L 7 AS 134/10 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 10 AS 83/09 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 7 AS 134/10 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 06.01.2010 wird zurückgewiesen. Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin für das Beschwerdeverfahren. Der Antragstellerin wird für die Durchführung des Beschwerdeverfahrens Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt N aus C bewilligt.

Gründe:

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts (SG) Gelsenkirchen vom 06.01.2010 ist zulässig, in der Sache jedoch nicht begründet.

1. Das SG hat die Antragsgegnerin zu Recht einstweilen verpflichtet, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in dem tenorierten Umfang zu erbringen.

a) Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d. h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d. h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Können ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, sind die Erfolgsaussichten der Hauptsache nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen. Scheidet eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren aus, ist auf der Grundlage einer an der Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes orientierten Folgenabwägung zu entscheiden (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05 -, BVerfGK 5, 237 = NVwZ 2005, Seite 927).

b) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze war der Antragstellerin im tenorierten Umfang die Leistung zur Sicherung des Lebensunterhaltes gemäß § 20 Abs. 2 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) einstweilen, d.h. vorläufig zu gewähren.

aa) Ob dem Anspruch der Antragstellerin der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II entgegensteht, kann im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht abschließend geklärt werden. Nach dieser Vorschrift besteht ein Leistungsausschluss für Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen.

Zwar sind nach dem Wortlaut dieser Norm die Voraussetzungen für den Leistungsausschluss nach summarischer Prüfung erfüllt. Denn die Antragstellerin ist als österreichische Staatsbürger Ausländerin. Sie zählt als EU-Bürgerin zu den sogenannten. "Alt-Unionbürgern" (vgl. hierzu Husmann, NZS 2009, 652, 655 f.; ders., NZS 2009, 547 ff.; Brühl-Schoch in LPK-SGB II, 3. Auflage 2009, § 7 Rn. 22).

In Rechtsprechung und Literatur ist umstritten, ob die kategorische Regelung des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II, die einen Leistungsausschluss ohne entsprechende Öffnungsklausel normiert, mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist. (vgl. u.a. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 23.07.2008, L 7 AS 3031/08 ER-B; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 08.06.2009, B 34 AS 790/09 B ER; LSG NRW, Beschluss vom 16.07.2008, L 19 B 111/08 AS ER; Schreiber info also 2008, 3 ff. und 2009, 195 ff.; Kunkel/Frey, ZFSH 2008, 387 ff.; Husmann, NZS 2009, 547 ff., 652 ff.; Hailbronner, ZFSH 2009, 195 ff.; Piepenstock, jurisPR-SozR, 23/09 Anm. 1). Denn EU-Bürger wie die Antragstellerin sind u.a. als Arbeitsuchende insbesondere aufgrund der Diskriminierungsverbote des Art. 39 Abs. 2 EG-Vertrag sowie des in der Niederlassungsfreiheit enthaltenen Grundsatzes der Inländergleichbehandlung des Art. 43 EG-Vertrag in Verbindung mit einem unbeschränkten Aufenthaltsrecht in Bezug auf die Gewährung eines Existenzminimums zu ihrer sozialen Sicherheit im Ergebnis nicht mehr auf ihren Heimatmitgliedstaat angewiesen (hierzu statt anderer Daiber, VSSR 2009, S. 299 ff., bes. 329 m.w.N.).

Für den Anwendungsbereich des SGB II wird daraus hergeleitet, dass der kategorische Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II mit diesen europarechtlichen Vorgaben nicht vereinbar sei, insbesondere weil das nationale Recht entgegen der Vorgaben der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) nicht danach differenziert habe, ob der Hilfebedürftige eine tatsächliche Verbindung mit dem Arbeitsmarkt des Aufnahmestaates hergestellt hat (vgl. exempl. Husmann, NZS 2009, S. 652, 656; Kunkel/Frey, ZFSH/SGB 2009, S. 387, 393; jeweils m.w.N. auch zur Gegenauffassung), bzw. allein eine vollziehbare Ausreisepflicht einen derartigen Leistungsausschluss rechtfertigen könne (so Schreiber, info also 2009. S. 195, 198 f. m.w.N.).

bb) Diese Rechtsfrage lässt sich im Eilverfahren jedoch nicht abschließend klären. Eine Vorlagepflicht der deutschen Gerichte an den Europäischen Gerichtshof, der für die Auslegung der hier in Betracht kommenden Art. 39 und 12 EGV zuständig ist, besteht indes nur für das Hauptsacheverfahren, nicht aber für das einstweilige Rechtsschutzverfahren, weil dies seinem Charakter als einstweiliges und eiliges Rechtsschutzverfahren zuwiderliefe. Unter Berücksichtigung der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung und des existenzsichernden Charakters der Leistungen nach dem SGB II ist nach der oben dargestellten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts deshalb eine an der Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes orientierte Folgenabwägung vorzunehmen.

Diese Folgenabwägung geht zugunsten der Antragstellerin aus.

Dabei hat der Senat zum einen berücksichtigt, dass die Anspruchsvoraussetzungen insoweit nach derzeitigem Stand unstreitig vorliegen und der kategorische Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II für einen österreichischen Staatsangehörigen als Alt-Unionsbürger unter Berücksichtigung des primären EU-Rechts erheblichen Bedenken begegnen. Diese folgen neben dem zuvor Ausgeführten aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) insbesondere in den Verfahren Collins (Urteil vom 23.03.2004, C-138/02) und Vatsouras, Koupatantze (Urteil vom 04.06.2009, C-22/08 und C-23/08). Nach der Rechtsprechung des EuGH darf der Mitgliedsstaat die Gewährung einer Beihilfe davon abhängig machen, dass das Bestehen einer tatsächlichen Verbindung des Arbeitsuchenden zum Arbeitsmarkt dieses Staates festgestellt wird. Diese kann sich u.a. aus der Feststellung ergeben, dass der Betroffene während eines angemessenen Zeitraums tatsächlich eine Beschäftigung in dem betreffenden Mitgliedsstaat gesucht hat. Folglich können sich die Staatsangehörigen der Mitgliedsstaaten, die auf Arbeitsuche in einem anderen Mitgliedsstaat sind und tatsächlich Verbindungen mit dem Arbeitsmarkt dieses Staates hergestellt haben, auf Art. 39 Abs. 2 EG berufen, um eine finanzielle Leistung in Anspruch zu nehmen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern soll (EuGH, Urteil vom 04.06.2009, Rn. 38 ff.; Urteil vom 23.03.2004, Rn. 69 f., jeweils zitiert nach juris). Zudem hat der EuGH darauf hingewiesen, dass es angesichts der Einführung der Unionsbürgerschaft und angesichts der Auslegung, die das Recht auf Gleichbehandlung erfahren hat, nicht mehr möglich sei, eine finanzielle Leistung, die den Zugang zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedsstaats erleichtern soll, vom Anwendungsbereich des Diskriminierungsverbots des Art. 39 EG, der eine Ausprägung des Art. 12 EG sei, (kategorisch) auszunehmen.

Nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung könnte eine solche tatsächliche Verbindung zum Arbeitsmarkt bestehen. Denn die Antragstellerin hatte für die Zeit vom 12.10.2009 bis zum 11.12.2009 einen befristeten Arbeitsvertrag mit einem Unternehmen in X geschlossen. Abschließend wird eine eventuelle tatsächliche Verbindung zum Arbeitsmarkt jedoch im sozialgerichtlichen Hauptsacheverfahren aufzuklären bzw. festzustellen sein.

Der Senat hat sich bei der Folgenabwägung zum anderen maßgeblich davon leiten lassen, dass die Entbindung der Antragstellerin unmittelbar bevorstand (und tatsächlich offenbar am 21.03.2010 erfolgte) und diese Situation einen bestehenden Krankenversicherungsschutz erforderte. Der Senat hatte sich entsprechend der dargestellten Rechtsprechung des BVerfG schützend vor die Grundrechte der Antragstellerin sowie des ungeborenen Lebens aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 3 Grundgesetz (GG) zu stellen. Die Antragstellerin hat damit glaubhaft gemacht, dass sie insbesondere einer medizinischen Krankenbehandlung bedarf sowie ihre Bedarfe des täglichen Lebens nicht aus eigenen Kräften bestreiten kann (§ 9 Abs. 1 SGB II).

c) Die Antragsgegnerin wird zu prüfen haben, ob sich der aufenthaltsrechtliche Status der Antragstellerin mit der Geburt ihres Kindes geändert hat mit der Folge, dass sich das Aufenthaltsrecht der Antragstellerin ggf. nicht (mehr) "allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt" gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II.

Denn der Kindsvater und frühere Lebensgefährte der Antragstellerin Herr I besitzt offenbar (auch) die deutsche Staatsangehörigkeit (so Schriftsatz der Antragsgegnerin vom 29.12.2009 und Sitzungsprotokoll des SG Gelsenkirchen vom 04.01.2010, dort Seite 4). Unter den Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Staatsangehörigkeitsgesetz könnte das Kind damit die deutsche Staatsangehörigkeit erworben haben. Gemäß § 28 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz ist dem ausländischen Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen unter den dort genannten Voraussetzungen die Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung der Personensorge zu erteilen, die zugleich zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigt (§ 28 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz).

2. Der Antragstellerin, die die Kosten ihrer Rechtsverteidigung nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht aufbringen kann, war als Beschwerdegegnerin antragsgemäß Prozesskostenhilfe für die Durchführung des Beschwerdeverfahrens zu gewähren (§ 73 a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO).

3. Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

4. Dieser Beschluss ist mit der Beschwerde nicht angreifbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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