Risikofaktoren lägen vor eine Adipositas mit BMI (Body-Mass-Index) von 33,2, ein Alkoholkonsum von ca. acht bis zehn Flaschen Bier pro Woche und ein Nikotinkonsum von einer Packung Zigaretten pro Tag seit ca. 32 Jahren. In seiner Beurteilung führte er aus, die Lebenserwartung sei herabgesetzt. Allein für den Nikotin-abusus sei eine Reduktion um bis zu acht Jahren beschrieben worden. Dazu kämen deutlich erhöhte Leberwerte, die am ehesten durch den Alkoholabusus bedingt seien sowie die Adipositas. Ein exakter Zeitraum der Lebensverkürzung unter Berücksichtigung der mehreren Faktoren könne nicht angegeben werden. Er dürfte aber deutlich über die acht Jahre wegen des Nikotinabusus hinausgehen.

Mit Bescheid vom 26.04.2007 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Rentenabfindung mit der Begründung ab, die Lebenserwartung des Klägers sei ausweislich des Gutachtens von Dr. R. in Folge von Nikotinabusus, Adipositas sowie pathologischer Nüchtern-Serumglucose sowie deutlich erhöhter Leberwerte herabgesetzt.

Hiergegen erhob der Kläger mit der Begründung Widerspruch, der zu leistende Abfindungsbetrag in Höhe von 55.507,46 Euro wäre bei Zahlung einer monatlichen Rente in Höhe von 330 Euro nach etwa 14 Jahren erreicht. Er wäre zu diesem Zeitpunkt 62 Jahre alt. Dieses Lebensalter werde er in jedem Fall erreichen. Im Hinblick auf seinen Gesundheitszustand sei sogar davon auszugehen, dass durchaus noch eine Lebenserwartung von mindestens 40 bis 45 Jahren bestehe. Die Beklagte habe ferner nicht beachtet, dass er auch im eigenen Interesse versuche, das Rauchen vollständig einzustellen, sein Körpergewicht zu reduzieren und die Leberwerte wieder auf einen Normalwert zu bekommen. Der Widerspruch blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 29.06.2007). Soweit der Kläger nach seinen Angaben versuche, das Körpergewicht zu reduzieren, die Leberwerte auf einen Normalwert zu bekommen und das Rauchen vollständig einzustellen, sei dies bisher offensichtlich nicht eingetreten.

Der Kläger erhob am 06.07.2007 Klage bei dem Sozialgericht Ulm (SG) und wiederholte seinen bisherigen Vortrag. Die Beklagte trat der Klage entgegen.

Das SG erhob Beweis durch Einholung des Gutachtens, das der Chefarzt der Medizinischen Klinik II des Klinikums H., PD Dr. Sch., am 29.06.2008 erstattete. Der Sachverständige beschrieb neben dem Zustand nach osteosynthetischer Versorgung der Fersenbeinfrakturen vom Oktober 2002 und einem Zustand nach Patellatrümmerfraktur rechts und traumatischer Hüftluxation rechts nach Motoradunfall von 1981 sowie einem Zustand nach Bizepssehnennaht bei distalem Bizepssehnenausriss links 1999 als kardiovaskuläre Risikofaktoren eine Hyperlipoproteinämie, Adipositas, Nikotinabusus (aktuell deutliche Konsumreduktion), pathologische Glucosetoleranz, positive Familienanamnese sowie einen Verdacht auf arterielle Hypertonie mit leicht hypertrophiertem linkem Ventrikel, außerdem eine ausgeprägte Fettleber und eine asymptomatische Cholezystolithiasis. In seiner Beurteilung führte PD Dr. Sch. aus, der Kläger rauche jetzt insgesamt nur noch am Wochenende eine Schachtel Zigaretten. Diese Aussage könne mit Hilfe des CO-Hb-Wertes belegt werden. Danach könne höchstens ein Konsum von 5 bis 6 Zigaretten pro Tag vorliegen. Da die Serumglucose deutlich erhöht sei, müsse von einem Diabetes mellitus Typ 2b ausgegangen werden. Außerdem bestehe eine leichte Hyperlipoproteinämie. Auf Grund der Familienanamnese ergebe sich ebenfalls ein Hinweis für ein kardiovaskuläres Risiko, weil der Vater des Klägers zwischen dem 65. und 70. Lebensjahr sowohl einen Schlaganfall als auch einen Herzinfarkt erlitten habe. Im Vergleich zum Vorgutachten habe der Kläger 5 kg abgenommen. Die Angaben des Klägers über einen verringerten Nikotin- und Alkoholgebrauch seien durch die gemessenen CO-Hb- bzw. den Rückgang der Leberwerte bestätigt worden. Insgesamt sei die Lebenserwartung sicherlich im Hinblick auf das ausgeprägte kardiovaskuläre Risikoprofil reduziert. Die genaue Reduktion der Lebenserwartung könne jedoch nicht angegeben werden. Insgesamt scheine sich der Kläger seines ausgeprägten gesundheitlichen Risikoprofils nach und nach bewusst zu werden. Allgemein könne laut Statistischem Bundesamt nach der Sterbetafel 2004/2006 bei einem Mann im Alter von 49 Jahren von einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 29,75 Jahren ausgegangen werden. Würden von diesem Wert acht Jahre abgezogen, sei aktuell von einer Lebenserwartung von weiteren 21,75 Jahren auszugehen.

Die Beklagte trug hierzu vor, wegen der neben dem Nikotinkonsum zusätzlich bestehenden Risikofaktoren sei eine weitere Herabsetzung der Lebenserwartung gegeben. Sie legte Internet-Ausdrucke zu den Problemkreisen Übergewicht, Fettleber und Diabetes mellitus vor.

Mit Urteil vom 27.05.2009 - den Prozessbevollmächtigten des Klägers zugestellt am 22.07.2009 - wies das SG die Klage ab. In den Entscheidungsgründen führte es aus, die Beklagte habe die Gewährung einer Abfindung ohne Ermessensfehler abgelehnt.

Mit seiner am 28.07.2009 bei dem Landessozialgericht eingelegten Berufung verfolgt der Kläger sein Ziel weiter. Er hat seinen Vortrag aus dem Widerspruchs- und Klageverfahren wiederholt und vertieft. Weil nach dem Gutachten von Dr. Sch. seine Lebenserwartung bei 21,75 Jahren liege, werde der Abfindungsbetrag bei Weiterzahlung seiner monatlichen Rente nach ca. 14 Jahren und mithin deutlich unter der noch bestehenden Lebenserwartung erreicht.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 27.05.2009 und den Bescheid der Beklagten vom 26.04.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.06.2007 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts einen neuen Bescheid zu erteilen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen, hilfsweise die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen.

Sie trägt vor, die Behauptung des Klägers, er habe nach dem Gutachten des Dr. Sch. noch eine Lebenserwartung von 21,75 Jahren, sei unzutreffend. Der Sachverständige habe nämlich lediglich am Beispiel des Nikotinabusus aufgezeigt, wie sich die durchschnittliche Lebenserwartung des Klägers durch diesen verringere. Ausdrücklich habe er betont, dass die zusätzlich bestehenden Risikofaktoren seine Lebenserwartung weiter herabsetzen würden. Gerade die Kombination seiner Risikofaktoren aus Nikotinabusus, Adipositas, ausgeprägter Fettleber, Diabetes mellitus Typ 2b, arterieller Hypertonie, Hyperlipoproteinämie, Cholezystolithiasis und positiver Familienanamnese hinsichtlich des Risikos, einen Schlaganfall bzw. Herzinfarkt zu erleiden, schränke die Lebenserwartung erheblich ein. Die Annahme, dass bei diesen zahlreichen Risikofaktoren die Lebenserwartung die Zeit unterschreite, die dem für die Abfindung festgesetzten Kapitalwert entspreche, sei daher durchaus gerechtfertigt. Hieran vermöge auch die geringe Gewichtsreduktion und die Einschränkung des Nikotin- und Alkoholkonsums nichts zu ändern.

Wegen weiteren Einzelheiten wird auf die Akten des Senats, des SG und auf die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß §§ 143, 144 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte und form- sowie fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig.

Die Berufung ist auch begründet. Das SG hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Die Beklagte hat den geltend gemachten Anspruch des Klägers auf eine Abfindung nicht frei von Ermessensfehlern abgelehnt.

Versicherte, die Anspruch auf eine Rente wegen einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von weniger als 40 v. H. haben, können auf ihren Antrag mit einem dem Kapitalwert der Rente entsprechenden Betrag abgefunden werden. Die Bundesregierung bestimmt durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Berechnung des Kapitalwertes (§ 76 Abs. 1 S. 1 und 3 des Siebten Buches des Sozialgesetzbuchs - SGB VII -). Auf der Grundlage des § 76 Abs. 1 S. 3 SGB VII ist die Verordnung über die Berechnung des Kapitalwertes bei Abfindung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung (AbfindungsVO) vom 17.08.1965 (BGBl. I S. 894) in der Fassung durch Art. 21 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes vom 07.08.1996 (BGBl. I S. 1254) anzuwenden. Nach § 1 Abs. 1 S. 1 AbfindungsVO richtet sich der Kapitalwert in Fällen, in denen ein Anspruch auf eine Rente auf unbestimmte Zeit wegen einer MdE durch Folgen des Arbeitsunfalls um weniger als 40 v. H. innerhalb von 15 Jahren nach dem Unfall abgefunden wird, nach der Anzahl der zur Zeit des Unfalls vollendeten Lebensjahre des Verletzten und nach der seit dem Unfall vergangenen Zeit. Das Abfindungskapital ist die mit dem Kapitalwert aus der Tabelle der Anlage 1 vervielfältigte Jahresrente.

Die Abfindung einer Verletztenrente in Höhe von 20 v. H. der Vollrente steht, wie dem Wortlaut des § 76 Abs. 1 S. 1 SGB VII ("können") zu entnehmen ist, im Ermessen des Versicherungsträgers. Es handelt sich hierbei nicht um ein bloßes "Kompetenz-Kann" (BSG vom 18.04.2000 - B 2 U 19/99 R, zitiert nach Juris). Dies bedeutet, dass die Beklagte ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten hat (vgl. § 39 Abs. 1 S. 1 des Ersten Buches des Sozialgesetzbuchs - SGB I). Dem entsprechend hat der Kläger einen Anspruch auf pflichtgemäße Ausübung des Ermessens (vgl. § 54 Abs. 2 S. 2 SGG). Bei seiner Entscheidung hat der Versicherungsträger nach sachlichen Gesichtspunkten das eigene Verwaltungsinteresse und das Interesse des Versicherten gegeneinander abzuwägen (Wiesner, BG 1985, 327). Dabei muss er seiner Ermessensentscheidung einen zutreffenden Sachverhalt zu Grunde legen (Meyer-Ladewig/Keller, SGG, 9. Aufl., § 54 Rdz. 28b).

Eine Ablehnung der Abfindung kommt grundsätzlich in Betracht, wenn die Lebenserwartung des Versicherten geringer ist als die altersübliche. Insoweit muss der Versicherungsträger, ebenso wie bei anderen Tatsachen, auf die die Ermessensentscheidung fußt, von der tatsächlich gegebenen Sachlage ausgehen. Ihm ist bei der Beurteilung der Lebenserwartung kein Entscheidungsspielraum eingeräumt (LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21.12.1994 - L 3 U 173/94 in Breithaupt 1995, 613, 614). Die Ablehnung eines Abfindungsantrags kann nicht auf jegliche Verkürzung der Lebenserwartung gestützt werden; vielmehr kommt sie nur dann in Betracht, wenn die Lebenserwartung im Einzelfall erheblich geringer ist, als beim Durchschnitt der gleichaltrigen männlichen Personen, wobei sie die Zeit unterschreiten muss, die dem für die Abfindung festgesetzten Kapitalwert nach der oben zitierten AbfindungsVO entspricht (LSG Rheinland-Pfalz a. a. O., Lauterbach-Sacher, Gesetzliche Unfallversicherung, Rdz. 21 zu § 76 SGB VII, Stand Januar 2003). Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, so kann der Gesichtspunkt der Lebenserwartung des Versicherten das Interesse des Versicherungsträgers an der Verweigerung der Abfindung nicht begründen, zumal dieser durch eine Abfindung im Regelfall bereits dadurch begünstigt wird, dass er den üblichen Verwaltungsaufwand für die Rentenzahlung erspart (LSG Rheinland-Pfalz a. a. O.).

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage und damit auch hinsichtlich der Frage, ob und ggf. in welchem Maße die Lebenserwartung des Versicherten herabgesetzt ist, ist bei der auf die Zukunft gerichteten Verpflichtungsklage der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung, auch wenn sie wie hier in Verbindung mit der Anfechtungsklage erhoben wird (Hk-SGG-Castendiek, Rdz. 76 zu § 54 m. N.). Ob dies stets auch dann gilt, wenn Änderungen zum Nachteil des Anspruchstellers eingetreten sind, kann offen bleiben, denn jedenfalls bei einer Veränderung des Gesundheitszustands des Versicherten ist stets nach der Sachlage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung zu entscheiden (BSG SozR 4 - 1500 § 54 Nr. 1). Ebenso ist bei der Anwendung des § 1 Abs. 1 Satz 1 der AbfindungsVO einschließlich der Anlage 1 bei der Ermittlung der "seit dem Unfall vergangenen Zeit" der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in einer Tatsacheninstanz der Sozialgerichtsbarkeit zu berücksichtigen.

Da der Kläger zur Zeit des Eintritts des Versicherungsfalls am 04.10.2002 zwischen 40 und 45 Jahre alt war und zwischen dem Versicherungsfall und der mündlichen Verhandlung vom 15.04.2010 ein Zeitraum von mehr als sieben Jahren vergangen ist, beträgt der Kapitalwert nach der Tabelle der Anlage 1 zur AbfindungsVO 14,5 Jahre. Nach Auffassung des Senats ist aber nicht wahrscheinlich, dass die Lebenserwartung des Klägers im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vom 15.04.2010 geringer ist als 14,5 Jahre. Wie PD Dr. Sch. in seinem Gutachten vom 29.06.2008 schlüssig dargelegt hat, kann bei einem Mann im Alter von 49 Jahren von einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 29,75 Jahren ausgegangen werden. Dies bedeutet aber nicht, dass die durchschnittliche Lebenserwartung eines Mannes im Alter von 51 Jahren, das der Kläger im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vom 15.04.2010 erreicht hatte, nur mit 27,75 Jahren anzusetzen ist. Denn mit zunehmendem Lebensalter ist jeweils auf der Grundlage des erreichten Lebensalters eine Prognose über die weitere Lebenserwartung anzustellen. Welcher exakte Wert die durchschnittliche Lebenserwartung eines am 15.04.2010 51-jährigen Mannes erreicht, kann hier indes offen bleiben. Denn auch wenn man zu Ungunsten des Klägers von der durchschnittlichen Lebenserwartung eines 51-Jährigen von 27,75 Jahren ausgeht, ist nicht wahrscheinlich, dass die Lebenserwartung des Klägers im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vom 15.04.2010 geringer war als 14,5 Jahre. Zwar ist die Lebenserwartung des Klägers durch mehrere Faktoren reduziert. An erster Stelle ist hier sein Nikotinkonsum zu erwähnen, der für Dr. R. Anlass gewesen ist, eine Lebensverkürzung um 8 Jahre zu bejahen. Auch PD Dr. Sch. ist bei der Berechnung der Lebensverkürzung von einer nikotinbedingten Verkürzung um 8 Jahre ausgegangen und hat so "aktuell", also bezogen auf den Zeitpunkt seiner Untersuchung, eine weitere Lebenserwartung von 21,75 Jahren errechnet. Bezogen auf den Zeitpunkt 15.04.2010 ergibt sich eine weitere Lebenserwartung von mindestens 19,75 Jahren. Sowohl Dr. R. als auch PD Dr. Sch. sind nun freilich von einer weiteren Herabsetzung der Lebenserwartung in Folge der zusätzlich bestehenden gesundheitlichen Risikofaktoren ausgegangen. Zutreffend hat die Beklagte zuletzt in ihrem Schriftsatz vom 13.10.2009 auf die Risikofaktoren der Adipositas, der ausgeprägten Fettleber, eines Diabetes mellitus Typ 2b, einer arteriellen Hypertonie, Hyperlipoproteinämie, Cholezystolithiasis und einer positiven Familienanamnese hinsichtlich des Risikos eines Schlaganfalls bzw. eines Herzinfarktes hingewiesen. Sowohl Dr. R. als auch PD Dr. Sch. haben jedoch übereinstimmend dargelegt, die genaue Reduktion der Lebenserwartung des Klägers könne anhand dieser zusätzlichen Risikofaktoren nicht sicher bestimmt werden. Dies leuchtet ein, da einer Prognoseentscheidung zur Lebenserwartung wegen der Unvorhersehbarkeit der Zukunft stets eine große Unsicherheit anhaftet. Sie kann deshalb immer nur als Einschätzung im Sinne der Wahrscheinlichkeit verstanden werden. Hier müssten die zusätzlichen Risikofaktoren zu einer weiteren Reduzierung der Lebenserwartung um wenigstens 19,75 - 14,5 = 5,25 Jahren führen.

Dies hält der Senat jedenfalls deshalb nicht für wahrscheinlich, weil bei dem Kläger eine Tendenz zum Besseren bei den Risikofaktoren Nikotinkonsum, Alkoholkonsum und Übergewicht nachgewiesen ist. Bereits in seinem Widerspruchsschreiben vom 10.50.2007 hat der Kläger auf seine Bemühungen hingewiesen, im eigenen Interesse das Rauchen vollständig einzustellen, das Körpergewicht zu reduzieren und seine Leberwerte wieder auf einen Normalwert zu bekommen. Die im Verlaufe des gerichtlichen Verfahrens durchgeführten Ermittlungen haben nun die vom Kläger behauptete Hinwendung zu einer gesundheitsbewussten Lebensweise durch objektivierbare Daten in vollem Umfang bestätigt. PD Dr. Sch. konnte auf Grund seiner Untersuchung vom 17.06.2008 den Nachweis führen, dass der Kläger sein Körpergewicht von 120 auf 115 kg reduziert und seinen Alkoholkonsum sowie einen Nikotinkonsum deutlich eingeschränkt hat. Der Kläger raucht jetzt nach seinen Angaben gegenüber PD Dr. Sch. nur noch an den Wochenenden und dabei insgesamt ca. eine Packung gegenüber dem früheren Konsum von einer Schachtel Zigaretten täglich. Dass der Kläger damit wahrheitsgemäße Angaben gemacht hat, zeigt die durch PD Dr. Sch. durchgeführte Messung des CO-Hb-Wertes, der nur noch 2,1 % betrug bei einem Richtwert von ( 2,0. Danach kann jetzt höchstens noch ein Konsum von fünf bis sechs Zigaretten pro Tag vorliegen. Auch die Angaben des Klägers über die Einschränkung seines Alkoholkonsums sind glaubhaft. Ihnen entspricht nämlich der signifikante Rückgang der Leberwerte. So betrug bei der Untersuchung durch PD Dr. Sch. die GOT noch 69 U/l (nach dem Gutachten von Dr. R. noch 165 U/l), die GPT 96 U/l (Vorbefund 2010 U/l) und die Gamma-GT 186 U/l (Vorbefund 574 U/l).

Unter diesen Umständen ist nicht wahrscheinlich, dass die Lebenserwartung des Klägers den Wert von 14,5 Jahren unterschreitet, der dem für die Abfindung festgesetzten Kapitalwert entspricht. Nach dem Grundsatz der objektiven Beweis- bzw. Feststellungslast, wonach jeder Beteiligte die Folgen der Nichterweislichkeit ihm günstiger Tatsachen zu tragen hat, geht dies zu Lasten der Beklagten.

Die Beklagte ist mithin bei ihrer Ermessensentscheidung von unzutreffenden Voraussetzungen ausgegangen, indem sie von einer erheblichen Herabsetzung der Lebenserwartung des Klägers ausgegangen ist. Wegen dieses Ermessensfehlers waren die angefochtenen Bescheide aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger einen erneuten Bescheid über seinen Abfindungsantrag zu erteilen. Hierbei wird die Beklagte davon auszugehen haben, dass bei dem Kläger keine Verkürzung seiner Lebenserwartung vorliegt, die eine Ablehnung des Abfindungsantrags rechtfertigen könnte.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG hat der Senat die Revision zugelassen. Bisher liegt keine Rechtsprechung des BSG zu der Frage vor, ob eine Verkürzung der Lebenserwartung etwa nur bei klaren Missbrauchsfällen (z.B. nach Bekanntwerden einer Geschwulsterkrankung mit infauster Prognose) berücksichtigt werden darf, wenn nicht, welches Ausmaß die Verkürzung der Lebenserwartung haben muss, um die Ablehnung einer Abfindung zu rechtfertigen und ob dem Versicherungsträger hierbei ein Beurteilungsspielraum eingeräumt ist. Ebenso wenig existiert Rechtsprechung zu der Frage, auf welchen Zeitpunkt bei der Anwendung der Anlage 1 der AbfindungsVO abzustellen ist. In seinem Urteil vom 28.04.2004 - B 2 U 10/03 R (SozR 4 - 2700 § 76 Nr. 1) hat das BSG nur über die Abfindung einer Verletztenrente nach der Anlage 2 der AbfindungsVO entschieden. Außerdem hatte der Versicherungsträger in dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt den Abfindungsantrag positiv beschieden, sodass lediglich über die Höhe der Abfindung gestritten wurde.
Rechtskraft
Aus
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