L 4 P 4188/08

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 1 P 1850/06
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 P 4188/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 16. April 2008 und der Bescheid vom 21. November 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 04. Mai 2006 aufgehoben.

Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen die Aufhebung der Bewilligungsentscheidung über Pflegegeld nach Pflegestufe I ab 01. Dezember 2005.

Der Kläger mit Geburtsdatum 1961 ist wegen der Folgen einer im ersten Lebensjahr durchlaufenen Poliomyelitis an den Rollstuhl gebunden. Er leidet an einer schlaffen Parese mit Entwicklungsrückstand beider Beine, einer geringgradigen Beugekontraktur in beiden Kniegelenken, Skoliose der Brustwirbelsäule mit Rückenschmerzen sowie Fehlstellung im linken Handgelenk bei gut erhaltener Greiffunktion beider Hände und Feinmotorik. Pflegeperson ist eine ganztags berufstätige Schwägerin.

Im März 1995 beantragte der Kläger Pflegegeld aus der sozialen Pflegeversicherung. Dr. G. vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) Baden-Württemberg in D. erstattete das Gutachten nach Hausbesuch am 18. April 1995. Der Arzt nannte Hilfebedarf bei An- und Auskleiden bestimmter Kleidungsstücke sowie beim Duschen/Baden; auch wenn der pflegerische Aufwand täglich wohl weniger als 60 Minuten betrage, sei Einstufung in Pflegestufe I gerechtfertigt. Durch Bescheid vom 04. Mai 1995 bewilligte die Beklagte Pflegegeld nach Pflegestufe I ab 01. April 1995.

Auf einen Erhöhungsantrag vom 07. März 2003 erstattete Pflegefachkraft A. De. nach Hausbesuch das Gutachten vom 17. Dezember 2003. Der Hilfebedarf für die Körperpflege betrage täglich 30 Minuten (Ganzkörperwäsche 15, Teilwäsche Unterkörper sieben, Stuhlgang drei sowie Richten der Bekleidung fünf Minuten), für Ernährung drei Minuten (mundgerechte Zubereitung der Nahrung) und für Mobilität 14 Minuten (Ankleiden sechs, Entkleiden drei, Transfer fünf Minuten). Mithin ergäben sich für die Grundpflege 47 Minuten. Für hauswirtschaftliche Versorgung wurden 60 Minuten angesetzt. Durch Bescheid vom 22. Dezember 2003 lehnte die Beklagte Leistungen nach höherer Pflegestufe ab. Wegen vorübergehenden Aufenthalts in einem Pflegeheim bewilligte die Beklagte durch Bescheid vom 10. Dezember 2003 einen Zuschuss bis zu EUR 1.023,00 monatlich ab Bescheiddatum. Diese Leistung wurde bis 31. Juli 2005 (Ende der stationären Pflege) gezahlt. Nachdem der Kläger zum 01. August 2005 in eine neue Wohnung umgezogen war, bewilligte die Beklagte durch Bescheid vom 29. Juli 2005 ab 01. August 2005 wiederum Pflegegeld nach Pflegestufe I. Gleichzeitig wurde eine Überprüfung angekündigt.

Pflegefachkraft S. W. erstattete aufgrund der Untersuchung vom 04. Oktober 2005 das Gutachten vom 19. Oktober 2005. Sie kam zum Ergebnis, dass der Hilfebedarf für die Körperpflege nur noch 15 Minuten (Duschen) und für die Mobilität acht Minuten (Ankleiden zwei, Verlassen/Wiederaufsuchen der Wohnung sechs Minuten) betrage, während Hilfebedarf bei der Ernährung nicht mehr bestehe, sodass der Zeitaufwand für die Grundpflege sich nur noch auf 23 Minuten täglich errechne. Gegenüber dem Vorgutachten sei der Kläger wesentlich selbstständiger und benötige lediglich Hilfe beim Duschen, beim Bereitlegen der Kleidung und beim Verlassen/Wiederaufsuchen der Wohnung zur Krankengymnastik. Mit Schreiben vom 03. November 2005 hörte die Beklagte den Kläger zur beabsichtigten Einstellung der Zahlung des Pflegegeldes mit 30. November 2005 an. Der Kläger äußerte sich mit Schreiben vom 15. November 2005 unter Vorlage des Attests des behandelnden Arztes für Allgemeinmedizin Wu., für Waschen, Duschen und den Gang zur Toilette benötige er sicherlich über eine Stunde Hilfe pro Tag. Durch Bescheid vom 21. November 2005 teilte die Beklagte unter Bezugnahme auf das erhobene Gutachten mit, sie könne keine Pflegeleistungen mehr gewähren und stelle die Zahlung zum 30. November 2005 ein.

Der Kläger erhob Widerspruch. Als rollstuhlpflichtigem Paraplegiker müsse ihm mindestens Pflegestufe I zustehen. Er legte den Arztbrief des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. R. vom 14. Dezember 2005 vor, er sei sicherlich in erheblichem Umfang auf fremde Hilfe angewiesen, wobei sich die Entziehung von Pflegestufe I dem neurologischen Verständnis des Arztes entziehe. Pflegefachkraft De. erstattete das weitere Gutachten vom 07. März 2006. Er verblieb nach nochmaliger Untersuchung bei seiner früheren Auffassung, der Hilfebedarf lasse sich nur noch in Höhe von 23 Minuten täglich feststellen, weil der Kläger im Bereich der Pflege sich wieder wesentlich selbstständiger versorgen könne und die Pflege durch die deutlich einfachere Pflegeumgebung auch erleichtert sei. Der Widerspruchsausschuss der Beklagten erließ auf dieser Grundlage den zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 04. Mai 2006, in dem er auch ausführte, da wesentliche Änderungen zur Bewilligung ab 01. April 1995 eingetreten seien, könne die Aufhebung des Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung nach § 48 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB X) nachvollzogen werden.

Mit der am 22. Mai 2006 zum Sozialgericht Reutlingen (SG) erhobenen Klage verfolgte der Kläger sein Begehren weiter. Er trug vor, eine Besserung des Gesundheitszustandes könne bei seinem Krankheitsbild nicht eintreten. Der Zeitaufwand für das Duschen sei mit 15 Minuten zu gering angesetzt. Auch benötige er bei sonstigen Waschvorgängen tagsüber Hilfe. Ferner müsse die Kleidung aus dem Schrank bereitgelegt werden. Zwei Minuten für Ankleiden seien viel zu gering. Ebenso sei ein Zeitaufwand von lediglich zwei Minuten pro Woche für das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung zu niedrig festgestellt. Er benötige meistens Hilfe beim Be- und Entkleiden des Unterkörpers. Auch für jeden Transfer sei Hilfestellung erforderlich. Allgemeinarzt Wu. nehme einen Zeitaufwand von einer Stunde pro Tag an. Der Kläger legte den Arztbrief der Neurologischen Klinik F. (Prof. Dr. We.) vom 16. August 2006 über den stationären Aufenthalt vom 16. bis 21. August 2006 vor. Für alle Aktivitäten außerhalb des Sitzens im Rollstuhl werde Hilfe benötigt, sowohl aus Sicherheitsgründen als auch zur Vermeidung von Schäden durch Überlastung der Muskulatur. Ferner legte der Kläger das weitere Attest des Allgemeinarztes Wu. vom 15. April 2008 vor, wonach der Gesundheitszustand sich eher verschlechtert habe und es unverständlich sei, dass das Pflegegeld gestrichen werde.

Die Beklagte trat der Klage entgegen und wandte unter Bezugnahme auf das weitere Gutachten der Pflegefachkraft De. vom 05. September 2006 ein, eine Änderung der gesundheitlichen Situation sei in keinem Gutachten dargestellt worden. Der Kläger sei jedoch wesentlich selbstständiger geworden. Er habe sich an die Behinderung sehr hoch angepasst und die Umgebung sei bedeutend besser auf die Behinderung des Klägers eingerichtet. Die Transfers auf die Duschbank und auch die Körperpflege könnten selbstständig durchgeführt werden. Der Zeitaufwand von 15 Minuten berücksichtige im Wesentlichen die allgemeine Beaufsichtigung. An- und Entkleiden sei selbstständig möglich. Auf die medizinischen Diagnosen als solche komme es nicht an. Eine wesentliche Erhöhung des täglichen Zeitaufwands von 23 Minuten sei mithin nicht erkennbar. In den weiteren von der Beklagten vorgelegten Gutachten vom 22. März und 08. Oktober 2007 verblieb Pflegefachkraft De. bei seiner Auffassung, insbesondere im Gutachten vom 08. Oktober 2007 mit dem Hinweis, wegen des Umzugs in eine neue Wohnung sei die selbstständige Durchführung der Pflege deutlich erleichtert. Auch habe der im Gutachten von 2003 genannte Hilfebedarf einen Sollhilfebedarf dargestellt. Die tatsächlich geleistete Hilfe habe nur einen Bruchteil hiervon ausgemacht.

Durch Urteil vom 16. April 2008 wies das SG die Klage ab. Zur Begründung verwies es auf das Ergebnis der eingeholten Gutachten. Pflegefachkraft De. habe im Gutachten vom 08. Oktober 2007 nochmals zusammenfassend herausgearbeitet, dass der Kläger mittlerweile in eine neue Wohnung gezogen sei, welche im Wesentlichen pflegeneutral eingerichtet und in der die selbstständige Durchführung der Pflege im Vergleich zu der alten Wohnung (gegenüber den Verhältnissen von 1995) deutlich erleichtert sei. Weiter stehe im Bad mit einer Duschbank ein die Selbstständigkeit im Bereich der Pflege zusätzlich förderndes Hilfsmittel zur Verfügung.

Gegen das am 27. August 2008 zugestellte Urteil hat der Kläger am 01. September 2008 beim Landessozialgericht Berufung eingelegt. Zur Begründung hat er vorgetragen, Bezugspunkt einer etwaigen Besserung müsse das Gutachten vom 17. Dezember 2003 sein. Wenn 1995 ein gleicher Hilfebedarf wie 2003 vorgelegen hätte, könne damit keine wesentliche Änderung nachgewiesen werden. Mithin verbiete sich eine Korrektur der ursprünglichen Einschätzung nach Erstanerkennungsgrundsätzen schon aus rechtlichen Gründen. Schließlich habe Pflegefachkraft De. im Gutachten vom 17. Dezember 2003 erläutert, mit einer Verringerung des Hilfebedarfs könne nicht gerechnet werden.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 16. April 2008 und den Bescheid vom 21. November 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 04. Mai 2006 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält auf der Grundlage der getätigten Ermittlungen das angefochtene Urteil und ihre Bescheide weiterhin für zutreffend.

Zur weiteren Darstellung wird auf den Inhalt der Berufungsakten, der Klageakten und der von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Klägers, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten nach §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, hat in der Sache Erfolg. Entgegen dem angefochtenen Urteil des SG hat die Beklagte die Bewilligungsentscheidung über Pflegegeld nach Pflegestufe I für die Zeit ab 01. Dezember 2005 zu Unrecht aufgehoben. Die Beklagte konnte die Aufhebung der Bewilligung von Pflegegeld nach der Pflegestufe I ab 01. Dezember 2005 nicht auf § 48 SGB X stützen, weil zum 01. Dezember 2005 eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen nicht eingetreten war. Vielmehr war eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen zum 01. August 2005 eingetreten, so dass die mit Bescheid vom 29. Juli 2005 für die Zeit ab 01. August 2005 erfolgte Bewilligung von Pflegegeld nach der Pflegestufe I von Anfang an rechtswidrig war und die Bewilligung damit nach § 45 SGB X hätte aufgehoben werden müssen.

Die Beklagte stützte die Aufhebung der Bewilligung von Pflegegeld nach der Pflegestufe I ab 01. Dezember 2005 auf § 48 SGB X. Dies ergibt sich aus dem Widerspruchsbescheid vom 04. Mai 2006. Dort nannte sie als Rechtsgrundlage ihrer Entscheidung über die Aufhebung ausdrücklich § 48 SGB X und führte auch aus, eine wesentliche Änderung sei zur Bewilligung ab 01. April 1995 eingetreten. Die Beklagte hat damit in gerade noch hinreichender Deutlichkeit zu erkennen gegeben, dass sie die zuletzt erfolgte Bewilligung von Pflegegeld (Bescheid vom 29. Juli 2005) hat aufheben wollen, auch wenn sie den aufzuhebenden Verwaltungsakt nicht bezeichnet hat (vgl. zu den Anforderungen insoweit Urteil des Senats vom 05. März 2010 - L 4 P 2246/09 -, veröffentlicht in juris).

Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Ein Bescheid über die Bewilligung von Pflegegeld auf unbestimmte Zeit, wie dies mit dem Bescheid vom 29. Juli 2005 erfolgte, ist ein solcher Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, weil er sich nicht in einem einmaligen Gebot oder Verbot oder in einer einmaligen Gestaltung der Rechtslage erschöpft, sondern ein auf Dauer berechnetes und in seinem Bestand vom Verwaltungsakt abhängiges Rechtsverhältnis begründet bzw. inhaltlich verändert (vgl. z.B. Bundessozialgericht - BSG - SozR 1300 § 45 Nr. 6; SozR 4-1300 § 48 Nr. 6). Wesentlich ist jede tatsächliche oder rechtliche Änderung, die sich - zugunsten oder zu Lasten des Betroffenen - auf Grund oder Höhe der bewilligten Leistung auswirkt (vgl. BSG SozR 3-4300 § 119 Nr. 4). Zukunft im Sinne dieser Vorschrift ist, wenn das materielle Recht auf Zahlungszeiträume abstellt (wie hier auf den Kalendermonat, vgl. für das Pflegegeld § 37 Abs. 1 Satz 3 des Elften Buches des Sozialgesetzbuchs - SGB XI -), der nächstfolgende Zahlungszeitraum (BSG SozR 1300 § 48 Nr. 57). Mithin konnte durch den angefochtenen Bescheid vom 21. November 2005 die Bewilligungsentscheidung mit Wirkung ab 01. Dezember 2005 zu Ungunsten des Klägers aufgehoben werden. Auf die Dauer des Widerspruchsverfahrens und den Widerspruchsbescheid kommt es hierbei ebenso wenig an wie darauf, ob die Änderung zu Ungunsten des Betroffenen tatsächlich bereits zu einem früheren Zeitpunkt eingetreten war

Die Aufhebung einer Bewilligungsentscheidung nach § 48 Abs. 1 SGB X erfordert jedoch, dass seit der letzten bindenden Bewilligung eine Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen eingetreten ist. Zu vergleichen sind stets die zum Zeitpunkt der Aufhebung bestehenden tatsächlichen Verhältnisse mit jenen, die zum Zeitpunkt der letzten Leistungsbewilligung, bei der die Anspruchsvoraussetzungen vollständig geprüft worden sind, vorhanden gewesen sind (BSG SozR 4-1300 § 48 Nr. 6). Die letzte Bewilligung erfolgte hier mit dem Bescheid vom 29. Juli 2005, mit dem die Beklagte nach dem Ende der stationären Pflege zum 31. Juli 2005 wieder Pflegegeld nach Pflegestufe I bewilligt hat. Der Bescheid vom 29. Juli 2005 ändert, auch wenn dies nicht ausdrücklich verfügt ist, den letzten zuvor ergangenen Bewilligungsbescheid, hier denjenigen vom 10. Dezember 2003, mit welchem die Beklagte dem Kläger Leistungen wegen stationärer Pflege nach der Pflegestufe I statt Pflegegeld nach der Pflegestufe I bewilligt hatte, ab. Dass sich bei der Bewilligung der Leistungen der stationären Pflege bei der Pflegestufe keine Änderung ergab, führt nicht dazu, dass maßgeblicher Vergleichszeitpunkt die erstmalige Bewilligung von Pflegegeld durch den Bescheid vom 04. Mai 1995 ist, wovon die Beklagte im Widerspruchsbescheid ausging. Denn Gegenstand eines Bewilligungsbescheids der Pflegekassen ist nicht die Feststellung einer Pflegestufe, sondern die Bewilligung einer konkreten Leistung, zumal die verschiedenen Leistungen der Pflegeversicherung, abgesehen vom Vorliegen einer Pflegestufe, jeweils unterschiedliche weitere Leistungsvoraussetzungen haben. Demgemäß ist Gegenstand eines Aufhebungsbescheids nach § 48 SGB X die Aufhebung einer konkret bewilligten Leistung, nicht aber die "Aberkennung einer Pflegestufe" (Urteil des Senats vom 05. März 2010 - L 4 P 2246/09 -, veröffentlicht in juris). Wenn die Beklagte Zweifel daran hatte, ob der Kläger nach dem Ende der stationären Pflege noch pflegebedürftig ist, hätte sie bereits vor der erneuten Bewilligung von Pflegegeld ein Gutachten des MDK veranlassen müssen.

Eine Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen ist nicht mit Wirkung zum 01. Dezember 2005, sondern mit Wirkung zum 01. August 2005 eingetreten. Mit Wirkung zum 01. August 2005 ergab sich zum einen eine wesentliche tatsächliche Änderung dahingehend, dass der Kläger nicht mehr in stationärer, sondern nunmehr wiederum in ambulanter Pflege war. Eine tatsächliche Änderung zum 01. August 2005 ist zum anderen aber eingetreten, weil sich der objektive Pflegebedarf nach dem Bezug einer neuen Wohnung geändert hatte. Die zum 01. August 2005 bezogene Wohnung entspricht den Bedürfnissen, die sich aus den Behinderungen des Klägers ergeben, mehr als die noch im Jahre 2003 genutzte Wohnung mit der Folge, dass sich der Hilfebedarf bei den Verrichtungen der Grundpflege verringert hat.

Nach § 37 Abs. 1 Satz 1 SGB XI können Pflegebedürftige anstelle der häuslichen Pflegehilfe ein Pflegegeld beantragen. Pflegebedürftig im Sinne dieser Vorschrift ist, wer einer der drei Pflegestufen zugeordnet ist. Pflegebedürftig sind nach § 14 Abs. 1 SGB XI Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens, die im Einzelnen in § 14 Abs. 4 SGB XI genannt sind, auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate in erheblichem oder höherem Maß (§ 15 SGB XI) der Hilfe bedürfen. Pflegebedürftige der Pflegestufe I (erheblich Pflegebedürftige) sind nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XI Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. Der Zeitaufwand der Pflegeperson muss wöchentlich im Tagesdurchschnitt in der Pflegestufe I mindestens 90 Minuten betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen (§ 15 Abs. 1 Nr. 1 SGB XI). Die Grundpflege umfasst die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen aus den Bereichen der Körperpflege (§ 14 Abs. 4 Nr. 1 SGB XI), der Ernährung (Nr. 2) und der Mobilität (Nr. 3). Zur Grundpflege zählt im Einzelnen der Hilfebedarf beim Waschen, Duschen, Baden, bei der Zahnpflege, beim Kämmen, Rasieren sowie bei der Darm- und Blasenentleerung (Körperpflege), beim mundgerechten Zubereiten der Nahrung und bei der Aufnahme der Nahrung (Ernährung) sowie beim selbstständigen Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen sowie beim Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung (Mobilität). Das Ausmaß des Pflegebedarfs ist nach einem objektiven (abstrakten) Maßstab zu beurteilen, da § 14 SGB XI allein auf den "Bedarf" an Pflege und nicht die im Einzelfall tatsächlich erbrachte Pflege abstellt (vgl. BSG SozR 3-3300 § 14 Nr. 19).

Der Kläger hat seit Einführung der sozialen Pflegeversicherung zum 01. April 1995 Pflegegeld nach Pflegestufe I bewilligt erhalten. Die ursprüngliche Bewilligung (Bescheid vom 04. Mai 1995) wurde auf den Erhöhungsantrag vom März 2003 mittels des Gutachtens der Pflegefachkraft De. vom 17. Dezember 2003 dahingehend bestätigt, dass sich für die Grundpflege (weiterhin) 47 Minuten täglich ergäben, was für die Fortzahlung des Pflegegeldes nach Pflegestufe I genügte (zuletzt Bescheid vom 22. Dezember 2003).

Demgegenüber hat sich mit dem Bezug der neuen Wohnung zum 01. August 2005 eine wesentliche Änderung ergeben. Dies erschließt sich übereinstimmend aus den Gutachten der Pflegefachkräfte W. vom 19. Oktober 2005 (Zeitaufwand für die Grundpflege nur noch 23 Minuten täglich) und De. vom 07. März 2006 (ebenfalls 23 Minuten), vom 05. September 2005 (wiederum 23 Minuten), vom 22. März 2007 und zuletzt vom 08. Oktober 2007 (jeweils keine erkennbare Änderung gegenüber dem Pflegeaufwand von 23 Minuten täglich). Mithin hat keines dieser Gutachten mehr einen Hilfebedarf im früheren zeitlichen Umfang, der noch zu Pflegestufe I ausgereicht hatte, feststellen können. Der Kläger war aufgrund des Bezugs der neuen Wohnung zum 01. August 2005 bei den Verrichtungen der Grundpflege selbstständiger geworden. Im Jahr 2003 wohnte der Kläger noch in einem alten Einfamilienhaus und konnte die dort vorhandene Dusche nicht nutzen. Demgegenüber kann er in der jetzigen Wohnung mit dem Rollstuhl neben die Duschbank fahren und selbstständig auf die Duschbank rutschen. Hilfe bedarf er nur im Sinne einer Beaufsichtigung, während das Duschen selbstständig möglich ist.

Diese Änderung ist bereits zum 01. August 2005 eingetreten, sodass die Bewilligung von Pflegegeld nach der Pflegestufe I ab diesem Zeitpunkt rechtswidrig war. Hieran hat sich bis November 2005 nichts geändert. Die Aufhebung hätte, da mit dem Bescheid vom 29. Juli 2005 keine nur vorläufige Leistungsbewilligung erfolgt ist, deshalb nach § 45 SGB X (Rücknahme einer schon anfänglich rechtswidrigen Bewilligung) erfolgen müssen. Nach § 45 Abs. 1 SGB X darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), soweit er rechtswidrig ist, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Abs. 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Die Anwendungsbereiche der §§ 45 und 48 SGB X grenzen sich nach dem Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsaktes, der aufgehoben werden soll, ab. § 45 SGB X findet Anwendung, wenn der Verwaltungsakt im Zeitpunkt seines Erlasses rechtswidrig war und deswegen zurückgenommen werden soll; dagegen kommt eine Aufhebung nach § 48 SGB X in Betracht, wenn nach Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung eine wesentliche Änderung in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht eingetreten ist. Erlassen ist ein Verwaltungsakt in dem Zeitpunkt, in dem er dem Adressaten bekanntgegeben und damit wirksam wurde (zum Ganzen z.B. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2008 - B 4 AS 48/07 R - m.w.N., veröffentlicht in juris).

Eine verfahrensrechtliche Umdeutung (§ 43 SGB X) ist nicht gestattet, weil § 45 SGB X nach ständiger Rechtsprechung - außer im hier nicht vorliegenden Fall betrügerischer Leistungserschleichung (vgl. hierzu BSG SozR 3-1300 § 50 Nr. 16; SozR 3-1300 § 45 Nr. 37) - die Ausübung und Anwendung von Ermessen fordert. Nach § 43 Abs. 1 SGB X kann ein fehlerhafter Verwaltungsakt in einen anderen Verwaltungsakt umgedeutet werden, wenn er auf das gleiche Ziel gerichtet ist, von der erlassenden Behörde in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig hätte erlassen werden können und die Voraussetzungen für dessen Erlass erfüllt sind. Eine Entscheidung, die nur als gesetzlich gebundene Entscheidung ergehen kann, kann nach § 43 Abs. 3 SGB X nicht in eine Ermessensentscheidung umgedeutet werden. Ermessen ist jedoch im Bescheid vom 21. November 2005 und auch im Widerspruchsbescheid vom 04. Mai 2006 nicht ausgeübt worden. Vielmehr ging die Beklagte davon aus, dass sie eine gebundene Entscheidung zu treffen habe.

Wenn die Behauptung der Beklagten im Berufungsverfahren, die medizinischen Voraussetzungen für einen Leistungsanspruch im Rahmen der Pflegeversicherung seien unstrittig seit 1995 nicht mehr gegeben (Schriftsatz der Beklagten vom 27. Januar 2010), zuträfe, wäre die Bewilligung von Pflegegeld von Anfang an rechtswidrig gewesen, so dass die Aufhebung der Bewilligung von Pflegegeld nach der Pflegestufe I erst recht nach § 45 SGB X hätte erfolgen müssen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Zur Zulassung der Revision bestand kein Anlass.
Rechtskraft
Aus
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